23 July 2013

Akteneinsichten: Was keine Brisanz mehr hat, kommt ins Findbuch

Den aktuellen Streit um die Arkana deutscher und amerikanischer Sicherheitsbehörden verfolgte ich in den vergangenen Tagen zeitweise aus kühlen Archivkellern. Beim Blättern in alten Akten und Nachdenken über neue Überwachungssysteme (beides hatte irgendwie immer wieder mit dem Kalten Krieg zu tun) gingen mir noch einmal Überlegungen durch den Kopf, die ich für ein Kapitel des demnächst erscheinenden, von Marcel Lepper und Ulrich Raulff herausgegebenen “Handbuch Archiv” verschriftlicht habe (eine Vorversion kann man hier herunterladen).

Aktenkunden

Meine Akteineinsichten sind, daraus kann ich keinen Hehl machen, stark von Cornelia Vismann und ihrer bahnbrechenden, inzwischen in dritter Auflage vorliegenden Dissertation “Akten” geprägt, und von dem demgegenüber ganz neuen und originellen Kapitel “Akten” in Cornelias nachgelassenem Band “Medien der Rechtsprechung“. Dass aktenbegeisterte Historiker die medientheoretische Rechtshistorikerin nicht unbedingt zur Kenntnis nehmen, dafür aber ganz andere, für Juristen nicht uninteressante Autorinnen und Autoren aus  dem Werkzeugkasten der historischen Hilfswissenschaften zaubern – das lerne ich gerade bei der Lektüre des Blogs Aktenkunde, den der Historiker Holger Berwinkel (Referent im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes) in diesem Sommer begonnen hat. “Die Aktenkunde ist die historische Hilfswissenschaft der Neuzeit”, so der Archivar. “Eigentlich sollte sie eine zentrale Rolle spielen. Tatsächlich ist sie in der akademischen Welt marginalisiert – zum Schaden aller, die sich zum ersten Mal im Archiv den Originalquellen gegenüber sehen.” Auch Juristinnen und Juristinnen, die sich im Berufsalltag häufig Akten gegenüber sehen, sind darauf (trotz Aktenvortrag im Examen) durch ihre Ausbildung oft nur unzureichend vorbereitet – nicht nur, wenn es um die legendären Tücken bei der kunstgerechten Fertigung des badischen Aktenknotens und mögliche Rechtsfolgen diesbezüglicher Defizite geht. Berwinkels Einträge verdeutlichen, dass sich die Akteninteressen von Juristen und Historikern da treffen, wo es um die Materialität der Akten geht – um Stempel und Knoten, Paginierung und Numerierung, Aktenlauf und Aktenversendung.

Karlsruhe, Luxemburg und der verborgene Grund der Autorität

Cornelia Vismanns Feststellung „Erst das, was keine Brisanz mehr hat, darf Geschichte werden“ trifft genau, wenn es um den Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit dem Recht auf Einsicht in die eigenen Verfahrensakten und “Nebenakten” geht (dazu näher in meinem Handbuchbeitrag). Karlsruhe entscheidet selbst, welche Akten das Gericht zur Verwahrung ins Bundesarchiv abgibt.

Eine Neuregelung des Zugangs zu den Unterlagen des Bundesverfassungsgerichts forderte im September 2010 der 38. Rechtshistorikertag in Münster. In sechs Punkten verlangten die Historiker damals Bestimmungen zur Akteneinsicht, die sich an den Regelungen des Bundesarchivgesetzes sowie an den dort festgeschriebenen Fristen von üblicherweise dreißig, höchstens sechzig Jahren orientieren.

Auskunft zur Aktenlage verlangte wenig  wenig später auch eine Gruppe von Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE. Angesichts der (auch) politischen Rolle des Bundesverfassungsgerichts bestehe “ein großes wissenschaftliches und journalistisches Interesse an der Aufarbeitung der Entscheidungen, das sich auch auf den Entscheidungsprozess und nicht nur auf das Ergebnis bezieht. Trotz der umfassenden Kompetenzen und der politischen Implikationen, die ein Höchstmaß an Transparenz bei der Entscheidungsfindung erwarten lassen, stoßen Wissenschaft und Presse nicht nur bei politisch besonders brisanten Entscheidungen regelmäßig auf erhebliche und kaum überwindbare Widerstände beim Bundesverfassungsgericht (und beim Bundesarchiv), wenn sie dessen Akten ganz oder teilweise einsehen wollen (…) (Kleine Anfrage der Abgeordneten Jan Korte, Wolfgang Gehrke, Ulla Jelpke, Petra Pau, Jens Petermann, Raju Sharma, Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE – Freigabe von Akten des Bundesverfassungsgerichts [BT Drs. 17/3579 vom 26. 10. 2010], 1).

§ 2 Abs. 1 BArchG fordert, dass die Einrichtungen des Bundes „alle Unterlagen, die sie zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben (…) nicht mehr benötigen“, dem Bundesarchiv anbieten. Eine solche Widmung von Verfahrensakten des Bundesverfassungsgerichts zu Archivgut durch das Bundesarchiv sei jedoch bisher nicht erfolgt, so die Antwort der Bundesregierung. „Die Entscheidung, welche Unterlagen das Bundesverfassungsgericht noch zur Erfüllung seiner öffentlichen Aufgaben benötigt, trifft das Bundesverfassungsgericht selbst.“ (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Jan Korte, Wolfgang Gehrke, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE– Drucksache 17/3579 [BT Drs. 17/4073 vom 1. 12. 2010], 4).

Bei den Unterlagen des Bundesverfassungsgerichts, die im Bundesarchiv aufbewahrt werden, jedoch nicht als Archivgut gelten, handelt es sich einerseits um Verfahrensakten – für diese gibt es Akteneinsichtsrechte, über die das Bundesverfassungsgericht im Einzelfall entscheidet. Anlass der Resolution des Ständigen Ausschusses des Rechtshistorikertages war jedoch vor allem das gegenwärtige Interesse an den sogenannten „Nebenakten“, bei denen es sich um Entscheidungsvorschläge (Voten) und Entscheidungsentwürfe handelt, die nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts und der einschlägigen Kommentarliteratur vom Akteneinsichtsrecht ausgenommen und vom Beratungsgeheimnis umfasst sind. Die Historikerin Claudia Baumann schreibt dazu: „Das besondere Interesse von Rechtshistorikern an Voten und Entscheidungsentwürfen gründet darin, das sich aus ihnen unter anderem nachvollziehen ließe, welche Optionen und Argumente die Richter erwogen haben. Diese entscheidungsrelevanten Argumente spiegeln sich kaum im Urteil selbst wider.“

Quod est in actis

Doch womöglich erwarten die Historiker zu viel von der Akteneinsicht, gibt der vormalige Verfassungsrichter Dieter Grimm zu bedenken. Schließlich werde kein Protokoll über die Beratungen des Bundesverfassungsgerichts geführt. Im Karlsruher Beratungszimmer sind die Richterinnen und Richter unter sich, ohne Protokollanten. Ihre Diskussionen ließen sich allenfalls aus je individuellen persönlichen Aufzeichnungen rekonstruieren. Zwar wurde im Herbst 2010 über eine anstehende Plenumsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts über eine allgemeine Zugangsregelung spekuliert; bislang ist es dazu nicht gekommen. Spekulationen über Pläne, die einschlägigen Sperrfristen auf bis zu 90 Jahre zu verlängern, wurden vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Jan Korte, Wolfgang Gehrke, Ulla Jelske, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE– Drucksache 17/3579 [BT Drs. 17/4073 vom 1. 12. 2010], 9).

Während eine Einsichtnahme in die Verfahrensakten des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich möglich ist, sind die Prozessakten des Europäischen Gerichtshofs nach Beschlüssen der Kommission bzw. des Rates nicht frei zugänglich (Entscheidung Nr. 359/83/EGKS der Kommission vom 8. Februar 1983 über die Freigabe der historischen Archive der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, ABl. L 43 vom 15.2.1983, 14-15, Art. 3 Abs. 1: „Schriftstücke und sonstiges Archivgut betreffend die vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften behandelten Rechtssachen sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich.“; Verordnung (EWG, Euratom) Nr. 354/83 des Rates vom 1. Februar 1983 über die Freigabe der historischen Archive der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft, ABl. L 43 vom 15.2.1983, 1-3, Art. 3 Abs. 1: „Nicht der Öffentlichkeit zugänglich sind: […] c) Schriftstücke und sonstiges Archivgut betreffend Rechtssachen, die vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft als Rechtsprechungsorgan behandelt wurden.“

Zeitgeschichte als Rechtsgeschichte

Es scheint, als würde bei nationalen und supranationalen Höchstgerichten noch immer das Arkanum bemüht, um die Legitimität gerichtlicher Entscheidungen zu stützen. Eine konsequente Historisierung auch des eigenen institutionellen Herkommens würde eine Neubestimmung der Rolle des Rechts und der Juristen in der Zeitgeschichtsschreibung erlauben

Mit den “Chancen und Schwierigkeiten bei der Auswertung zeitnaher amtlicher Unterlagen in Archiven und Behörden” beschäftigt sich ein in diesen Wochen besonders aktuelles Heft der “Mitteilungen aus dem Bundesarchiv”, das ich noch genauer studieren muss. Bodo Hechelhammer, Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes und Leiter der Forschungs- und Arbeitsgruppe “Geschichte des BND” schreibt darin über “Möglichkeiten und Grenzen des Zugangs zu Unterlagen der Nachrichtendienste. Geschichtsaufarbeitung des Bundesnachrichtendienstes im Spannungsfeld zwischen Geheimhaltung und Transparenz”. Wannseelektüre.

Die dunkle Spur der verborgenen Information

Eric Stein, von dem hier neulich schon die Rede war, sagte mir immer, er habe sich nie für Archive interessiert. Ihn habe nur das beschäftigt, was die Gegenwart an Fragen und Herausforderungen stellte. Für die Arkana, die in alten Akten und Informationssystemen verborgen sein können, hatte er freilich ein feines Gespür: Noch bis zum Ende des Kalten Krieges sass ihm eine frühe Begegnung mit dem Kommunistenjäger Joseph McCarthy in den Knochen – und die Angst, beim gelegentlichen Ausfüllen neuer Fragebögen, die das State Department regelmäßig seinen Beratern aus der Wissenschaft vorlegte, alte Verdachtsmomente wiederzubeleben. Die Angst war nicht ohne Grund, wie die gerade von Jeremy Adelman vorgelegte fulminante Biographie des Ökonomen Albert Hirschman beweist, der mit Stein nicht nur das Geburtsjahr 1913 gemeinsam hatte. Eine 1946 angelegte Akte des FBI, die Hirschmans Berliner Jugend in der Sozialistischen Arbeiterjugend dokumentierte, blockierte den Aufstieg des Ökonomen in Regierungsdiensten und legte sich bis in die sechziger Jahre wie ein Schatten auf Hirschmans Karriere. Die professionellen Umwege, die die Akte erzwang, eröffneten neue, innovative Forschungsperspektiven und führten schließlich zur Entstehung von Klassikern wie “Exit, Voice and Loyalty” (in diesen Zeiten eine Pflichtlektüre für Europarechtler, und für alle andern Leser auch). Aber das ist eine andere jener brisanten Geschichten, die im Archiv beginnen und in der Gegenwart noch lange nicht zu Ende sind.


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