Das Damoklesschwert über der europäischen Rechtsordnung
Vom europäischen Haftbefehl und der Gefahr der Verrechtlichung politischer Konflikte
Am 16. November fand vor der Großen Kammer des EuGH die mündliche Verhandlung im Verfahren C-562/21 PPU statt. In diesem ging es um einen europarechtlichen Dauerbrenner: den europäischen Haftbefehl (EHB) in Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit in Polen. Wie alle Fälle mit Bezug zur Rechtsstaatlichkeit in Polen hat auch dieser wieder einmal große politische Brisanz – dennoch fand das Verfahren in der Öffentlichkeit relativ wenig Beachtung. Der EuGH könnte dabei wegen der langen Inaktivität der politischen Akteur:innen im Konflikt mit Polen und auch aufgrund seiner jüngsten Rechtsstaatsrechtsprechung eine tragische Rolle spielen, die sich aus der starken Verrechtlichung des Konflikts um die Rechtsstaatlichkeit ergibt.
Alle Jahre wieder – der in Polen ausgestellte Europäische Haftbefehl vor der Großen Kammer
Der Fall ist ein Vorabentscheidungsverfahren, vorgelegt von der Rechtbank Amsterdam – ein niederländisches erstinstanzliches Gericht, welches für Vorabentscheidungsersuche an den EuGH bereits Bekanntheit erlangt hat. In der Tat hat die Rechtbank Amsterdam bereits 2020 eine Vorlage an den Gerichtshof gestellt, die sich – wie das nun anhängige Verfahren – mit einem in Polen ausgestellten EHB beschäftigte. Auch 2018 erreichte den EuGH eine Vorlage eines nationalen Gerichts mit Gegenstand eines polnischen EHB, damals vom irischen High Court. Schon diese beiden Verfahren bezogen sich auf Zweifel an der Bestandskraft des EHB aufgrund der Rechtsstaatlichkeitsmängel in Polen. Beide landeten vor der Großen Kammer.
Der nun anhängige Fall ist also der dritte in dieser kurzen Zeit, in der sich die Große Kammer mit einem polnischen EHB beschäftigt – ein absoluter Ausnahmefall. An der bloßen Tatsache, dass der Gerichtshof sich gezwungen sieht, ähnlich gelagerte Fälle mit dem gleichen Gegenstand in einem solch kurzen Zeitraum wiederholt an die Große Kammer von 15 Richter:innen zu delegieren, zeigt sich die Schwierigkeit des rechtlichen Umgangs mit dem EHB im derzeitigen politischen Umfeld.
Konkret geht es in dem nun anhängigen Verfahren um einen in Polen ausgestellten EHB, mit dem ein polnischer Staatsbürger aus den Niederlanden ausgewiesen werden soll. Die Rechtbank Amsterdam hat im Falle der Auslieferung aufgrund der systematischen Mängel in der polnischen Justiz Zweifel daran, ob das Grundrecht auf ein faires Verfahren aus Art. 47 Grundrechte-Charta der EU (Charta) gewahrt wäre. Das vorlegende Gericht nimmt dies zum Anlass, den EuGH zu fragen, welcher Prüfungsmaßstab bei einem EHB anzulegen ist, insbesondere ob der vom Gerichtshof entwickelte sogenannte Zwei-Stufen-Test noch anzuwenden ist, obwohl der Gerichtshof selbst systemische Mängel innerhalb der Justiz in Polen festgestellt hat.
Der Zwei-Stufen-Test wurde bereits in den oben erwähnten, erst jüngst ergangenen Urteilen angewandt: LM (C-216/18 PPU) und LP (verbundene Rechtssachen C-344/20 PPU und C-412/20 PPU). Diese Überprüfung sieht vor, dass allgemeine oder systematische Mängel an sich nicht ausreichen, um einen EHB aufgrund einer Verletzung des Rechts aus Art. 47 der Charta abzulehnen. Vielmehr muss nach der im ersten Schritt erfolgten Feststellung der systemischen Mängel in einem zweiten Schritt die zuständige Behörde untersuchen, ob im spezifischen Fall „ernsthafte und durch Tatsachen begründete Gründe“ (Urteil LM, Rn. 68) vorliegen, die eine Grundrechtsgefährdung im konkreten Verfahren nahelegen.
In der mündlichen Verhandlung des nun anhängigen Falls wurde jedoch schnell klar, dass es keine präzisen Erkenntnisse oder Hinweise zu geben scheint, die darauf hindeuten, dass dieses konkrete Verfahren politisch beeinflusst wurde oder die Richter:innen pflichtwidrig gehandelt haben. Auch die Verfahrensbeteiligten, allen voran der Anwalt der gesuchten Person und die für eine Ablehnung der Auslieferung plädierende niederländische Regierung konnten keine konkreten Anhaltspunkte vortragen, die wenigstens den Verdacht erregen würden, dass durch die Auslieferung das Recht aus Art. 47 Charta gefährdet sein könnte. Wenn also eine einfache Anwendung der bisherigen Rechtsprechung in Form des Zwei-Stufen-Tests möglich erscheint, wieso landet der Fall wieder einmal vor der Großen Kammer?
Das Damoklesschwert der Rechtsprechung in Rechtsstaatlichkeitsfragen
Mit zunehmender Dauer der Verhandlung wurde der Elefant im Raum – der zentrale Konflikt – deutlich: Müssten nicht die Geschehnisse in Polen, die der EuGH selbst mehrmals als unvereinbar mit grundlegenden Rechtsstaatsprinzipien des Unionsrechts eingestuft hat, dazu führen, dass ein polnischer EHB grundsätzlich von einem möglicherweise nicht unabhängigen Gericht ausgestellt wurde, sodass eine potenzielle Gefährdung des Art. 47 Charta immer besteht?
Angesichts der Tatsache, dass die vom EuGH gerügte Kommission zur Ernennung von Richter:innen in Polen, die KRS, schon mehrere Hundert Richter:innen ernannt hat, erscheint es unmöglich, zu überblicken, welche Urteile eines polnischen Gerichts von solchen Personen gefällt wurden, die laut der Rechtsprechung des EuGH noch als unabhängig gelten. In der mündlichen Verhandlung wurde von mehreren Seiten Zweifel daran angemeldet, dass in Anbetracht des Urteils des polnischen Verfassungsgerichts ein polnisches Gericht das Recht europarechtskonform auslegen werde.
Der Generalanwalt umschrieb diese Problemstellung in der mündlichen Verhandlung treffend als „Damoklesschwert“. Nachdem dieser Begriff während der Verhandlung sowohl von Seiten des Gerichtshofs als auch von Verfahrensbeteiligten wiederholt aufgegriffen wurde, stellte letztlich der Vize-Präsident Lars Bay Larsen die möglicherweise entscheidende Frage an den Vertreter der niederländischen Regierung: Folgt man der Annahme, dass in der anhängigen Rechtssache das Grundrecht aus Art. 47 Charta ohne besondere Anhaltspunkte im konkreten Fall verletzt ist (d. h. ohne Zwei-Stufen-Test), müsste dann nicht jegliches polnisches Urteil seine Rechtmäßigkeit verlieren, sei es in Strafsachen oder in einem banalen Nachbarschaftsstreit vor Zivilgerichten?
Die Antwort der niederländischen Regierung auf diese Frage war überraschend eindeutig und klar. Der Vertreter erwiderte, er habe gehofft, dass ihm diese Frage niemand stellen wird. Er könne aber nur sagen, er fürchte, dass dies so sei. Auf eine Nachfrage, ob dies dann nicht auch dazu führe, dass polnische Gerichte keine vorlageberechtigten Gerichte im Sinne des Art. 267 AEUV mehr seien, antwortete der Vertreter, dass das eine andere Frage sei. Die fehlende Unabhängigkeit eines Gerichts, welche in einer Verletzung von Art. 47 Charta mündet, berühre nicht per se die Eigenschaft als „Gericht“ nach Art. 267 AEUV. Wie diese Argumentation mit der ständigen Rechtsprechung des EuGH in Einklang zu bringen sein soll, die die Unabhängigkeit als ein zentrales Merkmal eines nach Art. 267 AEUV vorlageberechtigten Gerichts ansieht, bleibt unklar (siehe C-272/19, Rn. 43; C-274/14, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). Als das Gericht – vermutlich eher wenig überzeugt von der Antwort der niederländischen Regierung – die Frage dann auch an die Kommission stellte, wollte deren Vertreter nicht mehr darauf eingehen, da schon alles gesagt sei.
Der EuGH steht mit dem Rücken zur Wand – die Gefahr der Verrechtlichung politischer Konflikte
Um also das metaphorische Damoklesschwert nicht fallen zu lassen (und mit ihm das Funktionieren der polnischen und auch europäischen Rechtsordnung), scheint eine Entscheidung für den Zwei-Stufen-Test mitsamt einer strengen Kontrolle, ob im Einzelfall Hinweise für Grundrechtsverletzungen vorliegen, die einzige Lösung zu sein. Die Notwendigkeit dieser richterlichen Zurückhaltung steht in Einklang mit dem zehnten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 über den EHB, der vorsieht, dass eine auf ein bestimmtes Land bezogene generelle Aussetzung des EHB nur durch einen Beschluss des Europäischen Rats gem. Art. 7 EUV erfolgen kann, wie der Gerichtshof sowohl in LM als auch in LP ausführt. Der Konflikt um die Rechtsstaatlichkeit ist also auch de jure ein politischer und kein rechtlicher.
Kann der EuGH diese Rechtsprechungslinie aber noch sinnvoll in Einklang bringen mit seinen anderen – in Tenor wie in Begründung – so eindeutigen Urteilen zur Rechtsstaatlichkeit in Polen?
Mit zunehmender Anzahl an Vorlageverfahren und einer sich verschlechternden Situation in Polen wird dies für das Gericht immer schwieriger werden. Schon jetzt lässt sich eine klare Einteilung in zwei Stufen oftmals nur mit erheblichem Begründungsaufwand halten: Die schiere Anzahl der Urteile und Beschlüsse, die unter Mitwirkung von Richter:innen gefällt worden ist, die von der KRS ernannt wurden und somit nicht als unabhängig gelten, lässt einen klaren Überblick nicht mehr zu. Gleichzeitig aber gehöre eben diese Unabhängigkeit und der Zugang zu einem unabhängigen Gericht laut EuGH „zum Wesensgehalt des Grundrechts auf ein faires Verfahren […], dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte […] grundlegende Bedeutung zukommt“ (Urteil LM, Rn. 48).
Wie soll zum Beispiel ein mit EHB gesuchter Angeklagter herausfinden, ob der Spruchkörper, durch den sein Strafverfahren behandelt werden soll, ein:e von der KRS ernannte Richter:in einschließt oder nicht? Wie der Vize-Präsident Lars Bay Larsen es in der mündlichen Verhandlung ausgedrückt hat, scheint das Vertrauen, das sich die Mitgliedstaaten innerhalb der Union grundsätzlich entgegenbringen, entweder blind werden oder scheitern zu müssen.
Politische anstatt gerichtlicher Lösungen sind demnach dringend notwendig, da der EuGH sehr bald wohl oder übel die zwei Stufen mit Blick auf Polen nicht mehr überzeugend aufrechterhalten kann, will er seiner bisherigen Linie in Rechtsstaatlichkeitsfragen nicht komplett den Rücken kehren. Obgleich die Rechtsprechung des EuGH bzgl. der polnischen Rechtsstaatlichkeit von etlichen politischen Akteur:innen begrüßt wurde, zeigt sich nun immer deutlicher die Gefahr dieser Verrechtlichung des Konflikts: die Rechtsprechung könnte, wenn sie keinen Ausweg mehr sieht, jeglichen polnischen Gerichtsurteilen systematisch die Rechtmäßigkeit entziehen und die politischen Akteur:innen so in tiefe politische Verwerfungen führen, die größer sind als diejenigen, die eine frühere und entschlossenere politische Handhabung je anrichten hätte können. Viel Zeit ist nicht mehr – die Schlussanträge des Generalanwalts werden am 16. Dezember erwartet.
Vielen Dank an Golschied Rahmani und Dr. Christoph Sobotta für hilfreiche Anmerkungen zu früheren Versionen dieses Artikels.
Vielen Dank für den Beitrag, der das Dilemma gut beschreibt. Ob allerdings die angemahnte „politische Lösung“ einen soliden Ausweg darstellen könnte, hängt davon ab, ob sie sich selbst mit den vom EuGH aufgestellten Kriterien in Einklang bringen ließe. Wäre das nicht der Fall, was angesichts ihres unausweichlichen Kompromisscharakters zu befürchten wäre, wäre sie entweder rechtlich nicht belastbar oder würde die Autorität des EuGH und damit auch der europarechtlichen Rechtsstaatsgarantien beeinträchtigen. Letztlich wird eine Lösung nur aus Polen selbst kommen können und in der Rückkehr der polnischen Justizgesetzgebung zu allgemein anerkannten rechtsstaatlichen Maßstäben bestehen müssen.