16 February 2018

Das Wissensproblem im Asylprozess und wie es behoben werden kann

Im Asylrecht stehen die Gerichte regelmäßig vor einem Wissensproblem: Um über den Schutzanspruch von Asylbewerbern urteilen zu können, müssen sie wissen, wie es generell um die Verfolgungssituation in den Herkunftsländern bestellt ist (hierzu auch dieser Beitrag der VerfasserInnen). Das ist nicht ihr Metier, denn ihre Hauptaufgabe ist die Streitentscheidung im Einzelfall. Zwar erfordert der Untersuchungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO), den Sachverhalt umfassend aufzuklären, aber auch dieser Grundsatz geht im Kern von der Rekonstruktion des Einzelfalls aus. Wie kann das am Einzelfall orientierte Gericht der Aufgabe, generelles Wissen über die Herkunftsländer zu generieren, gerecht werden? Wie kann es insbesondere vermeiden, dass von Fall zu Fall inkonsistent entschieden wird, die Rechtssicherheit auf der Strecke bleibt und es zu einer „Asyl-Lotterie“ kommt?

Syrische Verbesserungsklagen

Entsprechende Inkohärenzen treten derzeit bei der Bescheidung syrischer Asylklagen durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu Tage. Uneinigkeit besteht darüber, ob syrischen Asylbewerber*innen die Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) oder lediglich subsidiärer Schutz (§ 4 AsylG) zuzuerkennen ist. Syrischen Asylbewerber*innen wurde im Jahr 2015 durch das BAMF meist als Flüchtlinge anerkannt. Im Frühjahr 2016 änderte das BAMF seine Entscheidungspraxis und gewährte ihnen nun in den meisten Fällen nur noch subsidiären Schutz. Die Betroffenen klagten regelmäßig auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus (Verbesserungsklagen). Die tatsächlichen Umstände, die zur Entscheidung über diese Klagen relevant sind, werden dabei als weitgehend identisch eingestuft (BVerwG Beschl. v. 24.04.2017): Es geht um die Tatsachenfrage, ob der syrische Staat den syrischen Asylbewerber*innen aufgrund ihrer Flucht aus Syrien eine regimekritische Haltung unterstellt, was ein Verfolgungsgrund i.S.d. §§ 3 I Nr. 1, 3 b I Nr. 5 AsylG sein kann. Diese Frage ist immer gleich – aber dennoch kommen die verschiedenen Verwaltungsgerichte zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen, denn die Gerichte bewerten und ermitteln die zur Beantwortung dieser Frage relevanten Tatsachen unterschiedlich. Dabei werfen sich die Gerichte teilweise (indirekt) vor, bei ihren Bewertungen unplausible Schlüsse zu ziehen (so das OVG NRW dem VGH Ba-Wü).

Vorbild Großbritannien

Die Rechtsprechung durch eine faktische Leitentscheidung des BVerwG zu vereinheitlichen, ist de lege lata nicht möglich, da dieses keine Tatsachenfragen klärt (§ 127 II VwGO). Das Problem ist zwischenzeitlich zum Politikum geworden, dem sich auch die Justizministerkonferenz auf ihrer diesjährigen Herbsttagung angenommen hat. Beschlossen wurde dort, eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Asylprozess“ einzurichten, die sich mit der Möglichkeit einer „fallübergreifenden Prüfung allgemeiner Tatsachenfragen durch das BVerwG als Revisionsinstanz“ befassen und „gegebenenfalls einen Regelungsvorschlag“ erarbeiten soll. Als Vorbild dient dabei ein britisches Model.

Das Problem, wie Gerichte im Asylprozess Wissen generieren und die Kohärenz der Asylentscheide sichern, wird im Großbritannien bereits seit langem diskutiert und wurde mit der Etablierung sogenannter Country Guidance-Verfahren offensiv angegangen. Diese stellen das wohl elaborierteste Verfahren asylgerichtlicher Wissensgenerierung dar. Ein Blick nach Großbritannien und den dort gemachten Erfahrungen lohnt sich daher. Das britische Vorbild auf den deutschen Asylprozess zu übertragen, ist dabei jedoch schon aufgrund der grundsätzlichen Unterschiede zwischen common law und civil law voraussetzungsvoll (mehr dazu hier). Im Kern funktioniert das britische Verfahrens wie folgt:

Country Guidance-Verfahren sind besondere Asylprozesse vor der Immigration and Asylum Chamber des Upper-Tier Tribunals, der zweiten Instanz im britischen Asylprozess, die am Ende eine so genannte Country Guidance Determination erlässt. Diese Kammer entscheidet potentiell sämtliche Asylprozesse in Großbritannien, da die britischen Gerichtsbarkeit – anders als die deutsche – keine föderale Struktur aufweist. Bei den Country Guidance Determinations handelt es sich um Leitentscheidungen, denen eine Präjudizienwirkung auf tatsächlicher Ebene (factual precedents) zukommt. Sie sollen die Kohärenz der britischen Asylentscheidungen sichern.

Zum Abschluss eines erfolgreichen Country-Guidance-Verfahrens erlässt die Chamber ein Urteil, das das Gütesiegel „CG“ erhält. Diese Urteile entscheiden nicht nur den konkreten Einzelfall, sondern besitzen eine über den Fall hinausgehende Wirkung. Sie binden in nachfolgenden Verfahren die unteren Instanzen hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen  im Urteil (No. 12.2. Practice Directions, Immigration and Asylum Chambers of the First-Tier Tribunal and the Upper Tribunal). Konkret festgestellt werden Kategorien von Asylsuchenden, die bei einer unterstellten Rückkehr in ihr Herkunftsland einem Verfolgungs- bzw. Misshandlungsrisiko ausgesetzt wären. Dabei werden Faktoren erfasst, die ein solches Risiko erhöhen oder verringern.

Aufgrund der fallübergreifenden Wirkung der Country Guidance-Determinations wurden im britischen System einige safeguards etabliert, die einer ungerechtfertigten Bindungswirkung entgegenwirken sollen. So wurde bspw. ein gerichtsinternes Reporting Committee eingerichtet, dessen Aufgabe die Qualitätssicherung der Entscheidungen ist. Dieses überprüft,  ob die Entscheidung repräsentativ, hinreichend begründet und konsistent mit Gesetzesrecht und bestehenden Präzedenzfällen ist; ein Faktor, der dabei zu berücksichtigen ist, ist, ob die Entscheidung Informationen auswertet, die wahrscheinlich auch für andere Fälle relevant sind (Guidance Note, Anhang, Criterion 2 (a) und Criterion 3 (d)). Außerdem muss die Kammer die Umstände im Herkunftsland umfassend analysieren und Experten und Spezialisten anhören. Außerdem muss die Bindungswirkung beweglich bleiben. Gerade in Ländern, die eine Vielzahl von Geflüchteten „produzieren“, können sich die Verhältnisse ständig ändern. Hierauf reagiert das britischen System, indem es die Bindungswirkung entfallen lässt, wenn die tatsächlichen Feststellungen überholt sind (Guidance Note, para. 11).

Vom britischen Vorbild lernen

Zur Einführung einer Tatsachenbewertungskompetenz des BVerwG haben die Bundesverwaltungsrichter Uwe Berlit und Harald Dörig konkrete Vorschläge zur Einführung eines neuen § 78 Abs. 8 AsylG vorgelegt. Demnach soll das BVerwG die tatsächliche allgemeine Gefahrenlage im Herkunftsland durch ein Vorlageverfahren oder über einen zusätzlichen Berufungs- bzw. Revisionsgrund klären können. Die Vorschläge würden das Ziel, die Asylrechtsprechung zu vereinheitlichen, sicherlich fördern. Safeguards nach britischem Vorbild sind in der vorgeschlagenen Gesetzesänderung jedoch nicht enthalten. So wird in keinem der Vorschläge normiert, ob und welche Qualitätsanforderungen an die Leitentscheidungen des BVerwG zu stellen sind. Angesichts der Komplexität der festzustellenden Tatsachen und der über den Einzelfall hinausgehenden Wirkung der Leitentscheidungen wäre es jedoch wünschenswert, wenn zusätzlich auch ein Mechanismus eingeführt werden würde, der sicherstellt, dass die Leitentscheidungen auf einer umfassenden Wissensgrundlage über das jeweilige Herkunftsland beruhen und daher z.B. eine Sachverständigenanhörung zur Bedingung des Erlasses einer Leitentscheidung gemacht wird.

Außerdem wird in dem Vorschlag kein Mechanismus vorgesehen, mit dem das BVerwG die politischen und gesellschaftlichen Umstände in den Herkunftsländern neu bewerten und so auf deren Dynamik reagieren kann. Erforderlich wäre eine Möglichkeit, Änderungen bzw. die Aufhebung der bundesgerichtlichen Leitentscheidungen herbeizuführen. Diese sollen nach den Vorschlägen zwar keine rechtliche Bindungswirkung im engeren Sinne besitzen. Aber die Verwaltungsgerichte würden, schon ihrer Entlastung wegen, ihnen faktisch im Regelfall folgen und nur dann von ihnen abweichen, wenn das BVerwG selbst sie aufhebt oder modifiziert. Wann es das tut, ist in den Vorschläge nicht ausdrücklich normiert. Das BVerwG müsste insoweit eine neue Leitentscheidung erlassen – aber unter welchen Voraussetzungen es das tut, ist unklar, da in allen Varianten von der Situation vor dem erstmaligen Erlass einer Leitentscheidung ausgegangen wird.

Dementsprechend sollte die Arbeitsgruppe „Asylprozess“ die Vorschläge der Bundesrichter aufnehmen, sie jedoch auf Grundlage der britischen Erfahrungen um einige safeguards ergänzen, mit denen auf die Dynamik und Extraterritorialität des erforderlichen Wissens reagiert werden kann.


8 Comments

  1. Pontifex Maximus Mon 19 Feb 2018 at 09:20 - Reply

    Länderleitentscheidungen in der britischen Form sind mit Art. 97 GG unvereinbar (auf den sie leider mit keinem Wort eingehen). Es ist originäre Aufgabe der Instanzgerichte, den Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht zu ermitteln.

    Dass Handlungsbedarf im Asylrecht besteht, ist unbestreitbar (ich bin Verwaltungsrichter und kann es daher aus der täglichen Praxis nur bestätigen). Dieser Umstand darf aber nicht dazu führen, dass leichtfertig irgendwelche Schnellschüsse umgesetzt werden, die in unserem Rechtssystem völlige Fremdkörper sind.

  2. Lukas Mitsch Mon 19 Feb 2018 at 14:19 - Reply

    Eine Eins-zu-eins-Umsetznug des britischen Models wird nicht gefordert.Insbesondere eine strenge rechtliche Bindungswirkung, wie sie die britischen Präjudizien besitzen, sollen die Leitentscheidungen des BVerwG nicht besitzen.

    Dennoch stehen sie im Spannungsfeld zu Art. 97 GG. Hiermit befassen wir uns in unserem ausführlichen Artikel in der DV, auf den wir im Beitrag verweisen. In einem Blogbeitrag kann man eben nur auf ausgewählte Fragen eingehen.

    Im Ergebnis halten wir eine Neukonzipierung von der richterlichen Unabhängigkeit für Bereiche, in denen dem Gerichtsverfahren in erster Linie die Aufgabe der Wissensermittlung zukommt, für erforderlich. Dies deshalb, da das hergebrachten Verständnis von Art. 97 GG von der Prämisse der richterlichen Streitentscheidung ausgeht, deren Wirkung auf den Einzelfall beschränkt ist. Die gerichtliche Wissensgenerierung hat jedoch eine über den Einzelfall hinausgehende Wirkung. Um in diesen Konstellationen Rechtssicherheit zu gewährleisten, bedarf es unserer Meinung nach eines Instituts wie das der obergerichtlichen Leitentscheidungen

    Im Grundsatz soll die Tatsachenermittlung aber weiterhin Aufgabe der Instanzengerichte bleiben.

  3. Feyerabend Mon 19 Feb 2018 at 14:34 - Reply

    Ich stimme den vorherigen Kommentar zu. Das Pferd wird hier von hinten aufzäumt: Das Problem entstand doch erst, als das Rechtsmittelrecht zunächst im AsylVfG, dann in der VwGO in den 90er Jahren deformiert wurde. Es hat sich demgegenüber in allen anderen Gerichtszweigen bewährt, durch ein Mehr-Augen-Prinzip und regelmäßig zwei echten Tatsacheninstanzen zu soliden Tatsachenfeststellungen zu kommen. Zudem ändern sich Tatsachen – insbesondere solche, die Grundlage einer Prognose wie im Asylprozess sein sollen. Dann dürften viele “Vorlagen” an das BVerwG schon bald überholt sein. Es bleibt dabei: Wenn sich das Verfahrensrecht im Übrigen nicht grundlegend ändert, bleibt im Verwaltungsprozess die erste Instanz die wichtige.

  4. Feyerabend Mon 19 Feb 2018 at 14:36 - Reply

    …Zur Klarstellung: Ich bezog mich auf “Pontifex Maximus”.

  5. Pontifex Maximus Mon 19 Feb 2018 at 14:36 - Reply

    Das ist richtig. Es fallen unter der Überschrift “Vorbild Großbritanien” aber die Sätze: “Diese Urteile entscheiden nicht nur den konkreten Einzelfall, sondern besitzen eine über den Fall hinausgehende Wirkung. Sie binden in nachfolgenden Verfahren die unteren Instanzen hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen im Urteil”.

    Da sie sich in diesem Beitrag nicht anderweitig positionieren, muss man als Leser davon ausgehen, dass sie eben eine entsprechen Umsetzung fordern. Trotz ihres – berechtigten – Hinweises auf die begrenzte Kapazität eines Blogbeitrages (die Autoren auf dieser Plattform in anderen Beiträgen übrigens nicht davon abhält, deutlich längere Texte zu veröffentlichen), wäre ein entsprechender Hinweis im Text wünschenswert gewesen.

    Ihre Ausführungen zur “Neukonzipierung” von Art. 97 GG halte ich für fragwürdig. Entsprechende Defizite in der Vereinheitlichung der Tatsachenfeststellung und -Bewertung finden sich nicht nur im Asylrecht, sondern in vielen anderen Rechtsgebieten auch. Es steht daher zu befürchten, dass das Asylrecht nur das Einfallstor wäre, um auch in anderen Rechtsgebieten bindende Tatsachenfeststellung durch oberste Bundesgerichte einzuführen. Dafür sind sie nach der prozessordnungsübergreifenden Konzeption aber gerade nicht da.

  6. Lukas Mitsch Mon 19 Feb 2018 at 15:36 - Reply

    @ Feyerabend: Die Rechtsmittelbeschränkungen des AsylG betreffen das Thema der asylgerichtlichen Wissensgenerierung sicherlich auch und wenn Sie darauf hinweisen, dass dies die wichtiger Baustelle ist, möchte ich auch gar nicht widersprechen.
Eine Erweiterung des Rechtsmittelrechts, bspw. durch eine Streichung des § 78 Abs. 3 AsylG, würde aber gerade das Problem, das sich im Rahmen der syrischen Verbesserungsklagen offenbart hat, jedoch auch nicht beseitigen. Hier gab es ja eine ganze Reihe obergerichtlicher Entscheidungen, die aber nur zur Vereinheitlichung auf Landesebene beitragen konnten. Länderleitentscheidungen durch das BVerwG hätten hingegen eine bundesweise Wirkung.

    Dass die festzustellenden Umstände dynamisch sind, wurde im Beitrag erwähnt. Aufgrund der Feststellung dieser Dynamik schlagen wir vor, dass der von der Arbeitsgruppe „Asylprozess“ erarbeitete Regelungsvorschlag eine Flexibilisierung der Leitfunktion enthält. Dabei kann das britische System als Vorbild dienen, das die Bindungswirkung entfallen lässt, wenn die tatsächlichen Feststellung überholt sind. Dementsprechend könnten die Leitentscheidungen des BVerwG ihre Leitfunktion verlieren, wenn sich die Umstände in den Herkunftsländern geändert haben.

  7. Wiss. Mit. Mon 19 Feb 2018 at 19:40 - Reply

    Letztendlich liegt das Problem doch darin, wie weitreichend man die Bindungswirkung einer solchen Länderleitentscheidung des BVerwG ansieht. Ich würde Pontifex Maximus auch dahingehend zustimmmen, dass wenn man bei einer solchen Entscheidung den stare decisis-Grundsatz zugrundliegt, es Probleme mit § 86 VwGO und Art. 97 GG gibt.

    Konzepiert man die Bindungswirkung hingegen “weicher” – z.B. als eine Art Richtschnur – dann sollte es keine Probleme mit den genannten Vorschriften geben. Der Einzelrichter am VG muss auch von einer Länderleitentscheidung des BVerwG abweichen können – allerdings sollte es dann eine Verpflichtung geben, in Anlehnung an § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO die Sprungrevision zuzulassen.

    Soweit ich das gesehen habe (bin wahrscheinlich nicht so tief in der Thematik drin wie die Autoren), ist das auch einer der bisherigen Hauptkritikpunkte, dass das VG keinerlei Möglichkeiten hat, selbst die Berufung oder Revision zuzulassen (so Rennert, DVBl. 2016, 457 ).

  8. Robert Fri 20 Apr 2018 at 14:25 - Reply

    Noch ein kurzer Artikel / Gutachten zur Illegalität der Deutschen Grenzöffnung, wenn Links erlaubt sind.
    Online lesen oder auch downloadbar (bei Klick auf Link darin):

    http://www.archive.is/jAuID

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