06 July 2013

Island, Occupy und der kurze Sommer der Anarchie

Ich bin gestern aus Island zurückgekehrt, wo ich knapp zwei Wochen lang mit meiner Familie durchs Land gereist bin. Meine Faszination für dieses entlegene Stückchen Vulkangestein im Nordatlantik ist entstanden, als ich vor zwei Jahren im Auftrag der WELT nach Reykjavik fuhr, um das isländische Verfassungsexperiment aus der Nähe zu beobachten. Diesmal stand vor allem Gletscher gucken, in heißen Quellen plantschen und im Mitternachtssonnenuntergang in Klippen herumklettern im Programm – aber auch verfassungspolitisch hört diese Insel nicht auf, mich aufs Tiefste zu faszinieren.

Das mag vielleicht auch mit der Lektüre zusammenhängen, die ich im Gepäck hatte: David Graebers “The Democracy Project“, James C. Scotts “Two Cheers for Anarchism” und den ersten Band der bei Fischer erschienenen Isländersagas.

David Graeber ist als Poster-Intellektueller und Gründerfigur der Occupy-Bewegung, James C. Scott als Erforscher staatsfreier Räume in Südostasien und anderswo berühmt geworden. Beiden gemeinsam ist die Überzeugung, dass Regierung, Gesetze, Justiz, Polizei, Zwang zu regelkonformem Verhalten, mit einem Wort: Staat etwas ist, das man besser auf Abstand halten sollte – und zwar nicht nur in der intimen Privatheit des Schlafzimmers, Beichtstuhls und Sprechstundenraums, sondern dort, wo es um um die öffentliche Lösung kollektiver Probleme, um Politik geht. Dass dort, wo der Staat nicht ist, nicht etwa der Hobbesianische Bürgerkriegsalptraum losbricht, sondern freie Menschen ihr Zusammenleben auf die gleiche friedliche und vernünftige Weise regeln, wie sie es ohnehin die meiste Zeit schon tun: indem sie miteinander reden und sich auf Lösungen verständigen, mit denen alle im Großen und Ganzen zufrieden sein können.

Es gibt kaum einen besseren Ort, sich an anarchistischer Theorie zu berauschen, als Island. Schon die Besiedlung der Insel im 9. und 10. Jahrhundert war ein anarchistisches Projekt: In diese Zeit fällt die Einigung des norwegischen Reiches unter Harald Schönhaar, und wenn man den Sagas glaubt, dann war für nicht wenige der Wikingerhäuptlinge, die das unbewohnte Island zuerst besiedelten, der Grund dafür ihr Unwille, sich den damit verbundenen Steuer- und Tributpflichten zu unterwerfen.

Sie segelten mit ihrem Hausstand nach Westen, nahmen dort Land und bewirtschafteten es, jeder auf seinem eigenen Hof. Um kollektive Probleme zu lösen und Streitigkeiten zu schlichten, versammelten sich die Häuptlinge lokal und einmal im Jahr auch national, zum so genannten Allthingi am Rande eines großen Sees im Süden, in einer langgestreckten Lavakluft namens Allmannagjá, deren Felswände akustisch gewährleisteten, dass jeder Redner auch in großen Menschenmengen verstanden wurde.

Recht und Gesetz spielten eine enorme Rolle, aber es handelte sich dabei weniger um materielles Recht als um Verfahrensrecht. So etwas wie materielles Recht gab es offenbar gar nicht so richtig: Wer in einem Prozess von den Geschworenen für schuldig befunden wurde, eine bestimmte Schandtat vollbracht zu haben, wurde auf Zeit oder lebenslang in Acht getan, d.h. außerhalb des Schutzes des Rechts gestellt, jeder durfte ihn töten und niemand ihm helfen. Aber dazu kam es nur, wenn das Opfer oder seine Angehörigen sich überhaupt zu einem Prozess entschlossen, anstatt selbst Rache zu üben (mit der Folge, dann ihrerseits verklagt werden zu können) oder durch einen Vergleich den Frieden wiederherzustellen.

In der Njáls-Saga gibt es am Ende eine lange Schilderung eines Prozesses um einen Mordbrand im Rahmen einer Familienfehde, die zu lesen ich zum Pflichtprogramm für den Grundlagenschein Rechtsgeschichte machen würde, und außerordentlich unterhaltsam ist sie obendrein. Zur Klage kommt es erst, als anders als auf den vorangengangenen 300 Seiten und gefühlten 300 Morden kein Vergleich mehr möglich ist, also die Angehörigen der Ermordeten sich ihre Rache nicht mehr durch Geldbußen abkaufen lassen. Stattdessen klagen sie, was wahnsinnig kompliziert ist: Sie müssen die Beklagten vorladen und die Klage verkünden und Geschworene benennen, und alles im richtigen Wortlaut und vor der richtigen Anzahl der richtigen Zeugen, und wer dabei einen Fehler macht, riskiert als Rechtsbrecher selbst Gut und Leben. Auf beiden Seiten treten Rechtskundige auf, die sich überbieten mit den ausgefuchstesten Verfahrenstricks: Dürfen bloße Landpächter Geschworene sein, wenn sie Milchwirtschaft betreiben? Braucht man drei Dutzend Geschworene oder vier? Am Ende platzt tatsächlich der Prozess, und beide Seiten fallen übereinander her und hacken sich wechselseitig die Gliedmaßen ab. Ich habe die ganze Saga meinen Kindern vorgelesen, und sie fanden das genauso toll wie Harry Potter.

Ich will die unfassbar gewalttätige und frauenfeindliche Gesellschaft, die in den Sagas geschildert wird, nicht romantisieren. Bemerkenswert finde ich aber, dass sie ohne Regierung auskam und trotz aller Blutrünstigkeit diese Verfassung der Regierungslosigkeit so lange stabil blieb. Zweieinhalb Jahrhunderte funktionierte sie offenbar im Großen und Ganzen, ohne dass es eines charismatischen Führers bedurfte, der von seinen Mit-Isländern Unterwerfung gegen Schutz verlangte. (Es half dabei sicherlich, dass sich die Zahl externer Feinde in Grenzen hielt, da wohl außer den wilden Wikingern sonst niemand so leicht die Idee, sich dieser unwirtlichen Insel zu bemächtigen, attraktiv gefunden hat.)

Dann aber geschah, was immer geschieht: Thomas Hobbes betritt mit säuerlicher Miene die Bühne, mächtige Clans ringen um die Macht und überziehen das Land mit Bürgerkrieg, obendrein ist die ganze Insel inzwischen abgeholzt, weshalb man keine Schiffe mehr bauen kann. Ende des 13. Jahrhunderts haben norwegischer König und römische Kirche leichtes Spiel, als sie Unterwerfung fordern. Dann wird Island dänische Kolonie und verelendet total, bis 1944 die Unabhängigkeit kommt und ein unvergleichlicher wirtschaftlicher Aufschwung beginnt, der mit der Finanzkrise 2008 einen vorläufigen Dämpfer erhalten, aber trotzdem einstweilen die Isländer heute zum langlebigstenglücklichsten, fruchtbarsten und freiesten Volk gemacht hat, das mir bislang untergekommen ist.

Dass die Isländer vor zwei Jahren das Experiment wagten, das eigene Volk kollektiv und im Konsens eine neue Verfassung schreiben zu lassen, hat bestimmt auch mit dieser Geschichte zu tun. Auch dieses Experiment ging am Ende schief.

Das gehen sie immer. Der Traum, ohne Verlust an Freiheit, ohne Hierarchie und Zwang, ohne privilegierte Zugänge einiger Weniger zu politischen und ökonomischen Ressourcen die Res Publica miteinander zu gestalten, endet immer in der Erkenntnis, dass halt wieder einmal nicht geklappt hat. Manchmal gibt es Spielverderber, ob es der Sturlunger-Clan im 12. Jahrhundert oder die heutige Oligarchie der Fischfangflottenbesitzer ist, die ihre Macht und ihr Geld einsetzen, um egalitäre Experimente jeder Art zum Entgleisen zu bringen. Manchmal ist auch einfach nur die kollektive Dummheit schuld, die erst merkt, dass Holz zum Schiffebauen alle ist, als es schon zu spät ist. Die Anarchie reicht immer nur einen kurzen Sommer lang. Dann kommt der Herbst, die Arbeit, die Furcht, der Zwang, der Staat zurück.

Dann kommt es darauf an, wie dieser Staat verfasst ist. Ist er ein bloßes Werkzeug in der Hand der Sturlunger und Fischereiflottenbesitzer, ihre Macht und ihren Wohlstand zu mehren? Dann ist er schlecht verfasst, und wir müssen die Verfassung ändern. Deshalb bin ich Konstitutionalist und kein Anarchist.

Anarchie und Staat sind komplementär zueinander. Anarchie braucht Staat, so wie die Insel das Meer braucht.

Aber das gilt auch umgekehrt. Der Staat braucht solche Inseln der Anarchie. Er braucht Leute, die den Mut und die Energie aufbringen, staatsfreie Räume zu schaffen und (eine Zeitlang) zu verteidigen. Die ihn daran erinnern, dass er Grenzen hat. Die ihm bewusst machen, dass er nur ein Werkzeug ist, dessen wir uns als freie Menschen bedienen, um besser gemeinsam miteinander leben zu können. Die uns davor bewahren, zu stumpfen, zynischen Juristenköpfen und Knechten der Alternativlosigkeit zu werden.

Deshalb bedanke ich mich bei David Graeber und James C. Scott, wenngleich ich sie nie zu Verfassungsgebern machen würde (was sie im Übrigen auch weit von sich weisen würden), von ganzem Herzen für die Urlaubslektüre. (Scotts Buch habe ich noch nicht fertiggelesen.) Einstweilen dauert der Sommer aber noch ein wenig, und bevor ich erfrischt ins zweite Halbjahr starte, in Erwartung des Herbstes und jeder Menge spannender Staats- und Verfassungsthemen, verschwinde ich noch für einige Tage im bayerischen Gebirge. Da geht es auch schön anarchisch zu.


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