01 June 2018

Das Märchen von der Freiheit des Internets – erste Eindrücke zum DE-CIX-Urteil des Bundes­verwaltungs­gerichts

Es war einmal das Internet. Es übte auf die Menschen eine schier grenzenlose Faszination aus, war es doch ein rätselhaftes, nicht mit Händen zu greifendes neuländisches Ding, das Kommunikation über den ganzen Erdball ermöglichte. Die Gedanken waren seit jeher frei, doch fortan war dies auch der Gedankenaustausch. Herrschern jeglicher Couleur, von Tyrannen bis zu lupenreinen Demokraten, bereitete die neue Freiheit nicht unerhebliches Unbehagen. Je weiter die Menschen ihre Ansichten von der physischen in die virtuelle Welt verlagerten, desto hilfloser sahen sich die Fürsten von der Erosion ihrer Macht bedroht. Hatte der Geist das Schwert besiegt? Dies wäre eine allzu naive Vorstellung gewesen, welche selbst der Märchenwelt zu abenteuerlich erscheinen muss. Denn heute ist es nicht mehr nur das Schwert, das herrschaftliche Macht zu ergreifen und verteidigen weiß, sondern es sind dies auch das Kabel, der Satellit, der Computer.

Allüberall wuchsen denn die Arsenale, auf dass die Herrschaft über das Internet hoheitlich werde. Das Netz für die Menschen sollte so zum Netz über die Menschen, der Staat zum Retiarius werden. Und so geschah es auch in Deutschland. Die Datenfischerei erwies sich als erquicklicher Gewinn, nicht nur im Weltraum oder in fernen Ländern, sondern auch am eigenen Hofe. Dort verdingte sich eine ehrenwerte Kaufmannsperson, nennen wir sie DE-CIX, bei der Gemeinschaft, indem sie den größten Internetknotenpunkt im Lande betrieb und so den weltumspannenden Datenaustausch maßgeblich zu fördern wusste. Das weckte auch staatliche Begehrlichkeiten: Die DE-CIX, so der als „Beschränkungsanordnung“ titulierte Befehl des Innenministeriums, habe, gemäß Gesetz und Verordnung, ihre Pforten zu öffnen und sämtliche Datenströme auf ein Kabel des Bundesnachrichtendienstes zu spiegeln. Lautes Wehklagen stieß die DE-CIX aus, sah sie sich doch selbst und die ihre Dienste nutzenden Menschen rechtsverletzt. Kein Geringerer als der ehrwürdige Hans-Jürgen Papier, ehedem oberster Hüter der Verfassung, bestärkte in einem profunden Schriftstück diesen Eindruck. So gewappnet zeigte sich die Hüterin des Internets zum Kampfe bereit und zog zur Klage nach Leipzig. Dort oblag es dem Bundesverwaltungsgericht als erste und letzte Instanz zu entscheiden. Zwanzig Monde später, Anno Domini 2018, am 30. Mai, mündete der Disput in die mündliche Verhandlung. Es ward Nacht, und plötzlich, in den ersten Stunden des Morgengrauens, erhellte die Menschheit die Verkündigung: „Klage der DE-CIX Management GmbH erfolglos“. Eine Begründung des Verdikts Nr. 6 A 3.16 ließ einstweilen auf sich warten, nur eine magere Pressemitteilung suchte den Richterspruch zu stützen. Doch vermag dies die Hochachtung vor der Leipziger Leistung nicht zu schmälern, offenbar vom Geistbraus beseelt, im Anbruch des Fronleichnamstags plötzlich die Erleuchtung zu gewinnen, deren Wahrhaftigkeit wohl erst die unmittelbar vorangegangene Verhandlung zu bezeugen geeignet war. Wer will schon, was im Wenigsten regelmäßig geschieht, einer rasch richtenden Justitia gram sein?

Ohne mit den Gründen der Erleuchtung im Detail vertraut sein zu können, dürfte sich die DE-CIX gründlich grämen, wurde doch dem Papier-Papier erstaunlich wenig Wert beigemessen. Amtlich ist nun verbrieft, dass die DE-CIX sich den Befehlen des BND im Rahmen der sogenannten strategischen Fernmeldeüberwachung auf Grundlage des Art. 10-Gesetzes zu fügen hat, mag sie sich auch noch so sehr als Hüterin des Netzes für die Menschen verpflichtet fühlen. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von § 5 Abs. 3 Satz 2 des Art. 10-Gesetzes, der eine unbeschränkte Überwachung des Ausland-Ausland-Fernmeldeverkehrs gestattet, scheinen die Leipziger Richterschaft, obwohl das Spektrum der Bedenkenträger beachtlich ausfällt, nicht zu plagen. Der Gesetzgeber mag dem mit freudiger Genugtuung applaudieren, dies jedoch zum Leidwesen des Rechtsstaats. Denn diese Sichtweise ist geeignet, den menschenrechtlichen Gehalt von Art. 10 GG zu negieren. So wird die eigentlich mit der Theorie über eine constitutio ferenda verbundene Frage, ob die verfassungsmäßige Unverletzlichkeit des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses ohne jede personale oder territoriale Einschränkung statuiert ist oder bloß postuliert wird, mit zunehmender Wucht in die Wirklichkeit katapultiert.

Wer dem Bundesverwaltungsgericht hier noch eine verfassungsrechtliche Unbekümmertheit zu attestieren versucht, wird bald eines Besseren belehrt. Grundrechte scheinen in der Tat eine tragende Rolle in der Rechtsfindung gespielt zu haben, nur anders akzentuiert. So kann der gute Glaube nicht erschüttert werden, dass die DE-CIX, wenn auch befehlsempfangende Adjutantin des BND-Retiarius, keinesfalls zu dessen Sklavin degradiert werden soll. Natürlich könne sie sich als Unternehmerin auf die Berufsfreiheit des Art. 12 GG berufen, betreffe doch die Einwirkung des BND die Ausübung ihrer Tätigkeit. Das hochgeschätzte Prinzip der Verhältnismäßigkeit aber gebiete aufgetragene nachrichtendienstliche Eingriffe, die immerhin einem hehren Ziel dienten. Dieses Argumentationsmuster dürfte kaum geeignet sein, übermäßige Überraschung zu entfachen, jedenfalls nicht im Lichte der fast schon legendären Drei-Stufen-Theorie. Eine unverhältnismäßige Datenverwendung weist selbstredend auch der BND selbst von sich, scheide er doch Treffer und Nichttreffer nach dem Aschenputtel-Prinzip: die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.

Wer diese märchenhaften Entwicklungen bis hierhin zu verfolgen durchgehalten hat, mag es längst erkannt haben. Es ist etwas faul in einem Staate, der die freiheitliche Entfaltung seiner Menschen doch stets zu schützen und fördern geneigt war, dessen Verfassungsgerichtsbarkeit schon früh zu betonen wusste, dass das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung (und damit auch der Schutz von Kommunikationsträgern) für „eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung [..] schlechthin konstituierend“ sei, und dessen Schutzschild vor staatlichen Ausspähungen auch im virtuellen Raum vor kurzem noch funktioniert hat. Es scheint nun, als wäre Leipzig in dieser Beziehung weit weniger sensibel als Karlsruhe. Schwerlich lässt sich anders deuten, dass das wahre Problem (jedenfalls nach der verfügbaren Pressemitteilung) auf zwei Sätze reduziert wird: Die DE-CIX könne sich „in ihrer Eigenschaft als Vermittlerin von Telekommunikationsverkehren [auf Art. 10 GG] nicht berufen. Sie trifft keine Verantwortung oder Haftung für die Rechtmäßigkeit der Beschränkungsanordnung; diese trifft allein die beklagte Bundesrepublik Deutschland.“ Die Kargheit dieses Ausspruchs wird der Wucht seiner Konsequenzen kaum gerecht. Zwar drängt es sich nicht als unvertretbar auf, dass Kommunikationsmittler keinen Schutz von Art. 10 GG genießen sollen. Dies zu begründen kann jedoch nicht auf einfachgesetzlich normierter Datenverantwortung, sondern nur auf Grundrechtsdogmatik beruhen. Zu eruieren wäre jedenfalls gewesen, ob die DE-CIX nicht als Sachwalterin der Grundrechte ihrer Nutzerinnen und Nutzer hätte auftreten können. Denn unmittelbar betroffene Grundrechtsträger haben mangels Kenntnis keine Möglichkeit Rechtsschutz zu erlangen, vgl. Art. 19 Abs. 4 GG, soweit man die Beschränkungsanordnung gegenüber der DE-CIX (aus nachvollziehbaren Gründen) nicht als Verwaltungsakt mit Drittwirkung und so mit entsprechender Bekanntgabepflicht auch gegenüber jedem Kommunikationsteilnehmer betrachten möchte. Daneben wäre es eine Überlegung wert, die Schranken, die Art. 10 GG aus besonderen Sachgründen gesetzt hat, angesichts vergleichbarer Eingriffsschwere auf die im Rahmen von Art. 12 GG vorgenommene Verhältnismäßigkeitsprüfung zu übertragen. Eines jedoch dürfte unter jedem Gesichtspunkt als unzureichend zu monieren sein: die weitgehende Ignoranz gegenüber Art. 10 GG.

Die vorliegende Entscheidung zeigt einmal mehr: Die oft beschworene Freiheit des Internets erweist sich in ihrer Pauschalität wahrhaftig als Märchen. Verloren ist sie damit aber noch nicht. Dies dürfte auch die DE-CIX ermutigen, gegen das Leipziger Urteil Verfassungsbeschwerde zu erheben. Angriffspunkte bieten sich jedenfalls zu Genüge. Und so enden auch diese Zeilen nicht mit dem womöglich erwarteten Satz: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“, sondern mit einem aussichtsreichen: Fortsetzung folgt!


One Comment

  1. Pontifex Maximus Mon 4 Jun 2018 at 09:06 - Reply

    Das Papier ein Gutachten mit Ergebnis A erstellt hat, spricht erstmal dafür, von der Richtigkeit von Ergebnis B auszugehen.

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