Das RECHT geht vom VOLK aus
Ein Wahlplakat des Bundespräsidentschaftskandidaten der FPÖ, Norbert Hofer, ziert ein Zitat aus dem ersten Artikel der österreichischen Bundesverfassung:[1] „Das Recht geht vom Volk aus“. Das „Recht“ und das „Volk“ sind in Großbuchstaben gesetzt. Bums bums; das prägt sich ein.
Das Zitat des Verfassungstexts wird durch folgenden Satz ergänzt: „Ein neues Amtsverständnis“.
Das Mandat
Aus Alt mach Neu. Seit 1929 enthält die österreichische Bundesverfassung ein Quäntchen an autoritärer Sprengkraft. Der Präsident könnte die jetzige Regierung entlassen, einen neuen Bundeskanzler ernennen und von diesem jene neue Regierung vorgeschlagen erhalten, die ihm dann im Gegenzug wieder vorschlägt, den Nationalrat aufzulösen: Neuwahlen, wann immer der Präsident es will. Außerdem ist der Bundespräsident der Oberbefehlshaber des Bundesheeres. Was das genau bedeutet, weiß zwar niemand so genau, aber die Ungewissheit eröffnet einen Handlungsspielraum. Würde der Präsident es übernehmen, die Grenzen zu sichern, wenn niemand anderer den Mumm dazu hätte? Vielleicht.
Alles in allem umreißt der Wortlaut der Verfassung die Konturen des recht starken Mannes. Der Kandidat Hofer gibt zu erkennen, dass er bereit wäre, stark, wenn auch nicht unbesonnen, zu agieren.
Hofer verleiht damit seiner Wahl die Bedeutung eines Plebiszits. Es geht ihm (auch) darum, jene politische Legitimität zu erhalten, die es ihm ermöglicht, im Bedarfsfall die reale Verfassung mit Treue zu ihrem Buchstaben auszuhebeln.
Bis heute befindet sich der Präsident real bloß in der Rolle eines Staatsnotars, der seelsorgliche Nebenfunktionen ausübt (Reden, Mahnen, Ermutigen). Hofer signalisiert seinen Wählern, dass sie mit seiner Wahl die Reformation der Republik im Geist von 1929 einleiten und damit der proporzgeprägten Nachkriegsordnung den Todesstoß versetzen könnten.
Das Recht geht vom VOLK aus. Ihr habt die Wahl, Freunde!
Waldheim
„Das Recht geht vom Volk aus“. Das wirkt auch wie eine rhetorische Umbesetzung eines Slogans aus dem Jahre 1986. Er lautete: „Wir Österreicher wählen, wen wir wollen“.
Dieser Slogan entstammt der Waldheim-Wahlkampagne und war eine Antwort auf vom World Jewish Congress aufgebrachte Bedenken gegen Waldheim wegen dessen Verwicklungen in den Nationalsozialismus.
Die Waldheim Wahl markiert eine Zäsur in der österreichischen Nachkriegsgeschichte. Damals ist der „katholische Nationalsozialismus“ (© Thomas Bernhard) wieder erhobenen Hauptes aus seinen Löchern herausgekommen. Seitdem hat er keine Ruhe mehr gegeben.
Die Desavouierung Waldheims war das Trauma des österreichischen Bürgertums. Nachdem in der zweiten Republik die Präsidentschaft immer an einen SPÖ Kandidaten gegangen war, war 1986 endlich ein ÖVP-Kandidat im Rennen, der als ehemaliger UN-Generalsekretär berühmter und bewährter nicht hätte sein können. Plakatiert wurde „Ein Österreicher, dem die Welt vertraut“, aber in den Augen des Bürgertums haben die New Yorker Juden den Spaß verdorben. Das markierte den Moment, an dem sich der katholische Nationalsozialismus neu formierte und renitent seine eigene moralische Hässlichkeit zu bejahen begann: „Uns ist doch egal, was die Welt denkt. Mag sie Waldheim nicht vertrauen. Sollen uns doch alle für Nazis halten. Wir Österreicher wählen, wen wir wollen“.
Österreich über alles, wenn es nur will. Das RECHT geht vom Volk aus, nam lex est quod populus iussit.
Und was das Volk nicht will, ist nur zum Schein Recht. Sollte uns Österreichern heute jemand Hindernisse in den Weg legen wollen, z.B. die EU, dann werden wir zur Volksabstimmung greifen.
Kelsen
Dem Eingeweihten signalisiert der Satz aus der Bundesverfassung aber auch Subtileres.
Niemand geringerer als Hans Kelsen war der Redaktor der österreichischen Bundesverfassung. Er dürfte darauf hingewirkt haben, dass die obligate „Gewaltrhetorik“ – also die Rede von den Staatsgewalten oder von der Macht, die vom Volk ausgeht – aus der Verfassung entfernt wird. Kelsen erläutert dies in einem gemeinschaftlichen Kommentar zur Bundesverfassung wie folgt:[2]
Für die Sphäre des Rechts und der juristischen Betrachtung kommen eben nicht Gewalten, sondern nur Rechtsnormen, die Kompetenzen statuieren, in Betracht.
Das ist eine rechtstheoretische Spitzfindigkeit. Die normative Maßgeblichkeit der Gewalten wird durch das Recht konstituiert. Die Gewalt kann sich nicht von sich aus ins Recht setzen.
Kelsen wäre nicht Kelsen, wenn zum Tiefschürfen nicht sogleich eine leicht zynische Ernüchterung hinzuträte:[3]
Art 1. hat keinen relevanten Rechtsinhalt. Ob die Verfassung tatsächlich eine demokratische Republik darstellt, ergibt sich aus ihren organisationstechnischen, materiellrechtlichen Bestimmungen.
Hans Kelsen at his best. Der Satz, dass das Recht vom Volk ausgeht, ist ein Nichtssager.
Gleichwohl hat der Kommentar auch über das „Volk“ etwas zu sagen, und zwar angelegentlich der Diskussion der Bestimmung über den Staatsnamen. Aufgrund des Staatsvertrags von St. Germain musste der ursprüngliche Name der Republik von „Deutschösterreich“ auf „Österreich“ umgeändert werden. Abgesehen davon, dass damit der Name des alten Kaisertums fortgeführt werden musste, wurde es „uns“ verunmöglicht, gegenüber dem ehemaligen Österreich „unsere Struktur als einheitlicher Nationalstaat“ und „unsere Zugehörigkeit zum deutschen Volke“ zum Ausdruck zu bringen. Der Name „Österreich“ sei oktroyiert worden, und der Kommentar Kelsens beeilt sich hinzuzufügen, das dieses Oktroi nicht impliziere, dass mit dem veränderten Namen „die in der zuerst gewählten Staatsbezeichnung enthaltenen Auffassungen aufgegeben werden.“[4]
Der Kommentar gibt somit zu verstehen, dass nach Artikel 1 der Bundesverfassung das österreichische Recht vom in Österreich lebenden deutschen Volk ausgeht.
Sollte Hofer das gelesen haben?
Post-nationaler Liberalismus
In dem Kommentar zur Bundesverfassung artikuliert sich an diesem Punkt nicht Kelsensche Nüchternheit, sondern die alte Welt des liberalen Staatsrechts. Das Volk geht der Verfassung voraus. Was das Volk zum Volk macht, ist die Nation. Die Nation ist stets etwas Partikulares. Sie grenzt aus, um jene einschließen zu können, die einen gemeinsamen Erinnerungsraum teilen.
Uns post-nationalen Liberalen schmeckt diese Weltsicht nicht mehr. Pfui, pfui, pfui. Wir lieben die Inklusion. Wie Habermas schätzen wir die frei flottierende, weder ethnisch noch historisch festgelegte Volkssouveränität, die sich zu keinem Kollektivsubjekt zusammenzieht. Wir sehen sie in anarchischen Kommunikationsströmen realisiert, die sich irgendwann und irgendwie in Recht übersetzen. Auch für uns geht das Recht vom Volk aus, aber das moralisch bequeme an unserer Weltsicht ist, dass sich niemand ausgeschlossen fühlen muss. Aber nein, das Volk, bitteschön, das besteht doch aus Kommunikationen, die sich einer Zusammenfassung entziehen. Im demokratischen Machtkreislauf gebiert sich das Recht auf wundersame Weise aus der kommunikativen Macht.
Unser Glaube an die kommunikativ verzauberte Volkssouveränität ist aber nur die transzendente Seite unseres post-nationalen Bewusstseins. So sehen wir die politische Welt, wenn wir aus ihr heraustreten und sie von außen in den Blick nehmen. Das entstehende wohlgefällige Bild ist hart an der Grenze zum Kitsch. Sobald wir aber in der Immanenz der politischen Öffentlichkeit stecken, verwandelt sich unser nettes post-nationales Bewusstsein in einen moralischen Quälgeist.
Sollte der Hofer-Slogan gar eine Konsequenz dieses unseres doppelten Bewusstseins sein?
Manche von uns post-nationalen Liberalen sind befangen in einer an Lenin gemahnenden Geschichtsteleologie. Wir neigen dazu, angesichts einer globalen Reservearmee von Humanressourcen und Hilfsbedürftigen die Migranten als ein Ersatzproletariat zu betrachten. Migranten gelten uns als die letzte Klasse, die noch über Fukuyamas Ende der Geschichte hinauszugehen vermag. Diese Klasse garantiert jene Vermischung der Herkünfte, die uns den transnationalen Bürgerstatus notwendig macht und uns somit von der Geißel des Nationalen befreit. Deswegen sind wir auch eigentümlich blind für unseren Glauben, dass sozialer Fortschritt mit Menschen gemacht werden könne, die in Kastengesellschaften sozialisiert worden sind, traditionelle Rollenbilder internalisiert haben oder seltsamen Religionen anhängen. Wenn wir diesbezüglich Einwände hören, meinen wir, es gebiete die moralische Pflicht, die vernommene Skepsis als Ausfluss von Rassismus und Xenophobie zu brandmarken. Pfui, pfui, pfui. Aber das ändert nichts daran, dass die neue letzte Klasse privatim lebt und gewiss nicht Träger eines Emanzipationsprozesses ist. Sie überwindet bloß Grenzen. Das ist alles.
Dazu kommt unser ausgeprägter Hang zum Moralismus. In dem darin beschlossenen Niveau an soziologischer Subtilität gleichen wir dem Editorial Board der New York Times. Das Böse kommt in die Welt durch die moralischen Fehler der Menschen. Wir meinen, dass die Köpfe der Menschen, die den Populisten nachlaufen, mit Vorurteilen überlaufen. Wir empören uns über ihre bornierte Haltung. Wir stellen Schutzbefohlene auf die Bühne und erwarten von Zuschauern Empathie und Betroffenheit. Mit den Gemeinen sprechen wir nicht. Wir sprechen bloß über sie und im Zweifel klagen wir sie an. Verstehensversuche unternehmen wir nicht, weil wir so viel Gefallen daran finden, uns angewidert von ihnen abzuwenden. Wir dämonisieren diejenigen, die unter dem Druck anonymer Herrschaft zur „Personalisierung“ (Adorno) greifen und ihr Unglück den Moslems, den Fremden oder den Flüchtlingen zurechnen. Wir verachten sie, weil sie die Impertinenz ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit nicht einsehen. Wir erwarten von ihnen, dass sie uns gehorchen, auch wenn sie den Grund dafür nicht einsehen, ist doch der Gehorsam uns gegenüber das probate Mittel, ihre Uneinsichtigkeit zu überwinden.
Es steht freilich zu befürchten, dass, wer unserem Gehabe ausgesetzt ist, irgendwann Gefallen daran findet, dass das Recht doch vom Volk ausgeht. Denn wir post-national Liberale treten zwar dafür ein, die geschlossenen politischen Einheiten zu überwinden, aber die ungleich verteilten Eigentumsrechte lassen wir unangetastet. Eigentumsrecht ist Menschenrecht. Die Demokratie gilt uns hingegen – nicht zuletzt wegen der populistischen Gefahr – als eine Möglichkeit der „good governance“ unter anderen. Man muss einen Einzelfall sehen, ob sie wirklich passt. Wir dulden es, dass die nationalen Demokratien zu Implementierungsinstanzen werden, die ihre Befehle von supranationalen Behörden empfangen. Wir verstehen Gesellschaft nicht mehr als ein gemeinsames Projekt, sondern als Nebenprodukt von horizontalen Transaktionen. Wir leben in einer Welt, die so komplex ist, dass sich niemand aufzubegehren traut, wenn unfassbare Mengen an Geld zur Sanierung von Banken draufgehen. Wir nicken artig und wiederholen: „Yes, too big to fail“. Wir wollen ja als vernünftig gelten.
Es darf uns nicht wundern, wenn angesichts dieses von uns miterzeugten gigantischen Ohnmachtsyndroms diejenigen, die keine andere Macht haben als ihre Anzahl, einem Kerl nachlaufen, der auf seine Fahnen schreibt, dass das RECHT vom VOLK ausgeht.
Wir haben nichts getan, um seinen Aufstieg zu verhindern.
[1] Art. 1 lautet wie folgt: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“
[2] Kelsen/Fröhlich/Merkl: Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 (1922) 65.
[3] Ebd. 65.
[4] Ebd. 66.
Allgemein: Wer in reflexiven Postulaten mit einem billig zusammengestauchten Habermasianismus nur ‘Moralismus’ erkennen kann, darf noch einmal Kants Metaphysik der Sitten zur Hand nehmen und transzendentale Logik pauken. Argumente gegen Pappkameraden sind leider ebenso stark wie die Pappkameraden billig sind. Und hier sind sie erheblich billig.
Aber ja: Man muss diese Postulate schon pflegen, damit sie überzeugend bleiben.
“Die Demokratie gilt uns hingegen – nicht zuletzt wegen der populistischen Gefahr – als eine Möglichkeit der „good governance“ unter anderen.”
Danke, ich habe verstanden.
Da wäre es dann noch interessant zu erfahren, wie diese anderen Möglichkeiten der “good governance” denn ausgestaltet sind. Werden Sie dann statt Hofer Präsident?
Erbärmlich ist allerdings der Beitrag der New York times zu nennen. Ein Gutteil der Migranten verdanken wir den US Kriegs-Debakeln im Irak, in Afghanistan, in Lybien und dem versuchten regime change in Syrien. Aber die Aufnahme dieser Migraten sei Europas “moral duty”, während sich die USA selbst zur Aufnahme von ganzen 10 000 Syrern durchringt. Ein Zahl die gegenwärtig geschätzt drei deutsche Landkreise zu stemmen haben.
Und wenn dann die Leute eine andere Partei wählen, weil man nicht auf dem Weg zur Arbeit von einem geduldeten, illegal im Land befindlichen Migranten erschlagen werden will, dann ist man natürlich ein Fremdenfeind und wandelt auf den Spuren von 1933.
“Wir haben nichts getan, um seinen Aufstieg zu verhindern.”
Wer schon so weit ist, könnte auch darüber nachdenken, ob er vielleicht etwas getan oder gepredigt hat, was diesen Aufstieg beförderte?
Könnten Sie uns näher erläutern, wie die anderen Formen der “good governance” ausgestaltet sind, wenn es die Demokratie mal nicht tut?
Vielen Dank hierfür, C. Reiser
Alles klar, Herr Somek! Wer keinen ethnischen Volksbegriff möchte, dem bleiben nur “anarchische Kommunikationsströme”. Hilfsbereitschaft ist Geschichtsteleologie; Ablehnung von Hass ist Moralismus. Die FPÖ-Wählerschaft ist das wahre unterdrückte Proletariat. Und Habermas hat Billionen für die Bankenrettung verpulvert. Am besten finde ich aber Ihren rhetorischen Kniff, sich selbst zu “uns”, den “liberalen Postnationalen” zu zählen. Glückwunsch zu einer gelungenen Glosse!
@Jessica Lourdes Pearson: googlen Sie mal Herrn Somek, da Sie seine Schriften offenbar nicht kennen (was vermutlich ein Fehler ist).
@Philipp: Ich kenne seine Beiträge gut genug, um mich an der allgegenwärtigen Ambivalenz und dem penetranten Kampf gegen Strohmänner zu stören.
@ Jessica Lourdes Pearson: Schreiben Sie doch auch mal eine Glosse zum Thema für den Verfassungsblog — ganz ohne Strohmänner und Ambivalenz.
@CB: Ist das als Tu-quoque-Retoure gemeint? Wenn das so ist, darf ich darauf hinweisen, dass die Kritik von Jessica Lourdes Pearson sich nicht erst dadurch beweisen muss, dass sie es besser macht. Das wäre eine Beweislastumkehr.
Wenn das nicht so ist: Was sagen Sie denn zu dieser Kritik? Stimmen Sie ihr zu? Oder nicht? Wenn nicht, warum nicht?
@CB: “Mach’s doch selbst besser” ist kein adäquater Umgang mit Kritik, sondern lediglich Reflexionsvermeidungsstrategie.
Ich halte den Strohmann von Herrn Somek auch für untauglich und glaube nicht, dass damit eine signifikante Gruppe von Menschen beschrieben wird:
Wer Empathie für Flüchtlinge aufbringt, der war und ist auch in der Lage Empathie für wirtschaftlich Benachteiligte aufzubringen, der begehrt auch gegen die immer weiter aufklaffende Schere zwischen Arm und Reich auf, der zieht sich eher nicht auf ein “Tja, too big to fail” zurück.
Und was den Vorwurf der abgehobenen Arroganz angeht, so muss man sich vor Augen halten, dass wirtschaftliche Probleme keine Entschuldigung für Rassismus sind. Das waren sie Ende der 20er nicht und das sind sie auch heute (in wirtschaftlich wesentlich weniger dramatischen Zeiten) nicht. Den Grund für Rassismus nicht monokausal und kontrafaktisch (vgl. sozio-ökonomische Zusammensetzung von PEgdIdA) bei wirtschaftlichen Problemen finden zu wollen sondern stattdessen mündige Menschen für ihren jedenfalls z.T. eigenverantwortlichen Entschluss zum Rassismus zu kritisieren, ist am Ende gar nicht mehr sonderlich arrogant.
“…die alte Welt des liberalen Staatsrechts. Das Volk geht der Verfassung voraus. Was das Volk zum Volk macht, ist die Nation. Die Nation ist stets etwas Partikulares. Sie grenzt aus, um jene einschließen zu können, die einen gemeinsamen Erinnerungsraum teilen.”
Interessante These. Insbesondere im Zusammenhang mit der Diskussion mit dem Identitären “Christoph” im Verfassungsblog an dieser Stelle.
@Querverweisender: Können Sie etwas genauer erläutern, welchen Aspekt Sie in diesem Zusammenhang interessant finden?
Dass Herr Somek hier die Konstruktion “die alte Welt des liberalen Staatsrechts” verwendet, ist einigermaßen verwirrend. Denn der “Altliberalismus” ist ideengeschichtlich keineswegs in einem modernen Sinne ‘liberal’, sondern entspricht eher dem, was wir heute ‘(national-)konservativ’ nennen würden. Das wird ja auch aus Someks weiterer Bestimmung deutlich.
Wie Kondylis in seiner Untersuchung zum ‘Konservativismus’ schreibt,
“[…] nennen sich heute ‘Konservative’ jene Liberalen, die das sich unter den Bedingungen der industriellen Massengesellschaft […] vollziehende Abgleiten (eines Flügels) des Liberalismus in Positionen der sozialen Demokatie ablehnen.” (Kondylis, Konservativismus, S. 29-30)
Die “Altliberalen”, das ist das konservative Bürgertum, das in den “Sozialliberalen” (des 19. Jh.!) die Beschneidung seiner – der mittelalterlichen societas civilis abgekämpften – Privilegien sieht. Es ist präzise dieser “Altliberalismus”, der – zusammen mit einem eklektizistischen Populismus – das ausmacht, was zu Beginn des 20. Jh. die ‘Rechte’ ausmachen wird.
Was Somek weiterhin mit der Formel “post-nationale[r] [Liberalismus]” bezeichnet, ist nichts anderes als die auf diesem Sozialliberalismus basierende heutige Form des demokratischen pluralistischen Liberalismus. Warum der, statt einem nationalistisch-naturalistischen Auffassung, installiert wurde, darüber kann er sich in der historischen Forschung zum Zeitraum von 1871 bis 1945 informieren.
Somek benutzt also einfach Sockenpuppen, mit denen er die übliche Auseinandersetzung zwischen naturalistisch-metaphysischer und kontraktuell-reflexiv-pluralistischer Staatsauffassung inszeniert – zu Lasten der letzteren.
Bemerkenswert für jemanden, der gerne eine “Rechtstheorie” verfassen will und sich selbst als “Rechtsphilosophen” auszeichnet, ist die Behauptung: “Wie Habermas schätzen wir die frei flottierende, weder ethnisch noch historisch festgelegte Volkssouveränität, die sich zu keinem Kollektivsubjekt zusammenzieht.”
Denn das macht einen simplen logischen Denkfehler, der typischerweise Vertretern des “Altliberalismus”, also: der rechtspopulistischen Staatsauffassung unterläuft. Denn die Gründung der Demokratie auf reflexiven Postulaten und auf einem Volk, das sich selbst in einem Gesellschaftsvertrag bestimmt, bedeutet natürlich keine “frei flottierende, weder ethnisch noch historisch festgelegte Volkssouveränität”.
Der logische Denkfehler besteht entsprechend darin, dass die Verneinung von ‘Alles’ nicht ‘Nichts’ ist, sondern ‘Nicht-Alles’. Verneint wird keineswegs die “ethnische und historische” Fundierung der Selbstauslegung eines ‘Volkes’ – sondern seine Verabsolutierung. Reflexiver Pluralismus verunmöglicht nicht eine bestimmte Selbstauslegung, sondern verortet sie nur in dem nicht-widersprüchlichen reflexiven Modus der Nichtverabsolutierung. Für einen ausgewiesenen Rechtstheoretiker ist das ein ziemlich grober Schnitzer.
Somek wiederholt hier zudem eine (sehr) alte Kritik, die vom ursprünglichen Adels-Konservativismus bis in den bürgerlichen Liberalismus durchgereicht wurde: Die Auflösung der a priori vorausgesetzten metaphysischen Ordnung führt nur ins Chaos (wahlweise: zur Monadisierung der Subjekte (Marx), zur Auflösung der Gesellschaft (Mohler) usw.).
Inwiefern diese Kritik mit einem unbegründeten Vorurteil über die “Migranten” zusammenhängt, macht dieser Abschnitt hier deutlich: “… das ändert nichts daran, dass die neue letzte Klasse privatim lebt und gewiss nicht Träger eines Emanzipationsprozesses ist.”
Pauschale Kritik am “frei flottierenden” Liberalismus – das schlecht verborgene Glaubensbekenntnis naturalistischer / nationalistischer Staatsauffassung in aphoristischen Merksätzen *) – Verächtlichmachung sozialliberaler Ideen durch Unterstellung von Moralismus und “Kitsch” – festliegende unbegründete Vorurteile über Migranten…
Kurz gesagt: Someks Artikel ist eine Melange aus einer berechtigten Kritik des inkonsequent (und von daher doppelmoralisch) durchgesetzten Demokratiebegriffs – und einer, quasi auf dieser Kritik ‘mitfahrenden’, typisch rechtspopulistischen Kritik des “post-nationalen Liberalismus”, der für diese Doppelmoral verantwortlich gemacht wird.
In dieser Mischung aus altliberalem Denken und populistischen Gedankenfiguren ist Someks Beitrag damit einfach eine rechtspopulistische Glosse.
*) “Das Volk geht der Verfassung voraus. Was das Volk zum Volk macht, ist die Nation. Die Nation ist stets etwas Partikulares. Sie grenzt aus, um jene einschließen zu können, die einen gemeinsamen Erinnerungsraum teilen.”
@DPZ
interessante Gedanken. Danke für die ausführliche Darlegung
Herr Zorn, irritiert es Ihre Analyse denn kein bisschen, dass der Autor nun von “Altliberalismus” gar nicht spricht, sondern von der “alten Welt des liberalen Staatsrechts”? Sie werden doch womöglich schonmal selbst die verblüffende Entdeckung gemacht haben, das Wörter, die ganz, ganz ähnlich aussehen, so ganz Unterschiedliches bedeuten können, vgl. Republik, Volksrepublik. Krasser gar: mitunter ruft die gleiche Zeichenkette in unterschiedlichen Diskussionszusammenhängen unterschiedliche Inhalte auf.
Zudem möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass die Frage, was die Verneinung von ‘Alles’ ist, zumindest von Teilen der öffentlichen Intelligenz als derzeit noch offenes Problem behandelt wird, vgl. https://youtu.be/ufvUTBlHzxo?t=2m11s)
@DPZ: Vielen Dank für Ihre Erläuterungen.
Mein Einschub in diesem Thread war verfrüht, denn leider hatte ich versäumt festzustellen, dass die Diskussion in dem Thread mit Christoph noch *wesentlich* weiter gegangen war, nachdem ich Donnerstag Abend mit dem Lesen darin am Ende angekommen war. Mein Querverweis war überflüssig.
Ihre Beiträge machen Lust auf die Beschäftigung mit Argumentationslogik. Keine gering zu schätzende Leistung! Ihren verlinkten Hohe Luft-Beitrag werde ich morgen lesen.
@Reihenbach: “irritiert es Ihre Analyse denn kein bisschen, dass der Autor nun von ‘Altliberalismus’ gar nicht spricht, sondern von der ‘alten Welt des liberalen Staatsrechts’?”
Nein, denn Somek subsumiert unter der “alten Welt des liberalen Staatsrechts” ja präzise altliberale Ideen, wie sie im 19. Jahrhundert gegen den sozialliberalen Egalitarismus formuliert wurden. Insofern beschreibt Kondylis’ Begriff des “Altliberalismus” präzise das, was Somek die “alte Welt des liberalen Staatsrechts” nennt.
“… das[s] Wörter, die ganz, ganz ähnlich aussehen, so ganz Unterschiedliches bedeuten können…”
Das ist richtig. Aber Ihre Annahme ist leider falsch: Ich habe die beiden Begriffe nicht deswegen gleichgesetzt, weil sie “ganz, ganz ähnlich aussehen”. Sondern weil das, was “alte Welt des liberalen Staatsrechts” bezeichnet, dasselbe ist, was Kondylis’ “Altliberalismus” bezeichnet.
Das Tertium ist: “Das Volk geht der Verfassung voraus. Was das Volk zum Volk macht, ist die Nation. Die Nation ist stets etwas Partikulares. Sie grenzt aus, um jene einschließen zu können, die einen gemeinsamen Erinnerungsraum teilen.”
Da es ein Tertium gibt, ist der Hinweis auf den Kontextbezug irrelvant – zumal ich mich nicht auf “die gleiche Zeichenkette” in unterschiedlichen Kontexten beziehe.
Bei aller herablassenden Ironie (“Sie werden doch womöglich schonmal selbst die verblüffende Entdeckung gemacht haben…”) beruht Ihr Einwand also auf einem Pappkameraden. Ihnen bleibt es natürlich unbenommen, mich hinsichtlich der von mir tatsächlich vertretenen Behauptung zu widerlegen. Die Quelle habe ich ja genannt.
Dass die Verneinung von “Alles” nicht “Nichts” (nicht Opposition), sondern “Nicht-Alles” (Negation) ist, gehört zu den logischen Grundlektionen seit Platon. Funny van Dannen singt hier übrigens:
“Was ist das Gegenteil von Nichts, hab’ ich Dich einmal gefragt – ist es Etwas oder Alles – ‘küss’ mich’, hast Du gesagt…” – Hier geht es also nicht um die ‘Verneinung’, sondern um das ‘Gegenteil’; auch nicht von ‘Alles’, sondern von ‘Nichts’.
Wie All-Quantor und Negation zusammenhängen, können Sie hier nachlesen: https://logik.phl.univie.ac.at/~chris/skriptum/node68.html
Verwechselt wird also konträre(s) und kontradiktorische(s) Verneinung bzw. Gegenteil.
Den Text von Herrn Somek fand ich interessant. Die Ansichten (ob von post-nationalen Liberalen oder vonRechtspopulisten), die er referiert (und die nicht notwendigerweise tatsächlich seine eigenen sind), haben für mich einen schizophrenen Einschlag. Gegenstand und Form des Textes korrespondieren miteinander. Aussagenlogische Argumente werden dem Text daher meiner Ansicht nach nicht gerecht.
@Weichtier: “Gegenstand und Form des Textes korrespondieren miteinander. Aussagenlogische Argumente werden dem Text daher meiner Ansicht nach nicht gerecht.”
Immanente Konsistenz ist leider kein Geltungskriterium, weil die Prämisse dogmatisch sein und in einen Bestätigungsfehler führen kann. Weswegen argumentationslogische (nicht: aussagenlogische) Argumente durchaus dem Text gerecht werden.
Geltungskriterien sind gut und schön. Das muss aber nicht ausschließen, dass von immanenter Konsistenz oder Inkontinenz “produktiver” Gebrauch gemacht wird.
@Weichtier: “Geltungskriterien sind gut und schön.” – Von Geltungskriterien war positiv gar keine Rede. Nur davon, dass immanente Konsistenz kein solches ist.
Sie haben argumentiert: “Gegenstand und Form des Textes korrespondieren miteinander.” Das ist bei immanenter Konsistenz auch der Fall. Eine dogmatisch gesetzte Prämisse (Form) produziert stets inhaltliche Bestätigung derselben (Gegenstand). Diese Beobachtung machen Sie zur Begründung für diese Behauptung hier: “Aussagenlogische Argumente werden dem Text daher [!] meiner Ansicht nach nicht gerecht”
Ich habe Ihnen oben begründet, warum sie das doch tun – und zwar genau WEIL hier “Gegenstand und Form des Textes … miteinander [korrespondieren].”
Immanente Konsistenz im Sinne eines Bestätigungsfehler ist immer “produktiv”. Und “Inkontinenz” ist Blasenschwäche.
@DPZ: Ihr Verweis auf die Blasenschwäche verkürzt den Begriff der Inkontinenz meines Erachtens unzulässig. Sie ist nicht nur Gegenstand der Urologie, sondern auch der Gastroenterologie (Stuhlinkontinenz). Zumindest laut der „Pschyrembel“. Bezüglich der „Pschyrembel“ verweise ich aber auch auf den 1. Tropos des Agrippa.
Im Übrigen bezog sich die von mir behauptete Korrespondenz von Gegenstand und Form des Textes auf den „schizophrenen Einschlag“ des Textes (Kommentar vom So 22 Mai 2016 / 23:20). Ein „schizophrener Einschlag“ steht meines Erachtens in einem gewissen Spannungsverhältnis zur immanenten Konsistenz.
@Weichtier: “Ihr Verweis auf die Blasenschwäche verkürzt den Begriff der Inkontinenz meines Erachtens unzulässig” – Interessanter Vorwurf. Warum, denken Sie, können sie den machen – obwohl Sie selbst mein Argument oben, nach diesem Maßstab, “unzulässig [verkürzt]” haben..?
Sachlich haben Sie natürlich recht. Ich habe tatsächlich noch darüber nachgedacht, ob ich Sie in vollem Umfang über Ihren fehlerhaften Fremdwortgebrauch informieren soll, habe dann aber für eine Ellipse entschieden. Mein Fehler.
“Bezüglich der ‘Pschyrembel’ verweise ich aber auch auf den 1. Tropos des Agrippa.” – Aha. Können Sie den Bezug erklären? Der 1. Tropos lautet: “Philosophen liegen stets im Streit über alle möglichen Behauptungen, es gibt keine Übereinstimmung und keine verlässliche Lehrautorität.” Bezüglich des Pschyrembel – den Sie ja hier als Lehrautorität heranziehen – würden Sie mit diesem Hinweis eben diesen Zug wieder entkräften.
“Im Übrigen bezog sich die von mir behauptete Korrespondenz von Gegenstand und Form des Textes auf den ‘schizophrenen Einschlag’ des Textes…” – Ja, das ist mit meiner Deutung durchaus konsistent. Schizophrenie zeichnet sich durch Wahn- und Psychosezustände aus, in denen der Erkrankte ein vollständig aus einer gesetzten Instanz erklärbares Weltbild setzt. Was präzise dem entspricht, was ich oben ‘immanent konsistent’ genannt habe. Hier besteht also kein Widerspruch.
“Ein ‘schizophrener Einschlag’ steht meines Erachtens in einem gewissen Spannungsverhältnis zur immanenten Konsistenz.” – Nur von außen. Von innen erscheint das alles vollkommen harmonisch. Es könnte aber sein, dass Sie nicht ‘schizophren’, sondern ‘schizoid’ meinen – also: dass Gegenstand und Form ‘abgespalten’ sind, auseinanderklaffen.
Wenn das gemeint ist: Haben Sie dafür ein Beispiel?
@DPZ: „Bezüglich der ‚Pschyrembel‘ verweise ich aber auch auf den 1. Tropos des Agrippa.“ – Aha. Können Sie den Bezug erklären? Der 1. Tropos lautet: „Philosophen liegen stets im Streit über alle möglichen Behauptungen, es gibt keine Übereinstimmung und keine verlässliche Lehrautorität.“ Bezüglich des Pschyrembel – den Sie ja hier als Lehrautorität heranziehen – würden Sie mit diesem Hinweis eben diesen Zug wieder entkräften.
Ja, ich ziehe hier den Pschyrembel als Lehrautorität heran. Der Bezug auf den 1. Tropos war vor Allem aber eine Referenz an einen Ihrer Kommentare in einem anderen Post zum Münchhausen-Trilemma (2., 4. und 5. Tropos des Agrippa).
Ihre übrigen Ausführungen im letzten Kommentar werde ich noch etwas auf mich einwirken lassen.
PS: Danke für den Hinweis auf den Artikel für den Pschyrembel (männlich). Der Duden (Konrad Duden), der Pschyrembel (Willibald Pschyrembel).