26 November 2013

EMRK kann zum Völkerrechtsbruch zwingen

Wenn der UN-Sicherheitsrat einem europäischen Staat befiehlt, gegen die Europäsche Menschenrechtskonvention zu verstoßen – darf dieser das dann machen? Und wenn, kann ihn der EGMR in Straßburg dann deswegen verurteilen?

Anders als der EuGH hatte der EGMR bislang die größte Mühe, diese Fragen halbwegs konsistent mit einem kräftigen Ja zu beantworten. Nach Al-Jedda 2009 und Nada 2012 hat der EGMR heute erneut einen Schritt in diese Richtung unternommen – wenn auch vorerst nur auf Kammerebene und mit einer zutiefst zerstrittenen Richterbank. Inhaltlich scheint mir aber diese Entscheidung, wenn sie Bestand hat, ziemlich einschneidend zu sein.

Es geht in dem Fall Al-Dulimi und Montana Management v. Schweiz um einen Iraki, der als angeblicher Saddam-Hussein-Komplize vom UN-Sicherheitsrat auf die Anti-Terror-Liste gesetzt worden war, mit der Folge, dass die Schweiz sein Vermögen einfrieren musste. Die Möglichkeit, diesen Schritt vor irgendeinem Gericht kontrollieren zu lassen, war bekanntlich dabei nicht vorgesehen.

Herr Al-Dulimi sah dadurch sein Recht aus Art. 6 EMRK (Recht auf faires Verfahren) verletzt und klagte.

Bisher hatte sich der EGMR in dieser Konstellation so beholfen, dass er auf die Spielräume abstellte, die das UN-Mandat den Mitgliedsstaaten lässt. In Al-Jedda hatte er Großbritannien verurteilt, weil dessen Besatzungstruppen im Irak einen Mann drei Jahre lang ohne Verfahren eingesperrt hatten. Die britischen Besatzungstruppen waren zwar mit einem UN-Mandat im Irak, aber das heiße nicht, dass sie durch die UN gebunden gewesen seien, den Mann einzusperren. Nur, wenn man die UN-Pflichten gar nicht anders auslegen könne als als Befehl, Menschenrechte zu verletzen, könne man sich gegenüber den Pflichten aus der EMRK auf sie berufen.

In Nada schien der Moment gekommen, zu klären, was passiert, wenn genau das der Fall ist. Da ging es um einen auf die UN-Liste gesetzten Italiener, der in einer italienischen Enklave in der Schweiz lebte. Die Schweiz durfte ihn nicht über die Grenze lassen. Auch hier zog sich der EGMR aus der Affäre, indem er fand, die Schweiz habe da noch Möglichkeiten gehabt, ihre UN-Pflichten so oder so auszufüllen.

Im heutigen Fall Al-Dulimi dagegen kommt es zum Schwur. Es gab keinerlei Möglichkeit für die Schweiz, irgendein Ermessen auszuüben. Sie musste tun, was der UN-Sicherheitsrat befahl, und fertig. Hier musste die Kammer Farbe bekennen: Wenn UN-Recht und EMRK-Recht clashen – was gilt dann?

Die Kammermehrheit hat sich für das EMRK-Recht entschieden. Sie stützt sich dabei auf eine Rechtsprechung, mit der sie bisher ihr Verhältnis zur Europäischen Union geklärt hatte, auf das Bosphorus-Urteil von 2005: Andere Bindungen aus internationalem Recht seien kein Grund, die EMRK zu missachten – aber wenn es in dieser anderen Rechtsordnung einen gleichwertigen Schutz gibt, dann könne diese Bindung einen Eingriff rechtfertigen.

Auf dieses Konstrukt greift die Kammer jetzt auch im Verhältnis zu den Vereinten Nationen zurück. Anders als in der EU gebe es aber gegenüber dem UN-Sicherheitsrat überhaupt keinen gleichwertigen Schutz, und daher habe die Schweiz, obwohl sie UN-rechtlich gar nichts anderes tun durfte, gegen ihre Pflichten aus der EMRK verstoßen.

Dass diese Position aber offizell werden kann, ist angesichts der Mehrheitsverhältnisse in der Kammer überraschend. Vier der sieben Richter hätten eigentlich im Ergebnis ein UN-freundlicheres Ergebnis gewollt. Dass sie sich nicht durchsetzten, lag nur daran, dass Richter Sajó bereits die Zuständigkeit des EGMR für solche durch UN-Recht gebundene Aktionen verneinte, bei der Begründetheit dann aber für eine Verletzung von Art. 6 EMRK stimmte.

Die Richter Lorentzen, Jočienė und Raimondi dagegen beklagen sich bitter über die Missachtung, die ihre Kammerkollegen der UN-Charta angedeihen lassen. Die schreibt in Art. 103 immerhin vor, dass die Pflichten aus ihr allen anderen Pflichten aus internationalen Verträgen vorangehen. Das kommt im Votum der Kammermehrheit überhaupt nicht vor.

So angreifbar die Position der Kammermehrheit begründungstechnisch vielleicht ist – ich bin im Ergebnis heilfroh um sie und hoffe, dass sie gegebenenfalls vor der Großen Kammer eine kraftvolle Bestätigung erfährt.

Das liefe nämlich darauf hinaus, zwischen EMRK und UN-Recht eine Art Solange-Vorbehalt zu installieren. Diese Rechtsfigur hat 1976 das Bundesverfassungsgericht erfunden, als es – ebenfalls auf mehr als dünner juristischer Grundlage – zu dem Schluss kam, es könne EU-Rechtsakte kontrollieren, solange die EU nicht selbst für einen adäquaten Grundrechtsschutz sorge. Was diese daraufhin dann schleunigst tat.

Genau das muss jetzt auch auf UN-Ebene geschehen, worauf ja im Übrigen auch der EuGH in seiner Kadi-Rechtsprechung pocht.

Ich bin ein großer Fan von Solange-Vorbehalten. Die vielfältigen, einander sich allenthalben überlagernden und in die Quere kommenden Rechtsordungen, unter denen wir heutzutage leben, kann man nicht mehr strikt und klar durchhierarchisieren. Sie müssen einander tolerieren und in Ruhe lassen und nicht permanent rechthaberisch auf dem eigenen höheren Rang bestehen – aber wenn eine von ihnen durchdreht und anfängt, im großen Stil Leute zu misshandeln, dann müssen sie dazwischen gehen können.

So sollte das Grundgesetz mich im Extremfall (nur dann, dann aber bestimmt!) gegen die EU schützen können, aber auch umgekehrt die EU gegen meinen Staat, und die EMRK gegen die EU und umgekehrt, und alle zusammen sollten mir beiseite stehen können, wenn der UN-Sicherheitsrat, aus welchen Gründen auch immer, mich mit einem Taliban verwechselt. Darum möchte ich doch bitten. Auch wenn das manchem Juristen Zahnschmerzen bereitet.


3 Comments

  1. AX Wed 27 Nov 2013 at 13:00 - Reply

    Korrektur: Der richtige Link zum besprochenen Urteil ist http://hudoc.echr.coe.int/sites/eng/pages/search.aspx?i=001-138563

  2. tv Wed 27 Nov 2013 at 16:07 - Reply

    Ich bin ein Fan vom Konzept der “internationalen Gemeinschaft” und der damit einhergehenden Relativierung des Staates als Ursprung des Völkerrechts.

    Doch sind EMRK und UN-Charta zumindest und dabei wohl überwiegend völkerrechtliche Verträge: Auf welcher Grundlage kann sich das EGMR als Organ dieses Vertrags erlauben, Ansprüche an die Charta zu stellen? Selbst beim Fehlen von Art. 103 UNC, der ja eben diese Frage mit seinem Wortlaut schon klärt, wäre ein Vorrang der EMRK unbegründet.
    Denn der Vergleich mit der Rechtsprechung des BVerfG verkennt dessen Sonderstellung als Verfassungshüter des Nationalstaats, des Ursprungs von Souveränität im Völkerrecht.

    So sehr nämlich ein intensiver Menschen- und Grundrechtsschutz wünschenswert wäre, erscheint das Urteil vor dem Hintergrund der aktuellen Völkerrechtsdogmatik unverständlich.

  3. Christoph Stein Thu 11 Dec 2014 at 17:20 - Reply

    Ich bin nur ein einfacher Bürger und ein juristischer Laie aber mir scheint eins grundlegend zu sein:
    Der Sinn des Rechtes ist der Schutz der Schwachen vor staatlicher und anderer Willkür mächtiger Instanzen. Wie immer dies in der juristischen Dogmatik ausformuliert wir, ein Recht, dass dieses Prinzip aus den Blick verliert, begibt sich auf die schiefe Bahn. Am Ende steht dann ein wie auch immer scholastisch begründeter Freisler. Das kann es nicht sein.
    Ein “ein intensiver Menschen- und Grundrechtsschutz” ist nicht “wünschenswert “, sondern unverzichtbar.

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