30 November 2009

Schweiz: Diktatur der Mehrheit

57 Prozent der Schweizer stellen den Muslimen ihres Landes verfassungsrechtlich den Stuhl vor die Tür. Sie machen die Grundrechte ihrer Verfassung auf Glaubensfreiheit (Art. 15 I, II) und Schutz vor religiöser Diskriminierung (Art. 8 II) bedenkenlos kaputt, weil sie es für wichtiger halten, ihre nationale Toblerone-Identität rein und sauber zu halten.

52 Prozent der Kalifornier kicken das Recht von Schwulen und Lesben, in ihrer sexuellen Identität genauso anerkannt und respektiert zu werden wie Heteros auch, aus ihrer Verfassung: Die enthält künftig den Satz, dass nur Ehen zwischen Mann und Frau “valid or recognized in California” sein können.

Was haben diese beiden Vorgänge miteinander zu tun? Es geht beide Male um Verfassungsänderungen. Es geht beide Male um Plebiszite. Und es geht beide Male um Diskriminierung von Minderheiten.

Kann es sein, dass diese Dreifachparallele nicht ganz zufällig ist?

Verfassungsrecht ist Minderheitenschutz: Es schränkt das Recht der Mehrheit, auf Kosten der Minderheit Gesetze zu machen, ein. Plebiszite sind das Brecheisen, mit dem sich die Mehrheit trotzdem ihren Willen verschaffen kann: Na gut, sagt die Mehrheit. Dann knacken wir die Verfassung eben auf. Dann schreiben wir unseren Willen direkt in die Verfassung.

Zum Brecheisen taugen Plebiszite deshalb, weil sich daran der Anspruch knüpft, dass das “Volk” direkt entscheidet. Und das Volk ist bekanntlich der Souverän. Es ist immer so: Wenn sich jemand auf Souveränität beruft, dann heißt das, dass er nicht reden will. Dass er die Zustimmung der Anderen nicht braucht und nicht will. Dass er über die Anderen einfach drüberlatscht.

In Plebisziten entscheidet aber nicht das “Volk”, das ist ein großer Irrtum. In Plebisziten entscheidet die Mehrheit. Es wird gefragt: Machen wir es so? Wenn dann mehr als die Hälfte der Befragten den Finger hebt, dann machen wir es so. Und zwar auch die, die ihren Finger nicht gehoben haben.

Das klingt einfach, ist es aber nicht: Wer formuliert die Frage? Die Mehrheit wovon? Und was, wenn die Überstimmten die Entscheidung nicht akzeptieren, weil sie sagen, wir werden hier nicht überstimmt, sondern unterdrückt?

Plebiszitäre Mehrheitsdemokratie ist eine extrem voraussetzungsreiche Sache. Sie kann in kleinen, homogenen Gemeinschaften funktionieren, wenn diese sehr stabil sind und aus lauter Gleichen bestehen, die noch lange Zeit miteinander auskommen müssen. In der antiken Polis beispielsweise – vorausgesetzt, die Frauen und Habenichtse sind von vornherein nicht mit dabei. Oder im idyllischen Innerrhoden, wo man sich ohne Alphorn und Almöhibart vermutlich kaum noch auf die Straße trauen kann.

Diese Voraussetzungen sind aber weit und breit nirgends gegeben, und zwar – face it, Eidgenossen! – auch in der Schweiz nicht.  Statt unter lauter Gleichen zu leben, müssen wir überall mit Differenz zurecht kommen. Müssen reden und verhandeln und anerkennen und gemeinsame Grundlagen bauen, und mit Abstimmen und Majorisieren kommen wir keinen Schritt weiter.

Viele glauben, genau das sei der eigentliche Skandal. Das sei gefährlich für die Demokratie, dass wir nicht mehr einfach abstimmen können über die Dinge. Dem müsse man entgegensteuern, und zwar mit den Mitteln des Verfassungsrechts. Auch das Bundesverfassungsgericht hatte mal eine Phase, wo es in diese Richtung tendierte.

Diese Medizin, davon bin ich überzeugt, ist viel gefährlicher als die vermeintliche Krankheit. So gehen Verfassungen kaputt. Kalifornien, Musterland der plebiszitären Demokratie und einer Verfassung unterworfen, die zu den Ältesten der Welt gehört, wird inzwischen von manchen als “failed state” bezeichnet. Der Schweiz kann man nur zurufen: Macht nur so weiter.

Update: der Vorgang aus US-Sicht hier und hier, aus französischer Sicht hier, aus Euroblogger-Sicht hier, hier und hier.

Update: Der European Law Blog weist zu Recht darauf hin, dass die Schweiz mit dem Minarett-Verbot den UN-Zivilpakt und die EMRK verletzt. Außerdem erinnert er daran, dass EU-Mitgliedsstaaten – Österreich eingeschlossen (“Daham statt Islam”) – ein solches Verbot nicht beschließen könnten.


5 Comments

  1. egal Mon 30 Nov 2009 at 13:07 - Reply

    Es geht um Minarette, nicht um Moscheen. Von daher kann ich die aufgeregte Schreibweise nicht so ganz verstehen. Die wenigsten Moscheen im nicht-arabischen Ausland haben Minarette. Offenbar sind diese kein notwendiges Muss für die Religionsausübung.

    Zudem geht von Minaretten mit Ausrufern ein beträchtlicher Lärm aus. Alleine deswegen ist das Anliegen der Mehrheit der Schweizer berechtigt. Vermutlich gibt es in der Schweiz noch nicht mal Minarette.

    Im Übrigen finde ich die Wortwahl “Diktatur der Mehrheit” für heuchlerisch. Würden Sie Bundestagsbeschlüsse regelmäßig auch so bezeichnen? Oder Regierungshandeln?

  2. Andreas Mon 30 Nov 2009 at 14:39 - Reply

    Misjö Egal, natürlich sind Minarette genauso wenig nötig für die Religionsausübung von Muslimen wie es der Kirchturm mit seinen Glocken für die Christen ist. Deswegen verbieten wir ja trotzdem den Christen nicht den Bau neuer Kirchen und die Nutzung der Kirchturmglocken, oder?

    Es gibt in der Schweiz übrigens unter 7.5 Millionen Einwohnern etwa 400.000 Bürgerinnen und Bürger muslimischen Glaubens, rund 50.000 davon sind praktizierende Muslime. Und es gibt unter den ca. 150 Moscheen nur 4 mit Minaretten (Genf, Zürich, Winterthur, Wangen) – und keine einzige davon hat einen ausrufenden Muezzin.

    Es ist sehr wohl eine Diktatur der Mehrheit, wenn mit einem Ergebnis von 57% der Abstimmenden – und das waren ja auch nur knapp 54% der Abstimmungsberechtigten – die eigene Verfassung ausgehebelt werden kann, um eine Minderheit in ihren Rechten zu beschneiden. Es ist eine Errungenschaft unserer Zeit, dass Demokratie mit dem Schutz der Menschenrechte für alle einhergeht – eine Errungenschaft, die unter dem Deckmantel einer angeblichen direkten Demokratie mit Füßen getreten wird.

    Wohin das führen kann, hat man durch die Anschläge der letzten Tage auf die größte Schweizer Moschee in Genf gesehen.

    Politik und Medien, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände hatten alle eindeutig Stellung gegen das Minarettverbot bezogen. Diejenigen, die trotzdem – bewusst oder unbewusst, direkt oder indirekt – für das Verbot gestimmt haben, müssen sich auch den Vorwurf gefallen lassen, ihre rassistischen und demagogischen Initiatoren unterstützt zu haben.

    Das eigene Abstimmungsverhalten kann man sich nun auch nicht mehr mit Floskeln – die Religionsausübung sei ja gar nicht beschnitten worden – schön reden oder mit real nicht existenten Bedrohungen – Minarette seien ein Symbol von islamistischem Anspruchsdenken – schön reden.

  3. Michael Kostic Mon 30 Nov 2009 at 23:27 - Reply

    Einmal mehr kann man sehr schön beobachten wie wichtig ge- wie erlebte Demokratie wirklich ist. Es stellt sich nämlich die Frage wie das Ergebnis ausgefallen wäre, wenn sich über 90% der Wahlberechtigten aus Überzeugung an solchen Wahlen beteiligen würden.

    Grundsätzlich irrt der Autor in seinem Zorn über das Ergebnis. Er zürnt tatsächlich all die Ignoranten die nicht verstehen das Demokratie und Freiheit kein Geburtsrecht sind, man täglich erneut dafür kämpfen muss. Wir wären gut darin beraten unseren Zorn in Tatkraft umzumünzen und in unserem Leben die Demokratie als solches deutlich wichtiger zu sprechen, zu schreiben und zu leben.

    Auch Demokratie will gelernt sein. Wer lehrte sie uns und vor allem wie?

  4. Chris Mon 7 Dec 2009 at 11:39 - Reply

    Nun muss sich also die Schweizer Regierung schämen und beim Ausland für ihr islamophobes Volk entschuldigen.

    Aber sind wir wirklich islamophob? Eine Phobie ist eine unangemessene, uebertriebene Angstreaktion auf eine ganz normale Situation. Wenn man aber ueber Jahre tagtaeglich am Fernseher eine unaufhoerliche Mordserie an unschuldigen Menschen mitverfolgen muss, verbunden mit Hasspredigten, Drohungen und katastrophalen Menschenrechtsverletzungen, die mit Koranversen begruendet werden, dann meine ich, ist es eine angemessene Reaktion, Angstgefuehle zu entwickeln. Ich meine, das müssten auch Politiker und sogar friedliebende Muslime verstehen können.

    Auch Angst zu empfinden, ist ein Menschenrecht.
    Viele meiner persoenlichen Freunde – Muslime und Nichtmuslime – sind aus Angst vor Muslimen in die Schweiz geflohen. Diese sind nun sehr glücklich über das Abstimmungsresultat.

    Ich schaeme mich nicht für den Minarettentscheid, ganz egal, ob es nun ein Entscheid gegen das Minarett oder gegen den Islam war. Die Gewalt, die im Namen des Islam weltweit veruebt und verherrlicht wird, hat mir oft den Schlaf geraubt. Ich bin ja von Berufes wegen gezwungen, mich tagtäglich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Nun bin ich glücklich und stolz darauf, dass das Schweizer Volk als erstes der Welt hier mal einen klaren Protestschrei eingelegt hat. Und im Namen des Schweizer Stimmvolkes fordere ich als Islamspezialist die Schweizer Politiker auf, sich nicht beim Ausland für ihr vermeintlich angsthasiges Volk zu entschuldigen, sondern den muslimischen Staaten zu erklären, dass unser Volk aus verständlichen Gruenden Angst hat.

    Diese Furcht ist nichts anderes, als eine ganz normale menschliche Reaktion auf ihre seit 14 Jahrhunderten ungeloesten und ungebändigten Gewaltprobleme.

    Das Schweizer Volk will mit diesem Entscheid sagen: “Liebe muslimischen Brueder, bitte geht über die Bücher und streicht die Gewalt- und Diskriminierungsverse aus dem Koran und dem Leben Mohammeds, und wir werden sofort unsere Ängste verlieren! Und wenn Ihr das nicht könnt, dann verbietet uns wenigstens nicht, wie ganz normale Menschen Angstreaktionen zu entwickeln.

    Man muss nicht den Esel schlagen, der wegen einer Schlange den Gehorsam verweigert, sondern die Schlange vertreiben. Oder ihr wenigstens die Giftzähne ausreissen. Dann wird der Esel wieder gehorchen. Auch wir Schweizer gehorchen unserer Regierung normalerweise gerne. Und wenn wir es in diesem Falle nicht tun, dann beachtet bitte die wahren Gründe dafür, bevor ihr Euch für uns schämt.

    In Jesu Liebe verbunden

  5. […] am Sonntag per Verfassungsreferendum die Homo-Ehe verboten, die Schweizer bekanntlich den Bau von Minaretten und den verhältnismäßigen Umgang mit kriminellen Ausländern, und was die Kalifornier in ihrem […]

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