18 May 2021

Das Ende eines epochalen Verfassungsstreits

Darlegungsanforderungen der EZB, Integrationsverantwortung und der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 2021

I.

Der Zweite Senats des Bundesverfassungsgericht hat keine Bedenken, dass die Bundesregierung sein PSPP-Urteil unzureichend umgesetzt hat. Den Antrag der Kläger, die Vollstreckung anzuordnen, hat es abgelehnt. Damit ist ein denk- und merkwürdiger Verfassungsstreit zu einem Ende gekommen (Anschlussverfahren sind schon anhängig). Das BVerfG hat das Funktionsverständnis, das die EZB sich und ihrer Währungspolitik seit jetzt ungefähr 10 Jahren zuschreibt, nach langem Ringen gebilligt. Im „OMT“-Urteil (2016) ließ das Gericht noch erhebliche Bedenken erkennen, verzichtete dann aber letztlich vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH in „Weiss“ auf die große Konfrontation und akzeptierte die Sichtweise des EuGH. Im „PSPP“-Verfahren kam es 2020 dann zum Zusammenstoß. Allerdings versuchte das Gericht auch in diesem Verfahren, das Konfliktpotential klein zu halten. Es begnügte sich damit, einen formal-prozeduralen Rechtsverstoß der EZB festzustellen. Der Rat der EZB, so die Feststellung, habe im PSPP-Beschluss und verschiedenen Änderungs- bzw. Durchführungsbeschlüssen „weder geprüft noch dargelegt“, dass die beschlossenen Maßnahmen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Bis heute wird darüber spekuliert, was für diese Zurückhaltung wohl maßgeblich war. Genannt werden etwa die Schwierigkeit, hinreichend gute Gründe zu entwickeln, die dem EuGH-Verständnis von Art. 127 Abs. 1 AEUV entgegengehalten werden könnten; die Sorge vor den großen (finanz-)politischen Verwerfungen, die eine materiell-rechtlich begründete Ultra-vires-Erklärung der EZB-Ankaufpolitik erzeugt hätte; oder auch die Einsicht, dass das rechtliche Funktionsverständnis von moderner Währungspolitik fortgeschrieben werden muss.

Die politischen Verwerfungen, die die Entscheidung des BVerfG vom 5.5.2020 erzeugten, waren gleichwohl groß. Der frontale Angriff des BVerfG auf den EuGH erzeugte vor allem in europarechtlichen Krisen Unglauben und Unverständnis. In finanzpolitischen Kreisen sorgte man sich vor allem darum, ob die Entscheidung vom 5.5.2020 möglicherweise die Stellung der EZB destabilisieren und ihre Politik diskreditieren könnte. Im Spätfrühjahr und Sommer 2020 ergriffen EZB und deutsche Verfassungsorgane eine Vielzahl von Maßnahmen, um die Vertrags- (und damit: Verfassungs-)Konformität der Ankaufprogramme der EZB abzusichern. Den Gegnern der EZB genügte dies natürlich nicht. Schon Anfang August 2020 beantragten sie beim BVerfG eine Vollstreckungsanordnung nach § 35 BVerfGG. Diese Anträge wurden mit Beschluss vom 29.4.2021 verworfen.

II.

Das Verfahren nach § 35 BVerfGG dient dazu, den in der Grundentscheidung („Sachentscheidung“) getroffenen Entscheidungsausspruch durchzusetzen. Das BVerfG hatte der EZB vorgeworfen, beim Beschluss über das PSPP die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit nicht erfüllt, die gebotene Darlegung der Gründe unterlassen („Abwägungs- und Darlegungsausfall“), und so seine Kompetenz nach Art. 127 Abs. 1 S. 1 AEUV überschritten zu haben (Urt. vom 5.5.2020, Rdnr. 176). Von Bundesregierung und Bundestag werden dann Schritte erwartet, vermittels derer die EZB zurück in den Sphären des Rechts geführt wird. Alles steht und fällt damit mit der Feststellung, worin der spezifische Rechtsverstoß der EZB liegt. Weil der an die EZB gerichtete Vorwurf aber eher unklar bleibt, lassen sich auch die von den deutschen Verfassungsorganen verlangten Maßnahmen nicht klar formulieren. Bekanntlich sind drei Punkte in der Entscheidung vom 5.5.2020 diskussionswürdig:

Ein erstes Problemfeld betrifft die tatsächlichen Annahmen des BVerfG: Wie konnte das BVerfG annehmen, dass die EZB die Folgen ihrer Programme nicht intern prognostizieren, sodann sorgfältig beobachten und analysieren würde? Wie konnte es davon ausgehen, dass die EZB nicht eine Folgenbewertung vornehmen würde, auch wenn dies nicht nach außen getragen wird? Vielen Beobachterinnen und Beobachtern schien die für das BVerfG zentrale Aussage, dass sich die EZB tatsächlich einen Abwägungsausfall vorwerfen lassen müsse, nie plausibel. Plausibel erschien vielmehr die Annahme, dass die EZB die verschiedenen Folgen anders gewichtete und wertete, als es dies manche Gegner ihrer Politik wollten. Aber das begründet gerade keinen Abwägungsausfall. Was sollen Bundesregierung und Bundestag unternehmen, um gegen einen wahrscheinlich gar nicht vorliegenden Abwägungsausfall einzuschreiten? Geht es nicht ausschließlich um Fragen der Darlegung?

Im Zentrum eines zweiten Problemfeld stehen die Ausführungen des BVerfG zum Umfang der Darlegungslast der EZB. Das BVerfG lässt erkennen, dass es eine Darlegung jedenfalls in dem Umfang verlangt, die es ihm ermöglicht, selbst eine „eine Überprüfung der Wirkungen des PSPP“ am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips vornehmen zu können (Urt. v. 5.5.2020, Rdnr. 176). Das Maß der Begründungs- und Darlegungspflicht für EU-Organe ergibt sich allerdings aus Art. 296 AEUV. Welche Anforderungen sich hiernach ergeben, ist eine Sache des EU-Rechts. Ob die danach unionsrechtlich erforderliche Darlegung das BVerfG in die Lage versetzt, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen (oder nachzuvollziehen), ist für Art. 296 AEUV irrelevant. Das BVerfG hat im Beschluss vom 5.5.2020 über die eigentlich einschlägige Bestimmung des EU-Rechts Zusatzanforderungen an das Begründungs- und Darlegungsverhalten eines EU-Organs gelegt, die über seine Kontrollzuständigkeit hinausgehen. Man stelle sich vor, dass Gerichte aus allen EU-Mitgliedstaaten eigenständige Begründungs- und Darlegungsanforderungen an die EU-Organe richten würden. In der Sache musste das Vorgehen deshalb verwundern, weil das BVerfG eigentlich beansprucht, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung (beispielsweise bei einem Gesetz) auch dann vornehmen zu können, wenn das handelnde Organ überhaupt keine Begründung geben hat.

Ein dritter Fragenkomplex dreht sich schließlich um das Verhältnis von Kompetenz und prozeduraler Pflicht: Wie kann es sein, dass das Unterlassen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung oder das Unterlassen, die Ergebnisse einer solchen Prüfung darzulegen, zu einer Kompetenzüberschreitung führt? Werden hier die Kategorien von Kompetenz und prozeduraler Pflicht nicht unzulässig vermischt? Die Behauptung, der schon die bloße Nichtbeachtung einer Darlegungsanforderung zu einer Überschreitung der in Art. 127 Abs. 1 AEUV niedergelegten Kompetenz führe, entspricht jedenfalls nicht der im deutschen Recht tief verwurzelten Sichtweise, dass Verfahrens- und Formverstöße nicht zu einem Ultra-vires-Handeln führen. Manchen leuchtet daher bis heute nicht ein, warum eine nachholende Darlegung der Verhältnismäßigkeitsprüfung jetzt die Kompetenzkonformität nach Art. 127 Abs. 1 S. 1 AEUV belegen soll.

Ich schildere diese Schwierigkeiten hier, weil sie sich in der verfassungsgerichtlichen Prüfung des Vollstreckungsantrags (unten IV.) bemerkbar machen.

III.

Hinter dem Antrag auf Vollstreckungsanordnung nach § 35 BVerfGG stand eine Gruppe von Antragstellern in dem Ausgangsverfahren 2 BvR 1651/15 , zudem der Antragsteller im Verfahren 2 BvR 2006/15. Diese Anträge hat das BVerfG für unzulässig erklärt und verworfen. Das war konsequent und nicht überraschend.

Die Gruppe von Antragstellern zu I. beantragte, das BVerfG möge eine Pflicht von Bundesregierung und Bundestag feststellen, „den Beschwerdeführern die Behebung der durch das  Urteil festgestellten Verletzung ihrer Rechte darzulegen“, zudem, ihnen Einsicht in die von der EZB übermittelten Dokumente zu ermöglichen. Das BVerfG wies zu Recht und in Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung darauf hin, dass dies über die Grenzen einer statthaften Vollstreckungsanordnung nach § 35 BVerfGG hinausgehe. Dem Urteil vom 5.5.2020 lasse sich weder eine Pflicht der Verfassungsorgane entnehmen, den Beschwerdeführern einen Umsetzungsnachweis zu erbringen, noch folge daraus eine Pflicht zur Offenlegung von Unterlagen.

Der Antragsteller zu II. begehrte demgegenüber (u.a.) die Feststellung, Bundestag und Bundesregierung seien weiterhin verpflichtet, auf die EZB einzuwirken, dass der EZB-Rat umgehend eine substantiierte und nachvollziehbare Verhältnismäßigkeitsprüfung herbeiführt und öffentlich kommuniziert, die den Anforderungen des BVerfG-Urteils vom 5.5.2020 entspricht. Das BVerfG erklärte auch diesen Antrag für unzulässig. In der Begründung verschwimmen drei grundsätzlich zu trennende Erwägungen. (1) Offenkundig kann Gegenstand einer Vollstreckungsanordnung nur eine vom BVerfG in der Grundentscheidung ausgesprochene konkrete Pflicht sein. Der Verfahrensgegenstand des Ausgangsverfahrens darf im Verfahren nach § 35 BVerfGG nicht verändert werden. Die beantragte Vollstreckungsanordnung darf diesbezüglich nicht auf Änderungen und Erweiterungen abzielen. Das BVerfG weist (2) zudem darauf hin, dass Handlungen und Entscheidungen der Verfassungsorgane, die nach der Verkündung der Grundentscheidung vorgenommen wurden, in einem neuen Verfahren vor dem BVerfG angegriffen und überprüft werden können; der Rechtsbehelf des § 35 BVerfGG steht hierfür dann nicht offen. Das BVerfG bringt schließlich (3) den Grundsatz der Gewaltenteilung ins Spiel und verweist auf Entscheidungen, wonach Anträge nach § 35 BVerfGG unzulässig seien, die auf die Verpflichtung hinauslaufen, ein Gesetz zu erlassen. Diese Begrenzung gelte auch für andere Hoheitsakte und Maßnahmen. Unklar bleibt, ob dies nur für Entscheidungen des Parlaments und der Regierung gelten soll; das Gericht nimmt hier keine explizite Eingrenzung vor. Ein Antrag nach § 35 BVerfGG sei allenfalls („anderes dürfte allenfalls dann gelten“, Rdnr. 79) zulässig, wenn das in der Grundentscheidung verpflichtete Organ „gar nicht tätig geworden ist oder nur in einer Weise, die so offensichtlich hinter den sich aus der Sachentscheidung ergebenden Anforderungen zurückbleibt, dass dies materiell einer Untätigkeit gleichkommt“ (Rdnr. 79 unter Verweis auf BVerfGE 142, 116 (122)). Auf der Grundlage dieser Erwägungen stellt das BVerfG fest, dass der begehrte Verpflichtungsantrag bereits unzulässig sei. Das Zusammenspiel der drei Kriterien lässt dem Gericht viel Spielraum. Künftige Antragsteller im Verfahren nach § 35 BVerfGG werden genau begründen müssen, warum in ihrem Fall keines der drei Kriterien einer Entscheidung in der Sache entgegensteht.

VI.

Der Beschluss vom 29.4.2021 ist insofern ungewöhnlich, als er die Unzulässigkeit der Anträge in gerade einmal sieben Randziffern aufzeigt, um dann in weiteren 22 Randziffern ausführlich darzulegen, dass die Anträge auch unbegründet wären. Künftigen Verfassungsbeschwerden gegen das PSPP-Programm und dessen Ausführung soll hier offensichtlich ein Riegel vorgeschoben werden. Als Prüfungsmaßstab dient dem BVerfG dabei die Frage, ob Bundesregierung und Bundestag den Anforderungen aus dem Urteil vom 5.5.2020 gar nicht oder so unzureichend nachgekommen sind, dass dies materiell einer Untätigkeit gleichkomme. Dies verneint das BVerfG im Ergebnis. Seine Ausführungen werfen allerdings eine Reihe von Fragen auf. Einige seien hier kurz angesprochen:

Das BVerfG attestiert der EZB, bereits auf der Sitzung des Rats der EZB am 3. und 4. Juni 2020 die bislang ausgefallene Verhältnismäßigkeitsprüfung zum PSPP nachgeholt und hinreichend dargelegt zu haben (Rdnr. 100 am Ende, Rdnr. 109). Das BVerfG nimmt hier zur Kenntnis, dass sich der Rat der EZB, wie die „Zusammenfassung der geldpolitischen Sitzung des Rates der Europäischen Zentralbank“ zu erkennen gibt, ausführlich mit den Folgen der Ankaufaktivität befasst hat. Er hat auch in zwei Beschlüssen zu erkennen gegeben, dass er die Folgen der Ankäufe im Blick hat. Es ist wohl einem Wunsch des BVerfG geschuldet, keine neuen Konflikte mit EU-Institutionen aufkommen zu lassen, dass das BVerfG das nun als Schritt zur Herstellung der Vertragskonformität unter Art. 127 Abs. 1 S. 1 AEUV ausreichen lässt – wenngleich das BVerfG offenlässt, ob damit den materiellen Anforderungen von Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 EUV „in jeder Hinsicht“ entsprochen wird (Rdnr. 109). Kritiker der EZB könnten dies als Hinweis darauf lesen, dass letztlich weiter ungeklärt ist, ob sich die EZB aus der Perspektive des deutschen Verfassungsrechts innerhalb oder außerhalb von Art. 127 Abs. 1 S. 1 AEUV bewegt. Rückblickend wirkt es jedenfalls um so erstaunlicher, dass das Fehlen von einigen Seiten öffentlicher Begründung, die die EZB ohne Zweifel intern vorliegen hatte (oben II.), zu einer großen konstitutionellen Krise in der EU führen konnte.

Die Frage der Beseitigung des Ultra-vires-Status behandelt das BVerfG allerdings nur nebenbei. Im Zentrum steht die Frage, ob die Verfassungsorgane Bundesregierung und Bundestag ihre verfassungsrechtlichen Pflichten eingelöst haben. Das BVerfG entfaltet dabei ausführlich, wie groß die (Reaktions-)Spielräume sind, die die deutschen Verfassungsorgane mit Blick auf Ultra-vires-Akte von EU-Institutionen haben. Es beschreibt nicht nur ausführlich, welch vielfältige Reaktionsmöglichkeiten sie haben (Rdnr. 91-93). Es weist auch auf den „weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“ hin (Rdnr. 90). Man ist sich beim Lesen dieser Passagen allerdings nicht ganz sicher, ob das Gericht hier hinreichend im Blick hat, dass es im Verfahren nach § 35 BVerfGG nicht um eine allgemeine Klärung der Rechtsstellung der Verfassungsorgane im Integrationsprozess geht, sondern darum, ob das Verfassungsorgan auf die vom BVerfG in der Grundentscheidung ausgesprochene Pflichtverletzung verfassungskonform reagiert hat. Ausgangspunkt der Begründetheitsprüfung hätte daher sein müssen, welche konkreten und hinreichend effektiven Verhaltensoptionen Bundesregierung und Bundestag besaßen. Viele der vom BVerfG aufgezählten Optionen (etwa das Mißtrauensvotum nach Art. 67 GG) werden die EZB kaum dazu bewegen, die vom BVerfG postulierten Abwägungs- und Darlegungspflichten nun endlich zu erfüllen.

Auffällig sind in diesem Zusammenhang gewisse Differenzen zwischen der Grundentscheidung und dem hier zu besprechenden Beschluss. Im Urteil vom 5.5.2020 wies das BVerfG noch darauf hin: „Unter bestimmten rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen kann sich die Integrationsverantwortung zu einer konkreten Handlungspflicht verdichten.“ (Rdnr. 231). Davon ist im Beschluss vom 29.4.2021 nicht mehr die Rede. Statt dessen wird hier umgekehrt alles unternommen, um den Verfassungsorganen möglichst weite Spielräume zuzuschreiben. Ist dies dem Bemühen geschuldet, im konkreten Fall einen weiteren Konflikt zu vermeiden, oder wird dies auch für künftige Fälle, in denen es um die Integrationsverantwortung geht, von Bedeutung sein?

Die Zweifel, ob das BVerfG in den Ausführungen zur Begründetheit hinreichend im Blick hat, dass es um einen Antrag nach § 35 BVerfGG geht, verstärken sich bei der Lektüre von Rdnr. 94. Hier wird der grundrechtliche Schutzanspruch ins Spiel gebracht, mit dem das Gericht seit einigen Jahren die Integrationsverantwortung der deutschen Verfassungsorgane versubjektiviert hat. Im Verfahren nach § 35 BVerfGG geht es aber nicht um die Durchsetzung von Ansprüchen aus Art. 38 GG, sondern um die Durchsetzung des spezifischen Anspruchs aus der Grundentscheidung. Ein zulässiger Antrag nach § 35 BVerfGG kann nicht über Aussagen zu einem grundrechtlichen Schutzanspruch aus Art. 38 GG eingegrenzt (oder auch ausgeweitet) werden. Urteilsdurchsetzungsansprüche bewegen sich auf einer anderen Ebene als Ansprüche aus dem „Recht auf Demokratie“.

Unklar ist ferner, ob das BVerfG davon ausgeht, dass sich der behauptete Verfassungsverstoß von Bundesregierung und Bundestag dadurch erledigt hat, dass der Rat der EZB in einer Sitzung am 3. und 4. Juni 2020 die geforderte Verhältnismäßigkeitsprüfung nachgeholt und so die deutschen Verfassungsorgane entlastet hat, oder ob das Gericht von einer hinreichenden Erfüllung der Handlungspflicht von Bundesregierung und Bundestag ausgeht. Wenn die EZB am 3. und 4. Juni 2020 einen (aus Sicht des BVerfG) vertragskonformen Zustand hergestellt hat, könnten alle späteren Handlungen von Bundesregierung und Bundestag vollstreckungsrechtlich nicht mehr als Handlungen eingeordnet werden, die Entscheidung vom 5.5.2020 umzusetzen und eine Verhältnismäßigkeitsprüfung herbeizuführen. Das schließt nicht aus, sie als Ausdruck der Wahrnehmung der allgemeinen Integrationsverantwortung anzusehen. Im Verfahren nach § 35 BVerfGG bleibt deren Stellung dann aber unklar. Warum werden sie ausführlich gewürdigt?

Auffällig ist schließlich, dass sich das BVerfG in der Begründetheitsprüfung damit begnügt, eine Vielzahl von Reaktionen, Handlungen und Entscheidungen von Bundesregierung und Bundestag zu beschreiben – und dann sehr schnell festzustellen, dass dieses Tätigwerden den Anforderungen der Integrationsverantwortung jedenfalls im Umfang eines Untermaßverbots entsprochen habe (Rdnr. 108). Eine Kausalitätsprüfung unterbleibt – und würde jedenfalls für Handlungen, die ab dem 3. und 4. Juni 2020 ergriffen worden sind, ja auch wenig Sinn ergeben. Haben diese Handlungen wirklich dazu beigetragen, dass die EZB den am 5.5.2020 attestierten Rechtsverstoß abgestellt hat, oder sind es vielleicht andere Umstände gewesen? Auch eine Effektivitätsprüfung wird nicht angestellt – obgleich sich die Effektivitätsfrage natürlich mit Blick auf eine Reihe der aufgezählten Handlungen aufdrängt. Wie effektiv sind Diskussionen im Parlament, um die EZB zu einer Verhaltensänderung zu bewegen? Es sei nochmals in Erinnerung gerufen, dass das BVerfG im Urteil vom 5.5.2020 postulierte, dass Bundesregierung und Bundestag verpflichtet gewesen seien, „geeignete Maßnahmen dagegen zu ergreifen, dass der Rat der EZB [in verschiedenen Beschlüssen] weder geprüft noch dargelegt hat, dass die beschlossenen Maßnahmen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.“ (Leitsatz 3, Rdnr. 116). Diesen Maßstab nimmt das BVerfG im Beschluss vom 29.4.2021 nicht erkennbar auf.

In der Gesamtsicht spricht manches für die Annahme, dass der Senat seinen grundsätzlichen Ansatz geändert hat: Während das BVerfG der EZB im Urteil vom 5.5.2020 vorwarf, ihm nicht die notwendigen Darlegungen zu liefern, um eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nachvollziehen zu können, bestätigt es im Beschluss vom 29.4.2021 nunmehr, dass den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips entsprochen werde, ohne überhaupt noch einen Satz darauf zu verwenden, dass die gelieferten Informationen ihm nunmehr eine solche Prüfung ermöglichten, geschweige denn selbst in eine nachvollziehende Prüfung einzusteigen. Es begnügt sich mit der Feststellung, die EZB habe die Prüfung offensichtlich vorgenommen.

V.

Der Beschluss vom 29.4.2021 macht deutlich, wie komplex die europaverfassungsrechtliche Rechtsprechung des BVerfG inzwischen geworden ist. Staatsorganisationsrechtliche Pflichten („Integrationsverantwortung“) werden von subjektiv-grundrechtlichen Abwehr- und Schutzansprüchen überlagert („Recht auf Demokratie“). Die Abstimmung der beiden Rechte- und Pflichtenebenen, insbesondere mit Blick auf die Prüfdichte des BVerfG und die eingeräumten Beurteilungsspielräume des adressierten Verfassungsorgans, ist hochgradig voraussetzungsvoll, ggf. auch spannungsgeladen. In einer Situation, in der sich es um einen Vollstreckungsanspruch geht, also um einen Anspruch auf Durchsetzung des sich aus einer Entscheidung des BVerfG ergebenden Rechts, potenzieren sich die Schwierigkeiten. Die Ebenen zu vermischen (Rdnr. 94, Rdnr. 108, „Untermaßverbot“) sollte tunlich vermieden werden. Eine schärfere dogmatische Abstimmung der beiden Ebenen tut not. Das muss einem künftigen Blog-Beitrag vorbehalten bleiben.


2 Comments

  1. Jacques Ziller Sat 22 May 2021 at 09:32 - Reply

    Danke vielmals Herr Nettesheim für diese Ausfürhrliche und besonders klare Analyse. Ich hoffe Sie werden auch einen Englischen Text veröffentlichent, für unsere Kollegen die kein Deutsch lesen.
    Sie zeigen besonders deutlich wie gefählich es fûr einen Verfassungsrichter ist eine Dogmatik aufzubauen, von der es dann sehr schwierig ist zu entweichen um die besonderheiten des politisch- wirtshaftlich- und sozialen Kontext seiner Entscheidungen wahrzunehmen.
    Mich beunruhigt natürlich, das der Zweite Senat darauf beharrt, auch wenn nicht besonders deutlich, dass es ihm erlaubt – oder sogar vorgeschrieben – ist die Art und Weise in der ein Vôlkerrechtlich basiertes Organ seine Entscheidungen vorbereitet, bzw. erklärt.

  2. Wolfgang Dehlwisch-Bell Mon 28 Jun 2021 at 19:15 - Reply

    Ich frage mich, ob der Autor das Urteil gelesen hat. Schon im Leitsatz 2 steht: “Nach Erlass der Sachentscheidung ergangene Maßnahmen sind kein tauglicher Gegenstand von Vollstreckungsanordnungen nach § 35 BVerfGG. Andernfalls würde die ursprüngliche Sachentscheidung ergänzt und erweitert, weil auch die neue rechtliche Situation analysiert und verfassungsrechtlich gewürdigt werden müsste. ” Kurz gesagt, der Antragsteller war der Auffassung, dass Bundestag und Bundesregierung hinsichtlich des Urteils vom 5. Mai 2020 untätig gewesen wären. Der Antragsteller konnte durch einen Antrag nach § 35 BVerfGG nichts weitergehendes beantragen, da ein solcher Antrag – außer hinsichtlich des Untätigkeitsvorwurfs – keine eigenständige Sachverhaltsaufnahme zulässt. Der Vorwurf der Untätigkeit wurde vom Bundesverfassungsgericht verneint und damit der Antrag abgewiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat dabei weder die Maßnahmen untersucht noch beurteilt. Dies bliebe einer erneuten Verfassungsbeschwerde vorbehalten.

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