15 January 2019

Das Minus zum Minimum: Hartz-IV-Sanktionen vor dem Bundes­verfassungs­gericht

Hartz IV ist das Minimum: Das Arbeitslosengeld II ist dazu da, das vom Bundesverfassungsgericht 2010 postulierte Recht jedes in Deutschland lebenden Menschen auf ein “menschenwürdiges Existenzminimum” zu gewährleisten. Wer das zum menschenwürdigen Dasein “unbedingt Erforderliche” nicht hat, dem muss der Staat es verschaffen, einschließlich eines “Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben”. Weniger als das ist menschenunwürdig.

Und doch kommt es regel-, plan- und gesetzmäßig und in nicht geringer Anzahl vor, dass Menschen auch dieses Minimum noch zusammengestrichen wird: Wer seine in § 31 SGB II niedergelegten Pflichten versäumt und etwa eine vollkommen hirnlose Weiterbildung hinschmeißt oder einen elenden Ausbeutungsjob nicht annehmen will, dem wird das Arbeitslosengeld II gekürzt, erst um 30%, dann um 60% und zuletzt ganz. Das kann nicht sein, fand 2016 das Sozialgericht Gotha und legte dem Bundesverfassungsgericht die § 31, 31a und 31b SGB II zur Kontrolle auf ihre Verfassungsmäßigkeit vor.

Heute hat der Erste Senat in Karlsruhe diese Vorlage mündlich verhandelt. Ich bin hingefahren. Mein Eindruck: da kommt was Größeres.

Selber schuld

Ulrich Karpenstein von der Kanzlei Redeker Sellner Dahs versuchte im Namen der Bundesregierung das Paradox vom minimierten Minimum wie folgt aufzulösen: An der Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums wirke nicht nur der Staat, sondern auch der Mensch selbst mit. Das Maß seiner Mitwirkung gehöre bereits zum Tatbestand des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Daher sei es Teil der Ausgestaltung dieses Grundrechts, die dem Gesetzgeber aufgetragen ist, wenn er an diese Mitwirkung Anforderungen stellt. Wenn das SGB II somit Pflichten vorsieht und sanktioniert, Jobs und “Maßnahmen” nicht auszuschlagen, dann sei dies Ausgestaltung des Grundrechts – und nicht etwa ein Eingriff in das Grundrecht.

Die Sanktionen sind in dieser Lesart somit nicht so sehr etwas, das der Staat dem Leistungsempfänger zufügt, sondern sozusagen dieser sich selbst: An der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt mitzuwirken, sei eine “Selbsthilfeobliegenheit”, so Karpenstein. Wenn der ALG-II-Empfänger das Seine nicht beiträgt, dann schrumpft halt entsprechend sein Anspruch – nicht unähnlich zu der zivilrechtlichen Konstellation, dass jemand den Schaden mitverursacht hat, für den er Ersatz fordert (§ 254 BGB). Der “Vorrang der Selbsthilfe” folge aus nichts Geringerem als der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG höchstselbst als Frage der “Achtung und Selbstachtung der Persönlichkeit”.

Da staunte ein Teil der Richterbank. Ob er damit nicht die Menschenwürde unter Abwägungsvorbehalt stelle, fragte Berichterstatterin Susanne Baer. Hinter der Menschenwürde stehe keine “Leistungsidee”. Sie komme jedem Menschen qua Menschsein zu, egal was er oder sie leiste. Ihre Kollegin Gabriele Britz fragte hörbar irritiert, ob es nicht ehrlicher wäre, gleich zu sagen, worum es geht, nämlich die Gemeinschaft zu entlasten, anstatt Art. 1 “aus dem Hut zu ziehen” und die Menschenwürde ihrem Träger als Einschränkung entgegenzuhalten, als sei es “eine Wohltat für den Bedürftigen, ihn am Ende zu sanktionieren”.

Möglich, entgegnete Karpenstein kühl. Das sei aber gar nicht “die Position, die ich vertrete, sondern die des Senats.” In der Entscheidung zu den Lohnabstandsklauseln aus dem Jahr 1999 habe sich “der Senat klar dazu bekannt, dass es der Menschenwürde entspricht, seine Existenz selber zu sichern.”

Wo denn nun das “unerlässliche Minimum” liege, die “Grenze in der Grenze”, fragte Richter Andreas Paulus. In der Verhältnismäßigkeit, so Karpensteins Antwort. Das Minimum werde nicht unterschritten, sondern ergebe sich “aus den Normen selbst” und müsse dabei verhältnismäßig sein. Verhältnismäßig gemessen an welchem Ziel? Das wollten mehrere Richter sehr genau wissen. Nach Ansicht von Karpenstein sei das Ziel die Integration in den Arbeitsmarkt, woraus sich auch die Untergrenze, sozusagen das Minimal-Minimum ergebe: Wenn man jemanden obdachlos macht, dann findet er erst recht keinen Job mehr. Und das sei unverhältnismäßig.

Was die Sanktionen bringen

Der Hauptteil der Verhandlung war der Diskussion gewidmet, wie die Mitwirkungspflichten und die Sanktionen in der Praxis aussehen und was sie bringen. Der Senat war erkennbar beeindruckt von der Zahl und Einmütigkeit von Stellungnahmen der Sozialverbände, die berichten, was alles schiefläuft.

Wenn die Bundesregierung schon so auf ihre Einschätzungsprärogative poche, mahnte Gabriele Britz, dann hätte man seit 2007 “schon einiges herausfinden können.” Beim SGB II operiere der Gesetzgeber “am offenen Herzen”: es gehe immerhin um das Existenzminimum. Von der Bundesregierung habe sie aber insbesondere zu den höheren Sanktionen “klare belastbare Zahlen nicht gehört”.

Dass die §§ 31 ff. SGB II ganz ungeschoren aus dem Verfahren hervorgehen werden, scheint mir nach dem Verlauf der Verhandlung ziemlich unwahrscheinlich. Schwer zu vermitteln war der Richterbank vor allem, dass die Sanktionen zwangsläufig und starr für drei Monate verhängt werden, ob der zuständige Betreuer das für sinnvoll hält oder nicht.

Bundesregierung und Bundesagentur für Arbeit warnten eindringlich davor, den Jobcentern ein Ermessen einzuräumen. Das wäre “hoch risikoreich”, sagte BA-Chef Detlef Scheele. Wenn die Mitarbeiter vor Ort selber entscheiden und verantworten müssten, welche Folgen mangelnde Mitwirkung nach sich zieht, “dann möchte ich da nicht dabei sein”.

Einiges spricht auch dafür, dass die massiveren Stufen der Sanktionierung das Verfahren nicht überleben werden. Der Totalentzug der Stütze, die bei mehrfacher Verweigerung der Mitwirkung greift, sei auch aus seiner Sicht in der Tat verzichtbar, sagte Scheele, ebenso die Kürzung bei den Kosten der Unterkunft. Denkbar sei auch, die Sanktion enden zu lassen, wenn der Empfänger nachweislich seinen Mitwirkungspflichten wieder nachkommt.


22 Comments

  1. Peter Camenzind Tue 15 Jan 2019 at 19:59 - Reply

    Es scheint so, als sollte danach zukünftig grundsätzlich alles zu untersagen sein müssen, was man erlangen kann, soweit ein Existenzminimum nicht sonst durch verhältnismäßig eigenes Tun gesichert ist.
    So wegen Verstoßes gegen eine eigene Menschenwürde. Solche soll demzufolge eine Obliegenheitspflicht gegen sich selbst beinhalten, für sich selbst sorgen zu müssen und sein Existenzminimum selbst mit sichern zu müssen. Ohne “müssen” keine Pflicht und demnach keine Menschenwürde.
    Zudem sollte dies wegen wegen indirekter Benachteiligung anderer untersagbar sein müssen. Dies soweit solche nur verhältnismäßig entsprechend eigenem Tun und damit entsprechend eigener Menschenwürde etwas erlangen können…..

  2. Dominic Schelling Wed 16 Jan 2019 at 09:24 - Reply

    Mir scheint, dass es eigentlich verfassungsmäßiger Konsens ist, in den Westeuropäischen Ländern, ein Existenzminimum zu belassen. Sprich: Ein Dach über dem Kopf, grundlegende Gesundheitsversorgung und ein Minimum an Lebensmittel. Es ist sicherlich problemlos, beim normalen Arbeitslosengeld, in Deutschland wäre das Alg1, welches normalerweise über dem Existenzminimum liegt, bei Fehlverhalten aufs Existenzminimum zu kürzen. Das aber eine Leistung, welches das Grundminimum abdecken soll, um einen Verfassungsauftrag zu erfüllen, noch substanziell gekürzt werden kann, scheint mir absurd. Müsste man dann dem Betroffenen nicht umgehend den Weg in die kommunale “Sozialhilfe” ermöglichen, um dem Auftrag des Grundgesetzes genüge zu tun? Geschieht das überhaupt? Funktioniert eine behauptete Nothilfe mit Naturalleistungen überhaupt? In der Schweiz wird die wirtschaftliche Nothilfe nicht Substanziell gekürzt, gewisse Asylsuchende erhalten nur Nothilfe. Aber eine Totalstreichung bei nicht Kooperation, scheint es nicht zu geben.

  3. Frank Frei Wed 16 Jan 2019 at 13:44 - Reply

    Ein Bsp. Aus der Sanktionspraxis. Ich, Harz IV Bezieher und nebenbei angemeldet beim Jc Freiberufler. Als Springer für den Caritas als Coach. 100 Euro/Monat. Kriege drei Tage vor einem Jc Termin – den ich selbst initiiert hatte und nicht das Jc – einen Arbeitsauftrag. Sage meinen Termin ab mit Hinweis auf meine Arbeit. Und arbeite. kriege eine Sanktion, wg. Terminversäumnis. Caritas bestätigt kurzfristigen Arbeitseinsatz. Kein Erfolg. Widerspruch, Klage etc. Alles abgelehnt.
    Es wird also trotz Selbsthilfe sanktioniert.

  4. Holger Wed 16 Jan 2019 at 16:37 - Reply

    “Wer seine in § 31 SGB II niedergelegten Pflichten versäumt und etwa eine vollkommen hirnlose Weiterbildung hinschmeißt oder einen elenden Ausbeutungsjob nicht annehmen will, dem wird das Arbeitslosengeld II gekürzt”

    Ohne solche Polemik wäre der Artikel lesenswerter. Im vorliegenden Fall ging es um einen Job als Lagerarbeiter und eine Probearbeit im Verkauf, die beide abgelehnt wurden. Auch solche Jobs muss jemand machen, und dank Mindestlohn sollte es dafür auch ein erträgliches Gehalt geben.

    Inhaltlich sehe ich die Sanktionen auch kritisch, zumindest in der derzeitigen Höhe – dass ein Hartz IV-Empfänger für einen verpassten Jobcenter-Termin faktisch mindestens 127€ Strafe zahlen muss (3 Monate mal 10% von 424€), ist sicher nicht verhältnismäßig, ebensowenig eine 100%-Kürzung.

    Wobei die 3-Monats-Dauer laut https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-01/bundesverfassungsgericht-hartz-iv-sanktionen-strafen-verfassungswidrigkeit-faq durchaus verkürzt werden kann: “In der Regel werden die Sanktionen für drei Monate ausgesprochen. Die Dauer kann verkürzt werden, wenn der oder die Betroffene den Pflichten nachträglich nachkommt.”

  5. Frank Frei Wed 16 Jan 2019 at 17:32 - Reply

    @Holger
    Warum sollte man Arbeitslosengeld für den Fall der Arbeitslosigkeit an den Staat abführen müssen, wenn man in Zukunft nur noch Arbeitslosengeld bekommt, wenn man arbeiten geht? Ist doch unlogisch.

  6. Jean Thu 17 Jan 2019 at 09:27 - Reply

    Eine der besten Passagen im Karpenstein Paper ist unter Rn. 66 zu finden:

    “Vielmehr sind Betroffene in der Lage, entweder auf bereits angesparte Beträge oder aber auf das monatliche Ansparpotential zurückzugreifen.”

    Verkäufer im Geschäft: “Zahlen Sie die Ware bar oder mit Karte?”
    Kunde: “Mit meinem Ansparpotential.”

  7. Anton Thu 17 Jan 2019 at 20:13 - Reply

    Danke für den kurzen Bericht. Das mit der “Selbsthilfeobliegenheit” von Ulrich Karpenstein hat eine interessante Nebenseite. Denn genau, was Karpenstein vertritt, sehe ja viele ähnlich. Nur in einem von Karpenstein gerade nicht angestrebten Sinne. Etwa so: Mit der Eigenverantwortung § 1 SGB II will der Gesetzgeber im Sozialrecht die durch Art. 79 (3) GG geschützte Menschwürde im Falle von SGB II verfassungswidrig beseitigen. Verfassungswidrig deshalb, weil deren Schutz einzig aller staatlichen Gewalt obliegt. Natürlich lässt sich das umgekehrt auch als Aufforderung verstehen, nun daran zu gehen anstelle der staatlichen Gewalt nun zur Durchsetzung der Menschenwürde ggf. Gewalt anzuwenden. Solche “Eigenverantwortung” zeichnet sich gerade in Frankreich ab. Logisch ist das nicht, weil ja der Hartz IV nicht Sozialstaat oder gar genügend Arbeitsplätze sich selbst schaffen kann. Übrigens haben auch hier in Frankreich schon von Erwerbslosigkeit Bedrohte tatsächlich den Betrieb selbst übernommen um sich in Eigenverantwortung Arbeitsplätze zu schaffen. Um es zu beenden. Wer von Nachfrage abhängig ist, kann nicht eigenverantwortlich seine Arbeit schaffen. Allerdings: Wird das ganze Sanktionsregime schlicht und einfach als eine Umwandlung des Sozialstaates in ein Durchsetzungsinstrument für niedrige Löhne gesehen. Stephan Harbarth soll ja gesagt haben, dass es nicht darum gehe, ob die gewählten Instrumente „politisch sinnvoll“ seien. Genau. Deshalb kann eine Ablehnung von Zeitarbeit nicht sanktioniert werden. VW hat keine Anspruch auf Sozialleistungen um Niedriglöhne durchzusetzen (ein Ziel, was Schröder übrigens mal ganz offen zugab). Es geht um verfassungskonforme Sozialpolitik – und nicht um Wirtschaftspolitik. Nur war bezüglich z.B. VW (des Interessen ja Harbarth als Anwalt bisher vertrat) Sanktionen durchaus politisch sinnvoll. Deshalb mal wirklich nur vom Grundgesetz ausgehen und auch endlich mal Art.14 GG mit berücksichtigen. Danach dürfte nicht nur VW sich an Renditen aufgrund billiger Zwangsarbeit mehr erfreuen. Man darf gespannt sein…

  8. Lutz Lippke Sun 20 Jan 2019 at 01:06 - Reply

    “Selbsthilfeobliegenheit”
    stellt doch auf eine vertragliche Pflicht aus der Eingliederungsvereinbarung bzw. dem ersetzenden Verwaltungserlass ab. Das bedeutet, dass die Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht zur Unantastbarkeit der Menschenwürde von der Erfüllung einer Vertragspflicht zur Folgsamkeit abhängig gemacht wird. Motto dieses Menschenbildes: “Bewähre Dich als folgsamer Mensch und wir behandeln Dich als (uns) würdigen Mensch.” Andernfalls eben nicht. Nun mag ja in der Business-Welt der Mensch vor allem ein Arbeitstier mit viel zu hohen Kosten und Eigensinn sein. Aber die Definition des Menschseins hat wenig mit dieser Sicht durch die Prozentzahlenbrille der mathematisch und sozial doch eher minderbemittelten Betriebswirte zu tun. Zum Art.2 GG vorab: Um Verstöße gegen die verfassungsmäßige Ordnung aus Art.2 GG kann es bei Mitwirkungsverweigerung im Hartz IV-System sicherlich nicht gehen. Ansonsten ist der Staat an den Grundsatz gebunden, dass der Mensch von Geburt an frei und selbstbestimmt ist. Diese Freiheit darf vom Staat dann nur noch im Fall des Verstoßes gegen das Sittengesetz eingeschränkt werden, wenn diese Einschränkung aufgrund eines Gesetzes erfolgt. Das Terminversäumnis, die Ablehnung eines Jobs oder einer Arbeitsprobe muss also zumindest gegen das Sittengesetz verstoßen. Oha!
    Umgekehrt wäre jedenfalls ein Vertrag, der unter Androhung offensichtlich existenzgefährdender Sanktionen zu verfassungsrechtlich bereits geschuldeten Leistungen unfreiwillige Gegenleistungen einfordert, wegen Sittenwidrigkeit nichtig. Leider ist das aktuell nicht das vorgelegte Thema beim BVerfG. Mich interessiert aber die Meinung der Experten dazu.

  9. Skeptiker Wed 23 Jan 2019 at 14:44 - Reply

    Die Sanktionen im SGB II sind nur ein Symptom eines – auch verfassungsrechtlich – bankrotten Systems:
    1. Die Zahl der Gerichtsverfahren nach dem SGB II ist in der deutschen Rechtsgeschichte beispiellos; die Erfolgsquote ist enorm hoch, noch fünfzehn Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes. Die Praxis der Gerichte ist bisher kein Thema, es gibt nicht nur gute Arbeit in den “Massenverfahren” nach dem SGB II, die Jobcenter kommen in vielen Fällen “zu gut weg”.
    2. Der rechtsstaatliche Verwaltungsvollzug SGB II ist damit – in verfassungsrechtlich relevantem Ausmaß – nicht gewährleistet, auch durch eine Personalpolitik- und finanziereung, die vor allem die BA und das dahinter stehende Bundesministerum zu verantworten hat. Die verfahrensrechtlichen Fehler, die gemacht werden, sind bis heute hanebüchen, das Personal rotiert mit Geschwindgkeit, die fachliche Kompetenz ist vielfach unzureichend. Das wird kaschiert mit einer zum Teil absurden Textbaustein-Lastigkeit, die den rechtsstaatlichen Anspruch auf individuelle Bescheidung (und Information!) weitgehend leerlaufen lassen.
    3. Die Regelsätze sind in skandalöser Weise niedrig gerechnet; während man stolz ist auf Mindestlohn und wirtschaftlichen Aufschwung, bleiben die Sätze durch die geltenden Regeln immer weiter zurück, das „Abstandsgebot“ wird erfüllt, dass der Abstand sich sich stillschweigend vergrößert, wird ignoriert.
    4. Die Sanktionen beruhen nicht auf dem Prinzip “Fördern und Fordern” – das ist nichts als ein Propagandaslogan, den man ohne weiteren Gehalt ins Gesetz gehievt hat. Sie beruhen darauf, dass man den Begriff der zumutbaren Beschäftigung ins Unendliche ausgeweitet hat (vgl. § 10 Abs. 2 SGB II). Ein Schreiner kann nach geltendem Recht gezwungen werden, als Orthopäde zu arbeiten, ein Chirurg als Schreiner. Ein solche Regelung ist nicht einmal im Interesse der Arbeitgeber, entgegen deren Behauptung, und stillschweigend wird sie auch nicht praktiziert. Sozialrechtlich wird so der Grundsatz der Rücksichtnahme auf die individuellen Verhältnisse (§ 33 SGB I) im SGB II außer Kraft gesetzt: Eine Spezialregelung ohne “Spezialnutzen”.
    5. Die Grundaussage von “Hartz IV” wendet sich an die Gesellschaft als Ganze, nicht an die “Bedürftigen”: Wenn Ihr nicht aufpasst, ist euer Vermögen (weitgehend) futsch, die Rente ebenso (während des Bezugs von „Hartz IV“ wird kein Pfennig eingezahlt, eine Änderung, die erst NACH Inkrafttreten des SGB II “nachgeschoben” wurde), und das Jobcenter will sogar wissen, wann ihr mehr als zwölf Stunden “abwesend” seit. Durch Sparen aus dem System wieder herauszukommen, könnt ihr vergessen. Deshalb deprimiert „Hartz IV“ die Mittelschicht fast so sehr wie die Betroffenen. Das ist kein sozialstaatliches Konzept, sondern ein repressives; mit Art. 1, 20 GG ist das schwer vereinbar.
    Der Hauptgrund, dass dieses System bisher halbwegs störungsfrei vor sich hin stottert, liegt darin, dass es gelungen ist, die Auszahlung der Leistungen insgesamt pünktlich und effektiv zu gestalten.
    Was die “Vermittlungserfolge” betrifft: Eine halbwegs funktionierende Arbeitsvermittlung gab es auch vor dem Erlass des SGB II; für die Einbeziehung bestimmter Personengruppen in dieses System hätte es rechtstechnisch keiner negativen Sozialrevolution bedurft.

  10. Ute Behrens Sat 26 Jan 2019 at 11:52 - Reply

    ,,Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen. Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.” (Friedrich Schiller 1796).

    Wer hätte gedacht, dass wir gut 220 Jahre später in einer Überflussgesellschaft, in der es “Geld wie Dreck” gibt (Heiner Geißler), über diese Worte noch einmal nachdenken müssen. Wie definiert sich die Würde des Menschen im 21. Jh. und wer hat das Recht, Bedingungen zu stellen, um damit die existentielle Macht über einen anderen ausüben zu können?

    Wer von Eigenverantwortung in einer globalisierten Welt spricht, in der nur noch die Wertschöpfungsketten miteinander konkurrieren und vielen die Lebensgrundlagen entzogen werden, wird hierzu wohl die Voraussetzungen einer neuen Handlungsfreiheit schaffen müssen. Siehe hierzu auch https://digibge.wordpress.com/2018/09/10/70-jahre-grundgesetz/#more-676.

    An welchem Menschenbild und an welchem Gesellschaftsmodell orientieren sich eigentlich unsere Rechtsnormen? Wohlfahrtsstaat oder Wohlverhaltensstaat? Survival of the Fittest oder Solidarität? Humanität oder wirtschaftliche Verwertbarkeit zum Nutzen einiger weniger? Es ist die Gretchenfrage, die das Bundesverfassungsgericht beantworten muss.

    Es geht also nicht “nur” um Sanktionen im SGB II, sondern um das Grundverständnis unseres Staates, und wo wir uns als demokratische Zivilgesellschaft einordnen wollen.

    • Joachim Sombetzki Wed 30 Jan 2019 at 21:39 - Reply

      Es geht um ein Grundverständnis. Das sehe ich auch so. Die Frage ist nur, um welches?

      Das der “demokratischen Zivilgesellschaft”? – Wieso sollte das Demokratieprinzip hier relevant sein? Mitwirkung von Arbeitslosen z.B.im Beirat der Jobcenter?! – Gute Idee!- Ist aber nicht vorgesehen, und wird von den Gewerkschaften und Sozialverbänden nicht gewollt! Obwohl der DGB kein Mandat für Arbeitslose hat, maßt er sich an, deren legitime Vertretungsorganisation zu sein. –

      Sicherlich wird das Sozialstaatsprinzip hier gefragt sein!

      Was mir an der Diskussion auch seitens der Verbände deutlich fehlt, ist der nachdrückliche Hinweis auf die Grundlagen des “Arbeitsbündnis”. Diesen Aspekt vermisse ich sehr als Argument gegen Sanktionen. Obwohl er in Theorie und Praxis des Fallmanagements elementar und grundlegend ist!

      Ein ausgebildeter Fallmanager/Persönlicher Ansprechpartner sollte nach diesem Grundverständnis (s. Prof. Claus Reis u.a., Fallmanagement, 2004) ein vertrauensvolles Miteinander herstellen.

      Diese Grundkonzeption an der die BA u.a. mitgewirkt haben, ist in der Praxis der Jobcenter im Laufe der Jahre m.E. nie vorhanden gewesen.

      Dass “die Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit gelegt” wird, und damit “die Grundlage für ein tragfähiges Arbeitsbündnis im folgenden Prozessablauf ist”, das ist mir in der Praxis der Jobcenter in fünfzehn Jahren der Beratungstätigkeit niemals untergekommen.

      Prof. Reis stellt in seinem Arbeitsbuch klar, dass Sanktionen dieses Arbeitsbündnis als Damoklesschwert stets unterminieren.

      Mit dem drohendem Sanktionsregime wird ein wichtiger Aspekt dieses wesentlichen Grundsatzes der Selbstverantwortung nicht erfüllt: “Die Ratsuchenden sollen in größtmöglichem Umfang in die Lage versetzt werden, die Ergebnisse der Beratung selbstständig in ihren Alltag umzusetzen, ohne durch die Berater zu einem bestimmten Handeln genötigt oder gar gezwungen zu werden.”
      Quelle: Papier zum Grundkonzept des Arbeitskreis Fallmanagement, Prof. Reis und Vertreter der BA u.a., 2004, S. 7

  11. thorstenv Wed 6 Feb 2019 at 19:27 - Reply

    “Es ist nämlich erstaunlich: Bei einer Straftat wie einer mittelschweren Körperverletzung darf die fällige Geldstrafe das pfändungsfreie Einkommen, also das Existenzminium, nicht antasten. Wenn Sie aber zu spät zum Laubharken antreten oder Pflichtbewerbungen nicht erledigen, dann bekommen Sie Sanktionen aufgebrummt, die auch auf das Existenzminimum zugreifen.”
    Jürgen Borchert, VorsRi HessLSG a.D.

  12. Steve Jacobi Jacobi Sat 9 Mar 2019 at 17:00 - Reply

    Lebenshilfewerk Weimar und Apolda und Bewerbungsunterlagen von Geschäftsführerin Frau Rola Zimmer und Geschäftsführer Steve Jacobi

    • Steve 8 Jacobi Sat 9 Mar 2019 at 17:02 - Reply

      SFZ Chemnitz Bewerbungsunterlagen von Geschäftsführer Axel Brückhom und Geschäftsführer Steve Jacobi

  13. Marianne Emanuel Thu 4 Apr 2019 at 18:05 - Reply

    Nein es geht um Menschen würdiges handeln bei Sanktionen. Erstmal wie ich hier gelesen habe es werden keine Sanktionen zurückgezogen egal ob man Männchen macht oder nicht. Zweitens ist es so das aus vielen Gründen sanktioniert wird, was mit Hilfe oder Eingliederung im Arbeitsmakt nichts zu tun hat und ich kenne genug Leute aber das wird alles verschwiegen. Dazu kommt, daß bei Hartz4 viele Leute drin sind die wegen des Alters oder Krankheit und Einschränkungen nicht alles oder kaum was machen können. Sie werden trotzdem mit Behinderungsgrad irgendwo reingesteckt ob sie können oder nicht fragt keiner. Machen sie es nicht wird sanktioniert. Gesunde werden mit Kranke Gleichgestellt ohne Rücksicht. Da ja jemand der Dauereinschränkungen hat und 57 Jahre es schwierig hat auf den AM interessiert keinen. Jetzt kommt die Aussage kannst doch Erwerbsminderungsrente beantragen, denkt mal nicht das ihr das so einfach bekommt und überhaupt. Es ist bekannt, wenn man mal rum hört das die Rentenversicherungen einsparen wollen und das Geld auch sinnlos aus den Fenster schmeißen, wie andere. Da geht es zu mit Lügen und betrügen, wie bei den Jobcentern und anderen. Die Rentenversicherungen versuchen mit Begutachtern, die Laien sind und nicht Fachspezialiesiert alles so wenig, wie möglich Anträge für Rente zu bejahen und machen den Kranken das Leben schwer das sie ein langen Weg gehen müssen mit Klagen mehrmals und so weiter. Aber es hat nicht jeder die Kraft und landet bei Hartz4 mit Sanktionen und Druck Schikanen wieder. Ohne Rücksicht auf Krankheit und Einschränkungen wirst du irgendwo reingepresst, das die Statistik und der Boni stimmt egal ob er kann oder Schmerzen hat oder nicht. Macht er nicht mit verliert er durch Sanktionen alles. Das ist die Wahrheit und ich hatte es selber durch unschuldig mit Krankenschein unbefristet sanktioniert bis ich Wohnungslos wurde gehen musste und alles aufgeben mit Kind. Ich hatte Schock Traumata war 2 Monate im KH zur Aufarbeitung mit kaputte Hände und Bewegungsapperat und Behinderungsgrad bekam ich die Rente nicht und konnte die Handgelenke nicht bewegen weder drehen noch greifen fassen…. Damit sollte ich arbeiten und humpelnt mit Sprunggelenk und anderes. Endliche male musste ich zum med. Dienst vom Jobcenter immer das selbe abgeben obwohl sie alles schon hatten. Umgegangen ist man mit mir, wie Dreck, wie das Letzte. Dazu möchte ich sage das ich KH Aufenthalte Diagnostik von Spezialisten und Fachärzte alles abgegeben habe und sie auch schrieben <bereits Belastbarkeit und so weiter. Und die war nicht da und trotzdem keine Rente. Ha… Die stecken alle mit ihr Lug und Betrug zusammen egal wie es dir geht. Ich wünsche euch bleibt gesund denn das was ich mit den erlebt hatte war die Hölle und ich Kämpfe noch. Vergesst nicht jeder und jeden kann es treffen im Abgrund zu fallen unschuldig. Kämpft lieber vorher und nicht erst wenn es zu spät ist um Gerechtigkeit.
    Gott segne euch

  14. Marianne Emanuel Thu 4 Apr 2019 at 18:07 - Reply

    Ich habe da paar Schreibfehler. Der erste Satz das Wort soll Menschenwürdig heißen.

  15. Marianne Emanuel Thu 4 Apr 2019 at 18:09 - Reply

    Nein Menschenunwürdig soll es heißen. Oh mein Gott habe mit den tippen Probleme.

  16. Dennis Thu 2 May 2019 at 19:33 - Reply

    das witzigste und unverschämteste an der sache ist ja, dass das bundesverfassungsgericht vor jahren schon über sanktionen bei flüchtlingen geurteilt hat und da kam raus, man dürfe das existensminimum nicht sanktionieren, jeder eu bürger in deutschland hat das recht auf das existenzminimum was auch bei fehlverhalten nicht gekürzt werden darf, nur wir deutsche selber anscheinend nicht hahaha

  17. thorstenv Thu 4 Jul 2019 at 23:44 - Reply

    Mit “das tut der sich doch selbst an” kann man natürlich genausogut die Selbstschußanlagen und Toten an der früheren innerdeutschen Grenze rechtfertigen und genau das hat Margot Honecker ja auch getan „Die brauchten ja nicht über die Mauer zu klettern.“. https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/margot-honecker-die-frau-mit-dem-panzer/6464828.html Auch die Inquisition liebte bekanntlich die Sünder und haßte nur die Sünde. Sie wollte den Ketzern und Hexen nur ermöglichen zu Gott zurück zu finden. Das Orwellsche Ministerium für liebe. Erich Mielke, der alle Menschen liebt. Das sind ja nun nur ein paar der bekanntesten Beispiele. Alles, aber auch wirklich alles läßt sich durch solche Wortverdreherei rechtfertigen.

  18. Ingmar Vetter Sat 6 Jul 2019 at 17:15 - Reply

    Art. 1 Abs. 3 GG: Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

    Art. 19 Abs. 2 GG: In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.

    Art. 79 Abs. 3 GG: Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche (…) die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.

  19. Walter König Wed 7 Aug 2019 at 10:45 - Reply

    Für mich ist und bleibt vieles im “Sozialgesetzbuch” / ALG II verfassungswidrig.
    Das Existenzminimum wird unterschritten, auf Einzelbedarfe wird auch nach dem höchstrichterlichem Urteil 2010 kaum mehr Rücksicht genommen. Dazu kommt noch, daß diese in der Summe nicht den Basisregelsatz für eine Einzelperson übersteigen dürfen.
    Wer aber z.B. eine Holzschutzmittel- oder Schwermetallvergiftung hat, der wird gerade in den ersten Monaten enorme Kosten haben, die 400 Euro im Monat locker übersteigen werden.
    ( Habe selbst fast 5000 Euro für meine Behandlung zahlen müssen, als Selbständiger, der dummerweise in der GKV blieb, war mir dies noch möglich, aber wie soll dies ein Arbeitsloser oder Geringverdiener bezahlen ? )
    Von 2000-05 sind diverse Einzelleistungen aus der GKV gestrichen worden, die meisten übrigens parallel zum Start von Hartz IV am 1.1.05.
    Soviel zum Thema “Eigenverantwortung”.
    Ein Schelm wer dabei böses denkt.

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