Dauerobservation von Ex-Sicherungsverwahrten: Einstweilig zulässig
Einen entlassenen Sicherungsverwahrten dauerhaft und auf Schritt und Tritt unter Beobachtung zu stellen, ist… zulässig? Nicht zulässig? Kommt drauf an? Die Rechtslage ist schwierig, und die heutige Kammerentscheidung aus Karlsruhe trägt nicht dazu bei, sie zu entkomplizieren.
Es geht um einen jener Fälle, in denen ein Sexualstraftäter infolge der EGMR-Rechtsprechung zur Sicherungsverwahrung auf freien Fuß gesetzt wurde, obwohl die Polizei davon ausging, dass er weiterhin gefährlich ist. Um die Bevölkerung zu schützen, steht permanent ein Polizeiauto mit drei Beamten im Hof vor seinem Haus, zwei weitere sitzen in der Küche seiner Unterkunft. Wo immer er hingeht, die Polizei geht mit. Wenn er eine Frau anspricht, wird sie sofort gewarnt.
Der Mann versuchte, gegen die Dauerobservation eine einstweilige Anordnung zu erwirken, bekam aber keine, und dagegen erhob er Verfassungsbeschwerde. Und bekam Recht. Aber wogegen?
Zunächst stellt die 1. Kammer des Ersten Senats wie auch zuvor schon die Verwaltungsgerichtsbarkeit fest, dass es sich um einen schwerwiegenden Eingriff in die Privatsphäre handelt, wenn einem “durch die fast lückenlose Präsenz der ihn außerhalb seines Zimmers überwachenden Polizisten die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes, eigenverantwortliches Leben zu führen, weitgehend genommen” wird.
Dann findet die Kammer eine Menge guter Gründe, warum ein solcher Eingriff eigentlich einer speziellen, darauf zugeschnittenen Rechtsgrundlage im Polizeirecht bedürfte. Langfristige Observation ist in § 22 PolG BW zwar erlaubt, aber zum Zweck der Datenerhebung, worum es hier überhaupt nicht ging. Ob die allgemeine Generalklauselbefugnis, die nötigen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu ergreifen (§ 3, 1 PolG BW), ausreicht, hält die Kammer “erst recht” für “fraglich”, wenn damit eine jahrelang andauernde Überwachung gerechtfertigt werden soll:
Vielmehr handelt es sich wohl um eine neue Form einer polizeilichen Maßnahme, die bisher vom Landesgesetzgeber nicht eigens erfasst worden ist und aufgrund ihrer weitreichenden Folgen möglicherweise einer ausdrücklichen, detaillierten Ermächtigungsgrundlage bedarf.
Wohl? Möglicherweise? Eigentlich ist es der Job von Karlsruhe, diese Konjunktive in den Indikativ zu überführen, sollte man meinen. Das tut die Kammer aber nicht, sondern folgt dem VGH Mannheim in seiner Überlegung, dass man im einstweiligen Rechtsschutz da mehr Spielraum lassen muss als im Hauptsacheverfahren, um dem Gesetzgeber Gelegenheit zu geben, die Befugnislücke im Polizeirecht zu stopfen:
Der Sache nach verstehen sie damit die polizeiliche Generalklausel dahingehend, dass sie es den Behörden ermöglicht, auf unvorhergesehene Gefahrensituationen auch mit im Grunde genommen näher regelungsbedürftigen Maßnahmen vorläufig zu reagieren, und ermöglichen so dem Gesetzgeber, eventuelle Regelungslücken zu schließen. Dies ist – bei Beachtung strenger Verhältnismäßigkeitsanforderungen – verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es liegt dann in der Verantwortung des Gesetzgebers hierauf zu reagieren oder in Kauf zu nehmen, dass solche Maßnahmen von den Gerichten auf Dauer als von der geltenden Rechtslage nicht als gedeckt angesehen werden.
Vielleicht liegt es daran, dass Polizeirecht noch nie mein strong suit war, aber das will mir nicht recht in den Kopf: Wieso hängt denn die Notwendigkeit einer speziellen Befugnisnorm von der Art des Verfahrens ab, in dem sie geprüft wird? Wie kann ein und die selbe Maßnahme im einstweiligen Verfahren eine korrekte Rechtsgrundlage haben und im Hauptsacheverfahren nicht? Seit wann ist das einstweilige Verfahren dazu da, gleichsam rechtspolitische Warnsignale und Reaktionsspielräume für den Gesetzgeber zu erzeugen? Mir scheint da mal wieder das alte Lateinersprichwort am Platze: Quod licet Karlsruhae, non licet Examensklausurencandidati.
Am Ende kommt es darauf aber gar nicht an, weil die Urteile der baden-württembergischen Verwaltungsgerichte aus einem ganz anderen Grund aufgehoben werden: Sie haben sich auf veraltete Gutachten gestützt.
So bekommen alle, was sie brauchen: Der Grundrechtsträger sein einstweiliges Rechtsschutzverfahren, der Landesgesetzgeber einen zarten Hinweis, mal besser schnell das Polizeirecht anzupassen, und Karlsruhe bleibt erspart, daran schuld zu sein, dass womöglich ein Vergewaltiger unüberwacht herumläuft.
Nur ich bin ein bisschen verwirrt, aber was macht das schon.
“Wieso hängt denn die Notwendigkeit einer speziellen Befugnisnorm von der Art des Verfahrens ab, in dem sie geprüft wird? “
Weil im Verfahren nach § 80 VwGO die Rechtslage nur summarisch geprüft wird.
Ich vermute, die Feststellung von Rechtswidrigkeit wegen Fehlens einer Grundlage hätte binnen 48 Stunden zu einem Volksaufstand geführt. Die Fälle sind ja bekannt, die Nachbarn demonstrieren und schreien allerorten und bis in das Arbeitsumfeld werden Kandidaten gemobbt (schöner Text bei Zeit Online im letzten Jahr, übrigens).
Bei einer Wahrscheinlichkeit von etwa 10% bei einem konkreten Täter, rückfällig zu werden und eine Frau zu vergewaltigen, kann man eine sofortiges, ersatzloses Abschaffen der Dauerobservation ja auch wirklich kaum vertreten.
[…] Maximilian Steinbeis (verfassungsblog.de) kritisiert die Unentschlossenheit der Karlsruher Richter: "Wie kann ein und die selbe Maßnahme im einstweiligen Verfahren eine korrekte Rechtsgrundlage haben und im Hauptsacheverfahren nicht?" […]
Die Kammer kann so argumentieren, wie sie es tut, weil sie den Fall nicht über das allgemeine Persönlichkeitsrecht, sondern über Art. 19 Abs. 4 GG aufzieht. Damit ist unmittelbar gar nicht die Frage verfahrensentscheidend, welche Anforderungen materiell-grundrechtlich an eine Dauerobservation zu stellen sind. Sondern geprüft wird, ob die Verwaltungsgerichte im einstweiligen Rechtsschutzverfahren einen Prüfungsansatz gewählt und durchgeführt haben, der dem Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers hinreichend Rechnung trägt.
Dieser Lösungsweg führt offenkundig von hinten durch die Brust ins Auge, ermöglicht der Kammer aber, die materielle Grundrechtslage nur anzureißen. Ansonsten hätte der Fall nach meiner Einschätzung auch in den Senat gehört, weil er eine ganze Reihe von Grundsatzfragen aufwirft:
1. Können die Landesgesetzgeber überhaupt kriminalpräventive Eingriffsmaßnahmen regeln, die an die Freilassung eines gefährlichen Straftäters anknüpfen, oder sind sie dadurch kompetenziell gehindert, weil der Bundesgesetzgeber für solche Maßnahmen mit der Führungsaufsicht ein abschließendes strafprozessuales Regime geschaffen hat?
2. Unter welchen Voraussetzungen und zu welchem Zeitpunkt können Eingriffsmaßnahmen der Polizei aufgrund von Bestimmtheits- und/oder Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht mehr auf die Generalklausel gestützt werden (ein Dauerbrenner des Polizeirechts)?
3. Welche Anforderungen errichtet das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen materiell an eine Ermächtigung zu einer offenen Dauerobservation?
4. Falls man eine konkrete Gefahr verlangt, wie dies nach der Generalklausel vorausgesetzt ist: Kann aus der gefährlichen Disposition eines Individuums allein schon auf eine konkrete Gefahr geschlossen werden, ist also der entlassene Straftäter sozusagen eine wandelnde Gefahr, obwohl er Straftaten nur unter bestimmten Randbedingungen begeht (von denen man nicht absehen kann, ob und wann sie eintreten) und die Straftatenbegehung wohl weniger als 0,0000001% seiner Lebenszeit füllt?
@Matthias Bäcker: Vier gute Fragen! Eine weitere schließe ich an: Wieso ist BVR Masing – mangels APR – überhaupt mit der Sache befasst und nicht der Zweite Senat?
Und noch eines: Der Tenor ist nicht ganz korrekt. Denn “im Übrigen wird die VB nicht zur Entscheidung angenommen” und nicht etwa zurückgewiesen (wie die Kammer meinte).