Das Private ist politisch
Warum das Mietendeckelurteil eine gute Nachricht für ein progressives Privatrecht ist
Der Berliner Mietendeckel ist nichtig. Zuständig ist nicht das Land Berlin, sondern der Bund, heißt es aus Karlsruhe. So weit, so erwartbar. Trotzdem ist der erste Aufschrei innerhalb des progressiven Lagers groß. Tim Wihl spricht gar von einem formalistischen „Fehlurteil“, das im Kern mit einer „wiederbelebten, aber schon immer falschen public private distinction“ operiere. Das ist jedoch zu kurz gedacht. Mit dem Mietendeckelurteil hat das Bundesverfassungsgericht die Tür zu einem sozialen und nachhaltigen Privatrecht weiter aufgestoßen.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts lässt sich auf zweierlei Arten lesen. Zunächst als Absage, was die Länder alles nicht regeln können. Das ist die Kernaussage in Bezug auf den Mietendeckel. Berlin hat sich übernommen, der Mietendeckel ist nichtig. Umgekehrt enthält es aber auch eine Zusage, was der Bund alles regeln kann. Ganz konkret einen Mietendeckel, der dann auch in Hamburg oder München greifen würde. Aber hier bleibt das Urteil nicht stehen, und genau hier wird es besonders interessant. „Der Gesetzgeber“, heißt es in Randnummer 139 eher lapidar, „kann insbesondere mit der entsprechenden Ausgestaltung des bürgerlichen Rechts soziale und andere Ziele verfolgen“.
Das mag in den Ohren öffentlich-rechtlich geprägter Leser:innen unspektakulär klingen. Für privatrechtliche Ohren ist es eine kleine Sensation. Denn damit wiederbelebt das Urteil gerade nicht die „schon immer falsche public private distinction“. Sie wird mit einem Satz abgeräumt. Die public private distinction ist nämlich zuallererst eine inhaltliche Grenzziehung: Wer sich auf sie beruft, will damit regelmäßig soziale Ziele aus dem Privatrecht heraushalten. Privatrecht, so die These, ist ein unpolitischer „Freiheitstraum“, der die selbstbestimmten Individuen weitgehend gewähren lässt und nur rudimentär die Spielregeln definiert.
Diese These war in der Tat „schon immer falsch“. Aber das hat wenig daran geändert, dass sie im Privatrecht immer vertreten wurde und bis in die Gegenwart vertreten wird. Die wissenschaftliche Rezeption des Verbraucherschutzes oder des Antidiskriminierungsrechts sind klassische Beispiele: Da war von der „Tugendrepublik der neuen Jakobiner“ die Rede, einige riefen den „Anfang vom Ende der Privatautonomie“ aus, andere befürchteten eine „Erosion des Privatrechts“. Aber auch in der jüngeren Diskussion ist die public private distinction nicht tot zu kriegen. Beispiele sind Überlegungen für eine Klimahaftung von fossilen Energieerzeugern, Ressourcenschutz via Gewährleistungsrecht oder eine Lieferkettenverantwortlichkeit für im globalen Süden operierende Großunternehmen. Zwar leugnet kaum eine privatrechtliche Stimme, dass es sich dabei um wichtige Themen handelt, die nach rechtlichen Antworten verlangen. Aber dann doch bitte, wie es sich gehört, nämlich mit öffentlich-rechtlichen Mitteln wie sanktionsbewährten Ge- und Verboten oder Steuern. Privatrecht, heißt es dagegen, sei „kein adäquates Instrument“ zur Lösung des gesamtgesellschaftlichen Klimaproblems, manche sehen gar eine „Revolution“ aufziehen.
Dabei ist wichtig zu verstehen, dass jedenfalls die „radikale“ Lesart der public private distinction nicht nur ästhetische Einwände erhebt. Es geht also nicht nur darum, das System des „Freiheitsraums“ möglichst rein und kohärent zu halten. Es geht um ein überpositives, letztlich naturrechtliches Verständnis, wie Privatrecht sein darf. Der radikale Kern der public private distinction steht für ein feststehendes Sosein des Privatrechts: frei, unpolitisch – und vor allem immer und ewig. Und weil das so ist, muss sich dann auch der Gesetzgeber an dieses überzeitliche Sosein des Privatrechts halten. Tut er es nicht, lädt er das Privatrecht mit etwas auf, was nicht dorthin gehört, verfolgt „privatrechtsfremde“ Ziele, ja zettelt letztlich eine „Revolution“ an.
Diese und andere Einwände mag man als Schwanengesänge einer untergehenden Welt abtun – psychologisch mitunter interessant, positivrechtlich aber weitgehend belanglos. Wenn der Privatrechtsgesetzgeber einen Mietendeckel oder eine Lieferkettenhaftung einführen möchte, dann tut er das halt einfach. Das wird der Wirkungsmacht der public private distinction aber nicht gerecht. Sie ist immer noch eine Flagge, um die sich viele Privatrechtler:innen versammeln. Wer dazugehört, lässt sich die Familie eben ungern vorschreiben. My backyard, my rules!
Und damit wären wir wieder bei der Mietendeckel-Entscheidung. Natürlich wird sie nicht jahrzehntelang eingeübte Selbstverständnisse von heute auf morgen erschüttern. Aber sie kann bei gegenwärtigen und zukünftigen Debatten über vermeintlich „privatrechtsfremde“ Inhalte als wichtiger Stichwortgeber dienen. Einerseits im Gesetzgebungsprozess, weil die public private distinction von Gegnern hier gerne zur vermeintlich unüberwindbaren Grenzlinie hochgerüstet wird – siehe die seinerzeitige Debatte um das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz oder heute CSR. Vor allem aber in Gerichtsverfahren, wo das Argument häufig dazu genutzt wird, Gerichte von neuartigen Anspruchskonstruktionen abzuhalten. Ein Beispiel ist der aktuell vor dem OLG Hamm laufende Prozess des Peruaners Saúl Luciano Lliuya, der die RWE-AG auf Aufwendungsersatz mit der Begründung verklagt, wegen des von RWE mitverursachten Klimawandels sei sein Eigentum vor Überflutung bedroht. Auch hier wird von der Gegenseite die public private distinction als vermeintlich schlagendes Argument bemüht: Klimaschutz ist zwar wichtig und richtig, aber doch bitte durch öffentlich-rechtliche Mittel. Für gesellschaftspolitische Anliegen ist Privatrecht schlicht nicht gemacht. Auf nähere Gedanken zu Kausalitäts- oder Zurechnungsfragen kommt es daher sowieso nicht an, Ende der Debatte.
„Der Gesetzgeber kann insbesondere mit der entsprechenden Ausgestaltung des bürgerlichen Rechts soziale und andere Ziele verfolgen“. Das wussten zwar viele schon vorher, mitunter selbst die Anhänger:innen der public private distinction. Aber jetzt ist die These vom privatrechtlichen „Freiheitsraum“ von höchster Stelle als das identifiziert, was sie ist und immer war: ein Traumschloss. Wer – wie ich es tue – für ein Privatrecht eintritt, das neben dem klassischen Freiheitsversprechen auch für Klimaschutz oder verbesserte Lebensbedingungen im globalen Süden eintritt, hat nun mit Karlsruhe einen prominenten Fürsprecher. Was sich heute wie eine Niederlage anfühlt, könnte morgen eine wichtige Grundlage für ein soziales und nachhaltiges Privatrecht sein.
I couldn´t agree more, als Außenstehender, was das Selbstverständnis des Privatrechts angeht. Das ist auch richtig beobachtet, dass ich “public private distinction” im Blogartikel heute nicht inhaltlich verwende, sondern eher formal – das Gericht tut das ja implizit in weiten Teilen des Beschlusses auch. Aber die schöne, destabilisierende Bemerkung zum Privatrecht verdient die Hervorhebung, die der Artikel von Schirmer ihr zukommen lässt. Unsere Perspektiven ergänzen sich ganz gut – die hiesige weist gewiss konstruktiver in die Zukunft.
Die Dramatik an der fragwürdigen Zuweisung eines Regelungsbereiches in das Zivilrecht liegt darin, dass 16 Bundesländern die Regelungskompetenz genommen worden ist kurzerhand und dem Bund zugesprochen. Das ist eine föderale Festlegung und es erscheint deshalb etwas neben der Sache, nun den ‘Gewinn’ für das Zivilrecht als Materie gegen das Öffentliche Recht anzuführen als abstrakt bereichernd für ein potenziell progressiveres Privatrecht.
Im Beschluss ist daneben ausdrücklich offengehalten worden, ob der Mietendeckel als materiell verfassungsgemäß einzustufen ist. Es enthielt also keine “Zusage”, wie es heißt. Vielleicht der Kompromis zwischen den Senaten? Wenn ihr uns in Eurer Zuständigkeit die Voraussetzung nehmt materiell zu entscheiden, dann bleibt auch nur bei der formellen Prüfung und nehmt uns nicht auch noch unseren materiellen BEreich weg?
Ob das Gerich Türen zu einem sozialeren Privatrecht weiter öffnen wollte als zuvor, darf deshalb auch bezweifelt werden.
Kompetenziell weiß und wusste es, dass es über die inhaltlichen Fragen des “sozialen Mietrechts” als 2. Senat ohnehin nicht entscheiden würde und es auch in anderen Zivilrechtsbereichen in aller Regel nicht um Kompetenzfragen wird gehen, sondern um grundrechtliche.
Wann ist denn faktisch auch vorgekommen, dass soziale oder ausgleichende Regeln zu einer zivilrechtlichen Kompetenzfrage wurden oder weitergehenden Regelungen entgegengehalten worden wären?
Glückwunsch zu diesem scharfsinnigen Beitrag. Dass die “Tür zu einem sozialen und nachhaltigen Privatrecht” erst jetzt aufgestoßen worden wäre und aufgestoßen werden musste (so sinngemäß der erste Absatz), scheint mir dann aber doch ein bisschen zu viel Getöse.
Gibt es in der heutigen Zivilrechtswissenschaft wirklich noch viele Vertreter:innen der Vorstellung eines apolitischen, dem demokratischen Gesetzgeber entzogenen Privatrechts? Oder handelt es sich nicht vielleicht um ein Zerrbild – das dem Zweck dient, immer neue Aufsätze zu rechtfertigen, in denen diese Vorstellung mit großer Geste als naiv oder gefährlich entlarvt wird?
Belege dafür, dass die besagte Vorstellung in der Zivilrechtswissenschaft noch sehr lebendig ist, bleibt der Blog-Post m.E. schuldig. Die zitierten wissenschaftlichen Aufsätze stammen, wohl nicht zufällig, allesamt von Wissenschaftler:innen, die – nicht erst seit kurzem – emeritiert sind. (Den NJW-Artikel zur Climate-Change-Litigation zähle ich nicht dazu, da es sich um einen Praktiker-Aufsatz handelt; er scheint im Übrigen weniger mit der Public-/Private-Distinction zu argumentieren als vielmehr mit der Aufgabenteilung zwischen Legislative und Judikative). Die AGG-Debatte liegt nun auch schon 15 Jahre zurück. Und dass in der Debatte um Climate-Change-Litigation die public-private-distinction als zentrales, schlagendes Argument bemüht würde, geht aus den zitierten Quellen für mich nicht klar hervor: In den zitierten Beiträgen geht es, anders als der Blog-Post nahelegt, ziemlich ausführlich um Zurechnungsfragen – also um Fragen, die sich nur stellen, wenn man sich innerhalb des Privatrechts bewegt (und nicht etwa von vornherein seine Unzuständigkeit behauptet).
Um nicht missverstanden zu werden: Ich teile die Überzeugung, dass sich die die Privatrechtswissenschaft zu wenig mit Verteilungs- und Steuerungsfragen beschäftigt. Ich bezweifle nur, dass dafür die Überzeugung ursächlich ist, das Privatrecht sei seinem Wesen nach apolitisch. (Könnte nicht auch schlichtes Desinteresse eine Ursache sein? Oder die politische Überzeugung, dass das geltende Privatrecht den eigenen politischen Präferenzen bereits entspricht?). Deshalb bin ich auch nicht davon überzeugt, dass Wissenschaftler:innen, die für ein soziales und nachhaltiges Privatrecht eintreten, Karlsruhe als “prominenten Fürsprecher” brauchen.
Ich habe große Sympathie mit dem Projekt, glaube aber nicht, dass dieser eine Satz großes progressives Potential enthält.
1) Die Public/Private distinction lässt sich mE nur schwierig aus den USA (wo sie formuliert wurde) nach Deutschland übertragen: dort bedeutet sie den Gegensatz zwischen öffentlicher und privater Regelung, hier den Unterschied zwischen Bereichen. (Näher hier S. 849f https://scholarship.law.duke.edu/faculty_scholarship/1612/) Mietpreisregelung ist nach US-amerikanischem Verständnis unzweifelhaft public, nach deutschem Verständnis nicht unbedingt. Überspitzt kann man vielleicht sagen: eine inhaltliche Grenzziehung, von der Schirmer spricht, ist die public/private distinction ist nur im US-amerikanischen Recht; im deutschen Privatrecht ist sie eher eine Bereichsabgrenzung. Deshalb ist auch nur die US-amerikanische Trennung praktisch tot (Duncan Kennedy 1982 https://scholarship.law.upenn.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=4675&context=penn_law_review), die deutsche aber nicht.
2) Hinzu kommt, dass das BVerfG sorgfältig zwischen Bürgerlichem Recht iSv Art. 74 Nr. 1 GG einerseits und Privatrecht andererseits trennt; Rn 111f. Ohnehin geht es hier ja um formale Regelungskompetenzen und nicht inhaltliche Regelungsfreiheit: es geht lediglich darum, wer im Bereich regeln darf, aber nicht wie. Die Frage des BVerfG war ja nicht: darf der Gesetzgeber in einen geschlossenen Vertrag eingreifen, sondern vielmehr: darf der Landesgesetzgeber in ein geschlossenes (Bundes-)Rechtsgebiet eingreifen. Dass das deutsche Privatrecht (zB Mietrecht, Verbraucherschutzrecht) soziale Ziele verfolgen darf, ist mE nichts Neues (auch die lange Gesetzgebungsgeschichte in der Entscheidung zeigt das ja.). Gemeinwohl und Privatrecht war das Thema der Zivilrechtslehrerverinigung bei ihrer Sitzung 2019, siehe AcP 220(2020) 453-859; das Mietrecht war eines der Themen.
3) Freilich – da hat Schirmer natürlich Recht – sieht die deutsche (und österreichische) Zivilrechtswissenschaft Eingriffe in die Privatautonomie mit Misstrauen, das zeigte sich nicht nur im Referat sondern auch in der Diskussion (ebda 693ff). Diese Ablehnung ist indes mE keine der Rechtsbereiche (Privatrecht/öffentliches Recht) sondern der Regelungsmethoden (Privatautonomie/Eingriff) bzw. der angeblich betroffenen Rechtsverhältnisse (privat/horizontal im Privatrecht, vertikal im öffentlichen Recht). Der Gegensatz ist nicht naturrechtlich (sondern allenfalls krude ökonomisch, beruhend auf einer eher simplen apriorischen ökonomischen Analyse), auch nicht bloß ästhetisch, auch nicht historisch (die lange Rechtsgeschichte im Urteil soll ja gerade aufzeigen, wie große Schwankungen mit dem Bereich Bürgerliches Recht vereinbar sind) wohl aber, das sehe ich auch so, psychologisch, und natürlich ideologisch.
4) Ich denke im Ergebnis wie Tim Wihl (der sich nicht als “Außenstehenden” kleinreden soll: er sass ja vor Jahren in unserer Sommerakademie zum Thema Private Law Beyond the State), dass hier eine formale Distinktion aufrechterhalten wird. Die Trennung zwischen privatem und öffentlichem Wohnungssektor ist ohne ideologische Wertung nicht zu machen. Die Schwierigkeit der Abgrenzung zwischen “Bürgerlichem Recht” (Art. 74 Nr. 1 GG) und “Wohnungswesen”) (der alte Art. 74 Nr. 18 GG, jetzt ausschließliche Länderkompetenz) liegt für mich (als wirklich Außenstehenden) darin, dass hier ein formaler Begriff (Bürgerliches Recht) von einem funktionalen Begriff (Wohnungswesen) abgegrenzt werden muss, was nicht funktioniert für Maßnahmen, die formal dem einen und gleichzeitig funktional dem anderen Bereich zugehören. Hier entscheidet das Gericht einmal mit Vorrang von Form vor Funktion, zum anderen mit Anciennität (Staatspraxis); beides ist nicht zufällig konservativ und antiregulatorisch.
5) Aus diesem letzten Grund habe ich auch weit größere Zweifel als Schirmer für ein progressives Potential der Entscheidung. Die Entscheidung selbst ist im Ergebnis antiregulatorisch, auch wenn das formell auf Kompetenzbasis erfolgt. Ob der Bund aufgrund Art. 74 Nr. 1 GG eine ähnlich weite Regelung treffen dürfte, ist, was den Inhalt angeht, noch nicht gesagt. Die Zuordnung solcher Maßnahmen zum Bereich Bürgerliches Recht, das indes seinerseits historisch definiert wird, lässt das mE eher bezweifeln.
6) Inhaltlich habe ich übrigens Zweifel, ob die Berliner Maßnahmen langfristig wirksam sein würden. Das Problem der Entscheidung liegt für mich nicht darin, dass es eindeutig richtige Maßnahmen verhindert, sondern darin, dass es die Erfahrung unmöglich macht, ob diese Maßnahmen wirksam sein würden. Das bundesweite Problem des Wohnungsmangels bedarf des (föderalen) Experiments. Daher läge mE die Lösung auch nicht in einer bundesweiten Mietdeckelung o.ä., sondern in einer ausdrücklichen bundesrechtlichen Öffnung des BGB-Mietrechts für Einzelregelungen auf Länderebene.
Ihr letzter Absatz ist ganz interessant. Wie würden sie denn Kriterien für das Gelingen dieses Experiments formulieren und was gilt es zu belegen ?
Super Input, ich versuche mich mal an einer gesammelten Antwort:
Tim Wihl: Ja, sehe mich auch als Ergänzung :). Gleicher Ausgangsbefund, nur positiver Spin.
Moheb S: Natürlich ergibt sich die Dramatik der Entscheidung nicht nur aus dem „Gewinn“ für das Privatrecht. Das sage ich auch nicht (oder wollte es zumindest nicht sagen). Dass ich das Urteil mit (m)einer privatrechtlichen Brille lese und so Fragen der föderalen Ordnung etc. ausblende ist halt schlicht Ausdruck meines beschränkten Erkenntnisinteresses. In keinem Fall sage ich, dass ein bundeseinheitlicher Mietendeckel nach dem Urteil verfassungsgemäß wäre. Aber es enthält mE schon die „Zusage“, dass der Bund das jetzt regeln könnte, also zuständig ist – sonst würde ja auch die Aussage des BVerfG keinen Sinn machen, Gesetzgebungskompetenzen kommen nur im entweder/oder (Bund/Land).
Cresswell Cresswell: Es stimmt sicherlich, dass die public private distinction im Privatrecht auf dem Rückzug ist. Dazu tragen mE aber auch die „immer neuen Aufsätze“ bei; Gerhard Wagner widmet dem etwa in „Zivilrechtswissenschaft heute“ (2018) mehr als 100 Seiten, Alexander Hellgardt macht es in seiner Habilitation (2016) ähnlich. Trotzdem (oder – fair point – vllt gerade deshalb?) findet sich die public private distinction aber weiterhin auch im deutschen Diskurs. Prominente Beispiele (so ich sie denn richtig lese) sind Thomas Lobinger (AcP 2016, der das passenderweise gerade am AGG exerxiert!) und Florian Rödls Habilitation (2015); letzterer hat so auch für den Mietendeckel argumentiert, eben weil er prinzipiell öffentliches-Recht sein „muss“, vgl. https://staging.verfassungsblog.de/warum-dem-land-berlin-die-gesetzgebungskompetenz-fuer-den-mietendeckel-zusteht/). Insofern braucht es natürlich keine „prominenten Fürsprecher“, aber ein bisschen autorativer Rückenwind schadet – gerade im jurstischen Diskurs – sicherlich nicht. Und zur Argumentation in Klimaklagen: Es stimmt, dass auf Kausalitäts- und Zurechnungsfragen eingegangen wird, aber das ist der prozessualen Situation geschuldet (da wird vereinfacht gesagt (auch) durch Dritte „bestritten“). Ich meinte „Ende der Debatte“ eher so: Letztlich kommt es auf das alles sowieso nicht an, denn Privatrecht ist sowieso nicht dafür gemacht (das ist zB das Fazit bei Pöttker, Klimahaftungsrecht (2014).
Ralf Michaels:
(1+2) Ich sehe das schon so, dass es auch im deutschen Diskurs um eine inhaltliche Grenzziehung geht. Wiederum sind Lobinger und Rödl dafür prominente Bsp., denn ich lese sie überspitzt so: Ok, der Privatrechtsgesetzgeber mag das so regeln, aber es sollte angesichts des Sosein des Privatrechts eigentlich „richtig“ anders sein. Lobinger scheint mE sogar eine Kontrollkompetenz der Privatrechtswissenschaft für insoweit systemwidrigen „Wildwuchs“ vorzuschweben (so verstehe ich jedenfalls AcP aaO). Der Großteil der heutigen public private distinction-Stimmen – da stimme ich Ihnen zu – argumentiert aus funktionaler Richtung (instrumentelle Bereichsabgrenzung), und hier in der Tat dann (ob ausgesprochen oder unausgesprochen) mit dem ÖAR-Modell ala Kaplow/Shavell. Allerdings ist das dann – jedenfalls im weit, mitunter überstrapazierten Sinn – auch „naturrechtlich“, nämlich insoweit als dass es überpositiv ein bestimmtes Ideal (Effizienz/ökonomische Vernunft) zum Maßstab erhebt, welcher Regulierungsinhalt „richtigerweise“ in welches Kästchen gehört (Privatrecht/öff-Recht bzw. contract liability/regulation). Aber vielleicht sind wir uns da ja ohnehin einig (Stichwort: Psychologie/Ideologie).
(4,5,6) Die formale/funktional Diskrepanz ist ein super interessanter Gedanke, und es würde in der Tat erheblich meine hoffnungsvolle Interpretation des Urteil schmälern. Gleiches gilt für den Gedanken einer ausgelassenen Chance für eine Probe aufs Exempel. Ich sprach gestern passenderweise mit einem befreundeten Ökonom, der genau das am Urteil beklagt hat (womit wir wieder beim Erkenntnisinteresse wären…:-)
Danke für die Antwort, ganz kurz:
– Flume/Picker-Tradition (Lobinger) steht sicher noch am ehesten für Autonomie des Privatrechts mit Eigenrationalität, ist aber doch nicht völlig repräsentativ oder?
– Weinrib-Tradition (Rödl) begründet Autonomie und Eigenrationalität eher strukturell und daher weniger einschneidend; Rödl selbst hat die Frage der Vereinbarkeit apolitischen Privatrechts mit Eingriffen versucht zu beantworten etwa in Grünberg/Jansen (Hg.), Privatrechtstheorie heute (2017) 178, 185ff (mich nicht ganz überzeugend)
– Zugegeben aber: Verweise auf Eigenrationalität, Parteiautonomie, römischrechtliche Tradition, quasinaturrechtliche Austauschgerechtigkeit, und ökonomische Effizienz, sind sämtlich (deutsche) Strategien der Entpolitisierung des Privatrechts. Insofern ist das Versprechen des BVerfG, der Gesetzgeber könne auch soziale Ziele verfolgen, ein wenig vergiftet, wenn diese sozialen Ziele ihrerseits, wie in der Privatrechtswissenschaft meist, aus solchen nichtpolitischen Wertsystemen abgeleitet werden (müssen).
– Das lokale Experimentieren schließlich ist ja eigentlich ein Lieblingsthema nicht nur des Föderalismus (Brandeis: laboratories of democracy) sondern auch der ökonomischen Analyse (Wettbewerb der Rechtsordnungen); gerade die konservativen Antizentralisten und die liberalen Marktbefürworter sollten also für Berliner Autonomie sein, wenn sie konsistent argumentierten…
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gerade die konservativen Antizentralisten und die liberalen Marktbefürworter sollten also für Berliner Autonomie sein, wenn sie konsistent argumentierten…
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Das sind sie bestimmt auch, aber dann würden Sie wahrscheinlich auch darauf bestehen, dass sich alle anderen auf diese “Berliner Autonomie” ganz autonom einstellen dürfen. Das fängt dann schonmal mit der Frage an, warum die Regierung eines Stadtstaates den Mietmarkt für eine Bundeshauptstadt regulieren dürfen soll.
Experimente und Meinungen zu Preisregulierung gibt es übrigens noch und nöcher. Hier mal so eine ganz plakative Tabelle:
https://www.igmchicago.org/surveys/rent-control/
Ein Novum vermag ich der Aussage des BVerfG, der Zivilgesetzgeber könne im Mietrecht auch soziale Zwecke verfolgen, nicht zu entnehmen. Die soziale Aufgabe des Privatrechts ist doch seit langer Zeit DAS Thema der Privatrechtswissenschaft (vgl. zum 19. Jahrhundert für viele die Habilitationsschrift von Tilman Repgen) – insbesondere im Mietrecht. Unter der Herrschaft des Grundgesetzes muss diese Diskussion in der Tat in verfassungsrechtlichen Bahnen verlaufen. Dies bedeutet, dass der Grundsatz der Sozialpflichtigkeit des Eigentums eine Verfolgung sozialer Ziele sowohl durch privates Mietrecht als auch durch öffentliches Wohnungsrecht gebietet. Die Eigentumsfreiheit unterscheidet in ihrer Normprägung gerade nicht zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht. Rückschlüsse von der Eigentumsdogmatik auf die Auslegung des Gleichheitssatzes, etwa im Zusammenhang des AGG, verbieten sich. Denn der – gerade nicht normgeprägte – Gleichheitssatz bindet im allgemeinen nur den Staat oder staatlich beherrschte Unternehmen. Will man der Judikatur des BVerfG neue Impulse für eine Wiederbelebung der sozialen Aufgabe des Privatrechts in Gleichbehandlungsfragen entnehmen, lässt sich dies nur anhand der Stadionentscheidung aus dem Jahr 2018 leisten (BVerfGE 148, 267 ff.). Auf welche Weise die verfassungsrechtlich normierte Sozialpflichtigkeit des Eigentums im Preisrecht der Miete konkretisiert wird, ist allein Sache des zuständigen Gesetzgebers.
Vielen Dank für den Beitrag und den Versuch, der Entscheidung progressives Potential abzugewinnen. Leider sehe ich es wie Prof. Michaels, dass dieses gering ist. Dass die Entscheidung die (privatrechts)theoretische Diskussion um die Abgrenzung von Öffentlichem Recht und Privatrecht neu befruchten kann, bezweifle ich. Das, was der Zweite Senat da in dem von Ihnen zitierten Satz gesagt hat, ist nicht neu (1.), die hieraus in der aktuellen Entscheidung gezogenen Konsequenzen für die föderale Ordnung sind nun aber alles andere als progressiv (2.)
Zu 1.: Wie Prof. Michaels auch angedeutet hat, ist es keinesfalls das erste Mal, dass das BVerfG betont, dass das bürgerliche Recht auch soziale Zwecke verfolgen kann (vgl. insb. BVerfG, Beschluss vom 29. Juni 2016 – 1 BvR 1015/15 – Bestellerprinzip, Rn. 55). Bislang war damit allerdings nur gesagt, dass eine Regelung nicht die Qualität als bürgerlich-rechtliche Regelung (im kompetenzrechtlichen Sinne) einbüßt, wenn sie (auch) sozialstaatliche Zwecke verfolgt. Keine andere Vorstellung liegt übrigens auch der Mietpreisbremse-Entscheidung des Ersten Senats zugrunde, der ja auch keine Veranlassung sah, an der bürgerlich-rechtlichen Qualität der Vorschriften zu zweifeln. Das ist natürlich insoweit „progressiver“ als manche Schulen klassisch-liberalen Privatrechtsdenkens, als dass das BVerfG nicht so schnell auf die Idee kommt, “soziale” Gesetzgebung im Bereich des bürgerlichen Rechts wegen fehlender Kompetenz zu beanstanden (Vertreter der Picker-Schule, also Lobinger et al würden auf diese Idee vielleicht kommen, hätten sie darüber zu befinden).
Zu 2.: Der Zweite Senat scheint das nun aber in der Mietendeckel-Entscheidung zum Ausgangspunkt zu nehmen, um mittels des Topos „soziales bürgerliches Recht“ dem Bund eine Kompetenz zuzuweisen, die funktional (insoweit stimme ich Herrn Michaels abermals zu), also als eigentlich speziellere Sachmaterie, ausdrücklich den Ländern zugewiesen ist. Das hat überhaupt kein progressives Potential, sondern ist im Gegenteil eminent anti-föderal und konservativ. Das bedeutet nämlich in der Konsequenz: Der Bund kann Sachprobleme mit den Mitteln des bürgerlichen Rechts angehen, die entsprechende Gesetzgebung als soziales Privatrecht ausweisen und damit sozialere Gesetzgebung der Länder in ihren Zuständigkeitsbereichen sperren. Wie Prof. Anna Katharina Mangold treffend auf twitter geschrieben hat: „Ergebnis jedenfalls, das soziale Mietrecht ist vollständig im BGB geregelt. Mehr sozial gibt’s nicht. Nur war im BGB steht. Denn da steht’s. Was sozial ist im Mietrecht. Nicht mehr. Auf keinen Fall mehr.“