08 April 2014

EU-weiter Konsens über Standards von Privatheit und Datenschutz ist möglich

Die Speicherung von Daten zur Terrorbekämpfung ist grundsätzlich auch europarechtlich möglich. Das scheint der EuGH in seiner Entscheidung von heute morgen, mit der die Vorratsdaten-Richtlinie für ungültig erklärt wurde, zu Beginn seiner Prüfung festzuhalten. Aber vielleicht kommt es auf die Frage „Vorratsdaten im Grundsatz – ja oder nein?“ gar nicht mehr so sehr an: Von zentraler Bedeutung ist, dass der EuGH enorm hohe Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit von Speichermaßnahmen stellt.

Die Entscheidung kommt rechtzeitig zum Beginn des Sommersemesters. Deswegen kann ich vor Beginn meiner ersten Vorlesung dieses Semester nur knapp folgende Punkte hervorheben:

Die Richtlinie ist ohne Einschränkungen nichtig. Der EuGH unternimmt noch nicht einmal den Versuch, durch Konformauslegung etwas zu retten. Auch eine Beschränkung in der Zeit wäre mit Blick auf Haftungsfragen von Interesse gewesen. Hier wird eine sehr klare Botschaft geschickt: So nicht.

Der EuGH festigt damit seine Position als oberstes Grundrechtsgericht in der EU. Das ist mit Blick auf den anstehenden Beitritt der EU zur EMRK auch angezeigt. Die Ohrfeige geht vor allem an die Regierungen der Mitgliedstaaten, die diese Richtlinie zu verantworten hatten.

Aber auch an das BVerfG wird man die Frage richten dürfen, warum es im Karlsruher Verfahren nicht sonderlich aufgefallen ist, welche Grundrechtsdefizite die Richtlinie aufweist. Sicherlich streben das Urteil von heute und das Urteil des BVerfG zur Vorratsdatenspeicherung in die gleiche Richtung. Trotzdem bleibt als Befund, dass es der österreichische VerfGH war, der dem EuGH vorgelegt hat, nicht das BVerfG – warum? Einmal mehr zeigt sich, dass Grundrechtschutz nicht nur und nicht am Besten und nicht vor allem beim BVerfG erhältlich ist.

Der EuGH gibt aber auch einen wichtigen Hinweis zur aktuelleren Diskussion um NSA und GCHQ: Einmal zeigt sich, dass es durchaus einen EU-weiten Konsens geben kann über Standards von Privatheit und Datenschutz. Auch Richter aus Staaten, die mehr und aktuellere Erfahrungen mit Terrorismus haben als die Deutschen, tragen das Urteil offenbar mit. Hervorzuheben sind hier auch die mutigen Schlussanträge des Generalanwaltes Cruz Villalon aus Spanien.

Zum anderen ist für den EuGH ein Kriterium, ob die Daten auf Unionsgebiet gespeichert werden. Das richtet sich gegen NSA und USA.

Offene Fragen bleiben. Was wird aus dem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland, das ja einen anderen Gegenstand hat (Verletzung der Umsetzungspflicht)? Und was ist eigentlich mit der Haftung für diesen rechtswidrigen Unionsrechtsakt? Und: Wie kann eine grundrechtskonforme Speicherung aussehen – kann diese überhaupt gelingen?


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  1. Alexander Jannasch Tue 8 Apr 2014 at 21:40 - Reply

    Die Frage, was aus dem Vertragsverletzungsverfahren wird, dürfte einfach zu beantworten sein: Es besteht keine Pflicht zur Umsetzung einer unwirksamen Richtlinie.
    Im Übrigen ist in einem ersten Schritt hervorzuheben: Der EuGH verlangt, dass auch eine Richtlinie, obwohl sie noch von den Mitgliedstaaten umzusetzen ist, selbst Regelungen und Vorkehrungen trifft, durch die der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird. Es genügt keineswegs, diese Vorkehrungen den Mitgliedstaaten zu überlassen.

  2. Aufmerksamer Leser Wed 9 Apr 2014 at 00:11 - Reply

    @Janasch: So einfach ist es nicht. Die Frage von Herrn Mayer, dem ich – diesmal – in allen Punkten zustimmen möchte, ist sehr berechtigt.

  3. Daniel Thym Wed 9 Apr 2014 at 10:16 - Reply

    Ich stimme Herrn Jannasch zu: Eine ungültige Richtlinie muss nicht umgesetzt werden und diese Ungültigkeit dürfte prozessual auf das Verfahren nach Art. 260 Abs. 3 AEUV durchschlagen, weil die Feststellung der Ungültigkeit durch den EuGH grdsl. deklaratorisch ist (vgl. Art. 264, 277 AEUV). Politisch ist ohnehin nichts anderes denkbar: dir Kommission wird das Verfahren gegen Deutschland selbstverständlich fallen lassen!

  4. Aufmerksamer Leser Wed 9 Apr 2014 at 10:42 - Reply

    @Daniel Thym: Ja, eine ungültige RL muss nicht mehr umgesetzt werden. Die Frage ist aber, wie der Umstand der Verletzung der Umsetzungspflicht in der Vergangenheit zu bewerten ist. Die ex-tunc Wirkung als solche erledigt die Rechtsfrage keineswegs, wie Herr Mayer zutreffend andeutet. Sie sehen am Beispiel des § 79 BVerfGG, wie differenzierte Rechtsfolgen an ex-tunc Nichtigkeiten anknüpfen können. Dazu wird der EuGH sicherlich etwas sagen – nachdem man gründlich nachgedacht hat.

  5. O. Sauer Wed 9 Apr 2014 at 11:56 - Reply

    @Aufmerksamer Leser: An § 79 BVerfGG sieht man, dass in der Tat ein differenziertes Rechtsfolgenregime denkbar ist. Ich halte daher Franz Mayers Frage auch für grundsätzlich berechtigt. Nur zielt § 79 BVerfGG auf die Bestandskraft von Einzelakten, also die Rechtssicherheit. Diese Situation ist m.E. nicht vergleichbar. Vor allem aber hat der Gesetzgeber sich ja offenbar genötigt gesehen, etwas dieser Art ausdrücklich anzuordnen. Mit @Daniel Thym sehe ich das hier nicht. Daher würde ich die Frage auch in Übereinstimmung mit @Alexander Jannasch und @Daniel Thym beantworten und formulieren: Die immer schon ungültige RL musste noch nie umgesetzt werden. Erst recht liegt @Daniel Thym natürlich damit richtig, dass die Kommission den Teufel tun wird, das Verfahren weiter zu betreiben, um sich dann (vorauss.) eine (weitere) Klatsche abzuholen.

  6. Aufmerksamer Leser Wed 9 Apr 2014 at 13:11 - Reply

    @Sauer: politisch ist das alles klar, die Politiker äußern sich ja auch schon alle. Ich weise ja nur darauf hin, dass es juristisch nicht so einfach ist. Die bereits erfolgten Strafzahlungen (bzw. deren jeweiliger Rechtsgrund) sind natürlich Einzelakte. Außerdem handeln sie sich erhebliche Rechtskraftprobleme ein, wenn man das prozessual nicht sauber differenziert. Wollen sie in jedem zukünftigen Vertragsverletzungsverfahren den Einwand hören: die RL ist ungültig? Hilfsweise: Wollen sie die Haltung der ehemaligen Justizministerin allgemein akzeptieren, Verurteilungen wegen Nichtumsetzung einer RL zu ignorieren, weil man “am Ende” ja doch gewinnen wird? Kann man sich alles mal überlegen, aber Sie haben das Stichwort bereits genannt: Rechtssicherheit.

  7. O. Sauer Wed 9 Apr 2014 at 15:24 - Reply

    @Aufmerksamer Leser: Aber es gibt resp. gab doch noch gar keine Zahlungen, keine Verurteilung als Rechtsgrund und damit von vornherein auch kein Rechtskraftproblem? Soweit ich nichts übersehen habe, hat die KOM bislang nur die Klage eingereicht. Und, ja, warum soll man sich nicht im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens mit dem Einwand verteidigen können, die RL sei ungültig? Ist sie ungültig, kann der Mitgliedstaat ja kaum gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen haben. Ich würde zwar vermuten, dass diese Art der Verteidigung in aller Regel nicht sonderlich aussichtsreich sein wird. Und wenn man dann schlussendlich vor dem EuGH unterliegt, wird es im Zweifel einfach richtig teuer. Hier aber war sie erfolgreich, und das wegen des parallelen Vorabentscheidungsverfahrens nicht einmal erst „am Ende“, sondern das schon vorzeitig.

  8. Aufmerksamer Leser Wed 9 Apr 2014 at 18:07 - Reply

    @Sauer: Schweden schon (vgl. Rechtssache C‑270/11).

  9. schorsch Wed 9 Apr 2014 at 19:06 - Reply

    @Sauer:
    Freilich kann sich nach der Rspr des Gerichtshofs der Mitgliedstaat im Vertragsverletzungsverfahren nicht auf die Rechtswidrigkeit einer RL berufen, deren Anfechtung er verpasst hat. Der EuGH spricht hier (bzw. seine Übersetzer_Innen sprechen hier) von “Bestandskraft”.

    Kommission/Portugal, C-53/05, Rn. 30:
    “Unter der Annahme, dass dieser Mitgliedstaat damit die Ungültigkeit der Richtlinie geltend machen wollte, ist jedoch darauf hinzuweisen, dass er nach Ablauf der in Artikel 230 EG vorgesehenen Frist die Rechtmäßigkeit eines vom Gemeinschaftsgesetzgeber erlassenen Rechtsakts, der ihm gegenüber bestandskräftig geworden ist, nicht in Frage stellen kann. Nach ständiger Rechtsprechung kann sich ein Mitgliedstaat zur Verteidigung gegenüber einer Vertragsverletzungsklage wegen Nichtdurchführung einer an ihn gerichteten Entscheidung oder Verletzung einer Richtlinie nicht mit Erfolg auf die Rechtswidrigkeit dieser Entscheidung oder dieser Richtlinie berufen (siehe u. a. Urteile vom 27. Oktober 1992 in der Rechtssache C‑74/91, Kommission/Deutschland, Slg. 1992, I‑5437, Randnr. 10, vom 25. April 2002 in der Rechtssache C‑154/00, Kommission/Griechenland, Slg. 2002, I‑3879, Randnr. 28, und vom 29. April 2004 in der Rechtssache C‑194/01, Kommission/Österreich, Slg. 2004, I‑4579, Randnr. 41).”

  10. […] daher vollkommen zu Recht überwiegend positiv aufgenommen worden. Mit dem Urteil ist überdies das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland letztlich vom […]

  11. Kristof M.Kamm Thu 10 Apr 2014 at 10:16 - Reply

    @Aufmerksamer Leser: Es scheint mir ein wenig unglücklich mit § 79 BVerfGG zu argumentieren, wenn es um ein Verfahren nach dem AEUV geht. § 79 II BVerfGG (auf den Sie sich vermutlich beziehen?) setzt “nicht mehr anfechtbare Entscheidungen” voraus, die aufgrund der nichtigen Norm ergangen sein müssen.
    In einem noch nicht abgeschlossenen Vertragsverletzungsverfahren fällt es mir indes schwer, eine Entscheidung zu sehen, so dass ich Ihre Argumentation schon deswegen für nicht übertragbar halte. Ich würde daher mit @Alexander Jannasch und @Daniel Thym annehmen, dass die Nichtigerklärung der Richtlinie auch dem Vertragsverletzungsverfahren den Boden entzieht. Anders könnte es m.E. nur sein, wenn das Verfahren bereits abgeschlossen wäre. In diesem Fall wäre die Frage, wie mit der Entscheidung zu verfahren wäre (wohl: Aufhebung) – aber das ist hypothetisch.
    Sie haben natürlich Recht, wenn Sie die Bedeutung von Rechtssicherheit hervorheben. Dem möchte ich gleichwohl eine Überlegung entgegensetzen: Das Vertrauen auf welches Recht wollen Sie denn hier schützen? Wenn ein Mitgliedsstaat von der Rechtswidrigkeit eines Rechtsaktes überzeugt ist, sollte er ihn erst einmal umsetzen (in der Annahme, dass all die Folgen dessen irgendwann – untechnisch – rückabzuwickeln sind), nur weil ein anderer Staat in dessen Vertragsverletzungsverfahren verurteilt wurde?

    @schorsch: Ich habe das zitierte Urteil nicht im Kontext gelesen, aber schon aus der zitierten Passage ergibt sich für mich eine Frage nach der Übertragbarkeit auf den hier besprochenen Fall:
    Ist in der zitierten Rs. nicht viel mehr der Angriff einer RL, die zum Zeitpunkt der Entscheidung rechtskräftig war (und es blieb, bis sie Anfang 2007 durch die Nachfolge-RL abgelöst wurde) Gegenstand?
    Vorliegend geht es aber um eine RL, die ex tunc und erga omnes (mit Wirkung für / gegen alle) für Nichtig erklärt wurde. Damit läge ein gänzlich anderer Fall vor, als in der zitierten Rs.

  12. schorsch Thu 10 Apr 2014 at 10:49 - Reply

    @kamm: Natürlich, das ist hier die Besonderheit, das wollte ich nicht bezweifeln. Über die reden wir hier. Wenn ich nicht irre, ist das noch nicht entschieden. Aber die zitierte Passage zeigt, dass wir hier nicht einfach mit mit scharfsinnigen Deduktionen aus dem deutschen Nichtigkeitsdogma operieren können. Und wenn wir schon mal beim deutschen Verständnis sind: Wenn die vom EuGH sog. “Bestandskraft” nur annähernd so funktioniert wie die Bestandskraft des deutschen Rechts, dann sind wir schon ziemlich nah an § 79 BVerfGG. Und dann bliebe die RL jedenfalls im Vertragsverletzungsverfahren Deutschland gegenüber wirksam.

  13. Aufmerksamer Leser Thu 10 Apr 2014 at 11:00 - Reply

    @kamm: richtig, Verfassungsprozessrecht richtet sich nicht an den EuGH. Hat hier auch niemand geschrieben. Ich hatte dieses “Normartefakt” in den Ring geworfen, um die Phantasie der Leute hier mal anzuregen, die aus dem Wort Nichtigkeit-Ex-tunc nur eine Option ableiten können.

  14. Aufmerksamer Leser Thu 10 Apr 2014 at 11:04 - Reply

    @kamm: Die Entscheidungen, die Sie nicht sehen, hatte ich oben schon @Sauer genannt, war vielleicht etwas zu kryptisch: Schweden ist bereits zu Strafzahlungen wegen der Nichtumsetzung dieser RL verurteilt worden.

  15. O. Sauer Thu 10 Apr 2014 at 11:04 - Reply

    @Aufmerksamer Leser: Ja, an Schweden hatte ich auch gedacht. Aber die hatten sich ja schon die Feststellung gefangen (C-185/09)? Und sich, so glaube ich mich zu erinnern, auch nicht ernsthaft verteidigt, schon gar nicht aus Grundrechtsgründen; so liest sich auch die Entscheidung (also C-185/09). Womit wir aber schon beim nächsten Thema wären:

    @schorsch: Da machen Sie natürlich einen wichtigen Punkt. Aber diese Präklusionsrechtsprechung gilt, wenn ich mich recht erinnere, doch auch nicht ausnahmslos (schwerer offensichtlicher Fehler o.ä.)? Jetzt darf man sich da auch nicht allein von seinem Grundrechtsfuror treiben lassen. Ich würde auch, wie gesagt, annehmen, dass eine solche Verteidigung normalerweise ins Leere laufen muss. Aber wäre das hier nicht doch ein solcher Fall?

  16. Aufmerksamer Leser Fri 11 Apr 2014 at 09:33 - Reply

    @Sauer: Wenn Sie schon an Schweden gedacht haben, können Sie auch gerne Ihren Lösungsvorschlag vorstellen. Schweden bekommt das Geld zurück? Oder nicht? Schweden bekommt kein Geld zurück, Deutschland braucht aber nicht zu zahlen wegen Nichtumsetzung derselben RL? Fragen über Fragen, deswegen ja der Hinweis: Ist alles nicht so einfach.

  17. […] über die Grundrechtsunion und blickt auf die Folgen für die nationalen Speicherungsgesetze. Franz C. Mayer, Matthias Wendel und Sebastian Leuschner durchleuchten das Urteil hier im Verfassungsblog. Martin […]

  18. O. Sauer Fri 11 Apr 2014 at 15:51 - Reply

    @Aufmerksamer Leser: An Schweden gedacht: Das wollte ich eigentlich als Zustimmung zu den von Ihnen aufgeworfenen Fragen verstanden wissen. Weiter oben hatte ich mich nur zum deutschen Verfahren geäußert; so ja die Ausgangsfrage von Franz Mayer in seinem Post. Dort allerdings sehe ich Ihre Probleme nicht, sondern allenfalls die von @schorsch zu Recht noch einmal ausdrücklich eingeführten (vgl. dazu übrigens auch das Verfahren gegen Österreich, C-189/09, Tz. 15-17). Kurzum: Es könnte m.E. in der Tat einiges dafür sprechen, dass Schweden kein Geld zurückbekommt, Deutschland aber nicht zu zahlen braucht. Oder brauchte, wenn die KOM das Verfahren noch betriebe und Deutschland sich entsprechend (und jetzt unter Berufung auf C-293/12) verteidigte. Aber ohne jeden Anspruch auf abschließende Erkenntnis. – Was wäre denn Ihr Vorschlag?

  19. Aufmerksamer Leser Fri 11 Apr 2014 at 15:58 - Reply

    @Schorsch: IMHO muss der EuGH Farbe bekennen, inwieweit er eine Pauschallösung macht (“ext-tunc-und-weg”), dies hieße: die Schweden bekommen das Geld zurück, oder eine differenzierte Lösung (vergleichbar § 79 BVerfGG), die zB RL Wirkungen zwischen Privaten anders behandelt als Strafzahlungen etc.

  20. schorsch Fri 11 Apr 2014 at 17:12 - Reply

    @sauer: Die Präklusionsrechtsprechung gilt dann nicht, wenn der Fehler so schwer wiegt, dass der Rechtsakt “inexistent” ist (C-177/06, Rn. 37). Dann müsste der Gerichtshof freilich implizit eingestehen, einen Rechtsakt selbst angewendet zu haben, der an derart gravierenden Mängel leidet, dass er inexistent ist.

    @aufm leser: RL-Wirkungen zwischen Privaten (so es sie denn gäbe), aber auch RL-Wirkungen zugunsten Privaten ggü dem Mitgliedstaat (welche auch immer das bei der VDS wären), wären schon deshalb anders zu behandeln, weil Private nach wie vor inzident die Nichtigkeit der RL rügen können. Sie hätten ja gegen die RL ursprünglich schon gar nicht klagen können (“zweifellos” besteht das Klagerecht schon gar nicht, vgl. TWD ff.). Daher gibt es auch keine Präklusion.
    Im Übrigen wird Schweden meiner Einschätzung nach kein Geld zurück bekommen. Die Rechtskraft des Urteils steht dem entgegen (ein Topos für den Gerichtshof auch ggü den mitgliedstaatlichen Gerichten). Zudem darf nach der Rpr des Gerichtshofs aus generalpräventiven Gründen (!) selbst nach Abstellung des Vertragsverstoßes noch ein Pauschalbetrag verhängt werden. Spannender wäre die Verurteilung zu einem Zwangsgeld gewesen. Dann wären wir quasi bei § 767 ZPO.
    Für die Beurteilung des laufenden Verfahrens könnte man sich auch die Rspr zum Rechtsschutzinteresse noch einmal genauer angucken: Beseitigt der Mitgliedstaat eine Unionsrechtsverletzung erst nach (!) Ablauf der Frist der begründeten Stellungnahme kann weiterhin durch die Kommission geklagt werden. Gegen einen Gleichlauf spricht die ex-tunc-Wirkung des jetzigen Urteils, für einen Gleichlauf die Idee der Generalprävention.
    Die Lösung über das Rechtsschutzinteresse hätte den Charme, dass sich der Gerichtshof durch Verneinung desselben nicht in Widerspruch zu seiner Rechtsprechung zur sog. “Bestandskraft” in der Begründetheit setzen müsste (auch der Unterschied zu Schweden ergäbe sich daraus).

  21. O. Sauer Fri 11 Apr 2014 at 22:11 - Reply

    @schorsch: … die aber weder Schweden (überhaupt) noch Österreich (hinreichend) gerügt hatten, wohingegen Deutschland eine solche Rüge substantiiert (= C-293/12) erheben könnte?

  22. schorsch Sat 12 Apr 2014 at 11:48 - Reply

    @sauer: Das ist von Amts wegen zu prüfen (T-79/89, Rn. 68). Ich halte außerdem die Annahme, dass die RL derart offensichtlich rechtswidrig ist, für schlecht vereinbar mit der Überraschung ob der Nichtigerklärung durch den EuGH.
    Zudem: Eine Nichtigkeitsklage gegen einen inexistenten Rechtsakt wäre mangels Gegenstandes unzulässig gewesen (ebd.). Müsste das dann nicht auch für die Gültigkeitsvorlage im vorliegenden Fall gelten?

  23. O. Sauer Sat 12 Apr 2014 at 14:51 - Reply

    @schorsch: Ihr Bsp. ist eine Nichtigkeitsklage; dort Frage der Zulässigkeit. Gilt das denn für die Verteidigung im Vertragsverletzungsverfahren gleichermaßen? Und eine Berücksichtigung von Amts wegen entbindet doch auch nicht per se von jedem Vortrag? Vgl. hierzu etwa C-74/91, Tz. 11 oder (nochmals) C-189/09, Tz. 16 f.

  24. schorsch Sat 12 Apr 2014 at 16:02 - Reply

    @sauer: Ich gebe zu, dass man diese Passagen (wie auch 226/98, Rn. 16) so lesen kann, als wäre die Prüfung im Vertragsverletzungsverfahren von einer entsprechenden Rüge abhängig. Ich wäre dennoch etwas vorsichtiger. Und würde aus den Äußerungen nicht ableiten, dass der Gerichtshof zur Prüfung von Amts wegen nicht verpflichtet sei. Um Ihre Formulierung aufzugreifen: Nein, das entbindet nicht von der Obliegenheit zu eigenem Vortrag. Das heißt aber nicht, dass das Fehlen jeden Vortrags den Gerichtshof von der Pflicht zur Prüfung vAw entbindet.
    Sei es d’rum: Jedenfalls C‑301/06 war aber eine Nichtigkeitsklage, bei der der Gerichtshof von Amt wegen die Inexistenz der RL hätte prüfen müssen. Und das diese Prüfung auf die Klagegründe begrenzt wäre, glaub ich nicht. Sie erfolgt ja von Amts wegen. Die rechtliche Inexistenz soll zudem ja gerade bewirken, dass die Rechtsordnung eine derart krasse Rechtsverletzung nicht einmal vorläufig (!) toleriert (C-137/92 P, Rn. 49).

    Aber wie gesagt: Mangels entsprechend qualifizierter Rechtsverletzung sehe ich schon die materiell-rechtliche Konstellation für derartige prozessrechtliche Überlegungen nicht. Das ist eine absolute Ausnahmerechtsprechung (siehe bloß C-137/92 P).

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