19 March 2013

Rechtsschutz gegen UN-Sanktionen: Rudert der EuGH zurück?

Vor viereinhalb Jahren hat der EuGH sein epochales Urteil Kadi gefällt. Darin hat er für sich in Anspruch genommen, das Einfrieren des Vermögens von Leuten, die im Verdacht der Terrorfinanzierung stehen, am Maßstab der europäischen Grundrechte zu messen – auch wenn die Entscheidung dazu eigentlich der UN-Sicherheitsrat gefällt hat und nicht ein EU-Organ.

Aus menschenrechtlicher Perspektive war dieses Urteil eine Großtat: Das Einfrieren des Vermögens von Leuten, die im Verdacht stehen, Al-Kaida zu unterstützen, ist ein außerordentlich einschneidender Grundrechtseingriff, und dagegen war ursprünglich keinerlei individueller Rechtsschutz vorgesehen. Die Kadi-Entscheidung machte dem ein Ende: Auch in Fällen, wo das Völkerrecht keinen eigenen Entscheidungsspielraum lässt, so der EuGH 2008, dürfe die Achtung vor dem UN-Sicherheitsrat nicht zur Folge haben, dass hier mitten in der EU ein Bereich der grundrechtlichen Schutzlosigkeit entsteht.

Die Begründung des Urteils fand aber nicht überall Applaus. Wie passt eine solche Entscheidung zur Bindung der EU an das Völkerrecht? Will die EU den USA nacheifern und aus der Position des multilateralistischen Musterknaben ins Lager der exzeptionalistischen Völkerrechtsverächter überwechseln? Ist sie nicht selbst ein Kind des Völkerrechts und daher besonders zur Völkerrechtstreue angehalten?

Jetzt scheint sich im EuGH eine Kurskorrektur abzuzeichnen. Generalanwalt Yves Bot hat heute seine Schlussanträge im Fall Kadi II veröffentlicht. Das ist eigentlich immer noch der gleiche Fall Kadi, nur in der zweiten Runde. In der Zwischenzeit hat nämlich das Europäische Gericht in erster Instanz über die erneute Verfügung, Herrn Kadis Vermögen einzufrieren, entschieden. Scheinbar in treuer Umsetzung der Vorgaben des EuGH hat es detailliert geprüft, ob diese Verfügung rechtens war.

Der Generalanwalt schlägt vor, dass die EU-Justiz sich weiterhin vorbehält, die formelle Rechtmäßigkeit solcher Akte zu überprüfen: War das Verfahren in Ordnung? Sind dem Betroffenen die Gründe, warum er auf der Liste steht, mitgeteilt worden? Hatte er ausreichend Gelegenheit, sich zu verteidigen?

Die materielle Rechtmäßigkeit – also, ob er aus gutem oder schlechtem Grund, zu Recht oder zu Unrecht auf der Liste steht – sollen die EU-Gerichte dagegen im Regelfall nicht mehr prüfen. Das sollen sie künftig wieder allein die zuständigen UN-Gremien überlassen, die für die Anti-Terror-Politik schließlich die Verantwortung tragen. Nur bei offensichtlichen Fehlern sollen sie einschreiten dürfen.

Ein maßgeblicher Grund für dieses Plädoyer zum Sinneswandel ist, dass beim UN-Sicherheitsrat sich seit – oder durch? – das Kadi-Urteil vieles zum Besseren verändert hat. Es gibt eine unabhängige Ombudsperson, die darüber wacht, dass nur auf der Liste steht, wer auf die Liste gehört.

Dazu kommt, dass die Qualität der Liste davon abhängt, dass die Staaten dem Sicherheitsrat die nötigen Informationen zur Verfügung stellen – was sie womöglich nicht tun, wenn der sie an die EU-Justiz weiterreichen muss, damit die die Begründetheit der Aufnahme in die Liste überprüfen kann. Die Ombudsperson sei da ein viel besserer Weg, Terrorismusbekämpfung und Grundrechtsschutz in Ausgleich zu bringen, schreibt der Generalanwalt und distanziert sich dabei bis zu einem gewissen Grad vom dualistischen Völkerrechtsverständnis des Kadi-Urteils:

Meines Erachtens impliziert ein effektiver, auf weltweiter Ebene geführter Kampf gegen den Terrorismus statt eines Misstrauens das Vertrauen und die Zusammenarbeit zwischen den daran teilhabenden internationalen, regionalen und nationalen Institutionen. Das gegenseitige Vertrauen, das zwischen der Union und den Vereinten Nationen herrschen sollte, ist dadurch gerechtfertigt, dass die Achtung der Grundrechte ein gemeinsamer Wert dieser beiden Organisationen ist.

Das sei aber keine Blankovollmacht für den Sanktionsausschuss des Sicherheitsrats. Der Kontrollumfang hängt davon ab, wie sehr dieses gegenseitige Vertrauen tatsächlich berechtigt ist. Mittlerweile, so der Generalanwalt, sei es berechtigt, weil die Kontrolle auf UN-Ebene funktioniere. Wenn sich das ändert, dann wird auch der EuGH wieder zupacken, wenn es um den Grundrechtsschutz geht:

Je transparenter das Verfahren innerhalb der Vereinten Nationen ist und je stärker dieses auf hinreichend zahlreiche und ernsthafte Informationen gestützt wird, desto weniger werden die regionalen und nationalen Umsetzungsinstitutionen versucht sein, die Beurteilungen des Sanktionsausschusses in Frage zu stellen.

Ich traue mir kein Urteil zu, wie berechtigt dieses Vertrauen in die Kontrolle auf UN-Ebene tatsächlich ist. Aber unterstellt, es ist so, wie der Generalanwalt sagt – die Richtung jedenfalls, die er einschlägt, ist mir nicht unsympathisch.

Die brüske Art, mit der Kadi I auf der Eigenständigkeit der europäischen Rechtsordnung gegenüber dem UN-Recht bestand, hat etwas Enges. Wer für provinziell hält, was Herr Gauweiler gern für das Grundgesetz im Verhältnis zur EU in Anspruch nehmen möchte, kann eigentlich mit dieser Linie auch nicht wirklich einverstanden sein. Wenn der EuGH dem Generalanwalt folgt und jetzt stärker die gemeinsame Arbeit an der Konstitutionalisierung des Völkerrechts in den Mittelpunkt stellt, dann ist das jedenfalls schon mal ein Gewinn und kein Verlust. Kadi II könnte für Kadi I das werden, was Solange II für Solange I war.


10 Comments

  1. AX Wed 20 Mar 2013 at 11:22 - Reply

    Warum soll für den individuellen Rechtsschutz gegen Maßnahmen zur Umsetzung von Völkerrecht ein niedrigeres Schutzniveau gerechtfertigt sein als anderswo? Das scheint mir die zentrale Frage, die nicht befriedigend beantwortet wird.

    Gemeinsame Werte und darauf fußendes gegenseitiges Vertrauen rechtfertigen schließlich auch kein Zurückfahren der justiziellen Kontrolle bei der dezentralen Anwendung des EU-Rechts durch die Mitgliedstaaten.

    Noch schwächer ist die Argumentation mit der Einbindung einer Ombudsperson in das Verfahren. Eine solche kann zwar geeignet sein, um während des Verfahrens Anhörungsrechte zu sichern. Sie kann allerdings nicht rechtfertigen, die justizielle Kontrolle des Verfahrensergebnisses einzuschränken. Schon weil eine Ombudsperson keine Rechtsprechungsinstanz ist (Rn. 83). Auch werden in Wettbewerbs- und Anti-Dumping-Sachen aus der Einbindung eines Anhörungsbeauftragten keine vergleichbaren Schlüsse gezogen.

    Bemerkenswert ist auch, dass GA Bot seinerzeit Erster Generalanwalt war und sich diesen hochkarätigen Fall damit selbst zugewiesen hat.

  2. Manuel Müller Wed 20 Mar 2013 at 14:48 - Reply

    >>Ich traue mir kein Urteil zu, wie berechtigt dieses Vertrauen in die Kontrolle auf UN-Ebene tatsächlich ist. Aber unterstellt, es ist so, wie der Generalanwalt sagt – die Richtung jedenfalls, die er einschlägt, ist mir nicht unsympathisch.

    Das geht mir ganz genauso, und die Solange-II-Assoziation ist tatsächlich naheliegend. Aber ich teile auch die Zweifel, ob eine Ombudsperson ausreicht, um einen effektiven Grundrechteschutz sicherzustellen. Allenfalls kann man auf eine gewisse Selbstmäßigung des Sicherheitsrats hoffen, durch die in Zukunft keine ganz so krassen Resolutionen mehr zustandekommen wie die Terrorverdächtigenliste, auf der Herr Kadi stand. Aber strukturell sind die Vereinten Nationen (anders als die EU selbst) leider noch lange kein Rechtsstaat, sodass der EuGH seine Deckung hier auch nicht vorschnell herunternehmen sollte.

    Indessen: Die Richtung stimmt. Das Ziel kann nicht sein, die EU von einem immer ausgreifenderen Völkerrecht abzuschotten, sondern nur, diese Völkerrechtsordnung selbst demokratischer und rechtsstaatlicher, kurz: konstitutioneller zu machen.

  3. Aufmerksamer Leser Wed 20 Mar 2013 at 15:37 - Reply

    @Manuel: Dir ist schon klar, wieviel Prozent der Weltbevölkerung demokratisch & rechtsstaatlich sind? Bis wir die alle demokratisch & rechtsstaatlich haben, sollten Gerichte in Rechtsstaaten nicht auf die Anwendung von Recht verzichten. Warum auch?

  4. Dr Wed 20 Mar 2013 at 16:46 - Reply

    Bis zur Etablierung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in der Staatengemeinschaft werde ich kurz noch die Sahara begrünen!

  5. Manuel Müller Thu 21 Mar 2013 at 11:53 - Reply

    @Aufmerksamer Leser und Dr: Ist ein bisschen off-topic, aber laut Freedom House Index (der bei allen Schwächen wohl eines der besten Demokratiemessungsinstrumente ist) waren 1972 noch 29% der Staaten “frei”, 25% “teilweise frei”, 46% “nicht frei”. 2012 waren 46% “frei”, 30% “teilweise frei”, 24% “nicht frei”. Zugegebenermaßen stagnieren diese Werte etwa seit der Jahrtausendwende, während sie sich vorher recht kontinuierlich entwickelten. Dennoch: Hätten wir bei der Begrünung der Sahara dieselben Fortschritte gemacht, stünde das Wort “Desertifikation” wohl bis heute nicht im Duden.

    Davon abgesehen brauchen wir ja nicht zwingend weltweite Demokratie, um einen weltweiten Grundrechteschutz gegen Beschlüsse der Vereinten Nationen zu haben. Die Einrichtung eines UN-Menschenrechtsgerichtshofs, der das Handeln anderer UN-Organe an einer globalen Grundrechtecharta (z.B. der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) misst, ist auch ohne freie Wahlen in Simbabwe möglich. Natürlich wird das nicht einfach, natürlich wird es Widerstände geben, aber es stünde der EU sicher gut an, dieses Ziel auf die globale Agenda zu setzen.

    Und in der Zwischenzeit muss eben der EuGH sehen, wie er selbst die Balance zwischen Völkerrechtsfreundlichkeit und Grundrechteschutz hinbekommt.

  6. Aufmerksamer Leser Thu 21 Mar 2013 at 12:37 - Reply

    @Manuel: Ja, stelle ich mir auch gut vor, wenn die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte weltweit durchgesetzt wird. ZB wird Art. 23 (“Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit.”) nicht nur bei uns endlich das Arbeitsrecht à jour bringen – sondern auf einen Schlag die Arbeitslosenquote der Chinesen und Inder unter 12 Jahren anschwellen lassen.

  7. Manuel Müller Thu 21 Mar 2013 at 16:38 - Reply

    @Aufmerksamer Leser: Bitte aufmerksam lesen. Wovon ich geschrieben habe, war, das Handeln der UN-Organe an einer globalen Grundrechtecharta wie der Allgemeinen Erklärung messen zu lassen, nicht alle Staaten zur Einhaltung dieser Standards zu verpflichten. Letzteres wäre zwar auch schön, ist aber deutlich schwieriger zu erreichen und im Kadi-Kontext, um den es hier geht, irrelevant.

  8. Aufmerksamer Leser Thu 21 Mar 2013 at 20:32 - Reply

    @Manuel: Jetzt wundere ich mich! Weshalb sollte ausgerechnet der Sicherheitsrat zu etwas verpflichtet sein, wozu nicht alle Staaten verpflichtet sind? Du schlägst also vor, den chinesischen Vertreter im Sicherheitsrat Standards (“Gleicher Lohn für gleiche Arbeit”) zu unterwerfen, die für die Volksrepublik China gar nicht verpflichtend sind?

    Vor welchem Gericht klagt dann der (äh, wer eigentlich? egal…) Mr. X ein entsprechendes Abstimmungsverhalten der Russen und Chinesen im Sicherheitsrat ein?

  9. Manuel Müller Thu 21 Mar 2013 at 22:05 - Reply

    Nun ja, das Modell, dass die supranationale Ebene an eine Grundrechtecharta gebunden ist, die für die nationale Ebene allein nicht gilt, haben wir in der EU ja auch. Und mein Vorschlag bezog sich gerade auf die mögliche Einrichtung eines neuen UN-Gerichts, das auf Grundlage einer solchen Charta Resolutionen des Sicherheitsrats einem judicial review unterziehen könnte. (Im Zusammenhang mit dem Fall Kadi wären da wohl eher Artikel 10 und 11 als 23 der Allgemeinen Erklärung einschlägig.) Aber ich habe Besseres zu tun, als hier Trolle zu füttern, deshalb EOD.

  10. […] Justiziabilität von Maßnahmen auf Basis des UN-Antiterrorregimes wieder zurückzuschneiden. Auch Generalanwalt Yves Bot schlug in seinen Schlussanträgen einen Kompromiss vor: Bei der Justiziabilität sollte es bleiben, […]

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