Zwischen Völkerrecht und Selbstbestimmung
Nach den Umbrüchen von 1989/1991, dem Zerfall Jugoslawiens und der Quasi-Sezession Abchasiens und Süd-Ossetiens von Georgien stellt die Abspaltung der Krim von der Ukraine einen weiteren Schritt der territorialen Neuordnung Europas nach dem Ende des Kalten Kriegs dar. Beim Vorgehen Putins handelt es sich um die dürftig getarnte Annexion eines fremden Territoriums mit offensichtlich vorgeschobenen Argumenten; um ein Vorgehen also, das eher ins 19. Jahrhundert gehört und das sich in der Jetztzeit als wenig produktiv erweisen dürfte. Russland ist im 21. Jahrhundert stark in die globale Arbeitsteilung eingebunden; seine Eliten werden nicht lange Freude an der sich abzeichnenden internationalen Isolierung haben.
Erklärt wird der russische Ansatz mit einer spezifischen Interpretation der internationalen Ordnung, die auf den postsowjetischen Raum als Einflusssphäre rekurriert. Eine wichtige Rolle spielen dabei die in der Ukraine und anderswo lebenden ethnischen Russen, die seit Jahren mit russischen Pässen ausgestattet werden und daher auch legal unter einem von Russland aufgespannten Schutzschirm leben. Dass sich die russischen Behörden weigern, den Umfang der ausgegebenen Pässe mitzuteilen, zeugt von imperialen Hintergedanken, mit denen sich Europa noch über Jahrzehnte hinweg auseinandersetzen wird. Russland verfolgt in seiner Nachbarschaft eine spätkoloniale Strategie der selektiven Einmischung.
Welche Szenarien zeichnen sich vor diesem Hintergrund für die Ukraine ab? Zur Annäherung an eine Antwort sollten zwei Denkmodelle unterschieden werden, die in der öffentlichen Debatte häufig vermischt werden. Das erste Denkmodell orientiert sich am Völkerrecht. Die Krimfrage wird hier über die Frage thematisiert, ob im 21. Jahrhundert an der existierenden Staatenordnung gerüttelt werden darf. Das Völkerrecht sagt recht eindeutig „nein“, und daher stellt das russische Vorgehen eine völkerrechtswidrige Handlung dar. Die Verurteilung durch die westliche Diplomatie ist aus dieser Perspektive nachvollziehbar.
Weniger eindeutig liegen die Dinge jedoch, wenn wir uns dem Thema über das Denkmodell der Selbstbestimmung nähern. Hier lautet die Frage, ab welchem Moment eine irredentistische Bewegung oder deren politische Eliten das Recht haben, sich einem Mutterstaat anzuschließen oder sich für unabhängig zu erklären. Es gibt es keine allgemein akzeptierte Antwort auf die Frage, wann Selbstbestimmung legitim ist. Die kurdischen wie baskischen Autonomiebewegungen gelten wegen ihrer Neigung zur Gewalt als diskreditiert und können daher nicht auf ausländische Unterstützung zählen. Den Kosovo haben dagegen mehr als 20 EU-Staaten anerkannt, obwohl die dortige separatistische Bewegung ebenfalls nicht zimperlich bei der Wahl ihrer Mittel war. Ein Problem des Westens besteht also darin, die Denkmodelle des staatszentrierten Völkerrechts und der an Bevölkerungen orientierten Selbstbestimmung in der Vergangenheit gegeneinander ausgespielt haben. Das positiv besetzte Leitbild der „Demokratisierung“ hat dazu verführt, Autonomiebewegungen in nicht-demokratischen Staaten schneller für legitim zu erklären als das Völkerrecht sowie das damit verbundene System der Vereinten Nationen eigentlich erlauben.
Sicherlich lässt sich den Behauptungen Putins, die russische Minderheit in der Ukraine unterläge lebensbedrohenden repressiven Maßnahmen, kaum folgen. Dennoch ist es nicht angebracht, den latenten Selbstbestimmungswillen der Russen in der Ukraine zu diskreditieren. Die Korruption der ukrainischen Eliten, deren konstantes Ausspielen der West- gegen die Ostukraine sowie das Fehlen langfristiger politischer Leitlinien in fast allen Politikbereichen: all diese Punkte stehen für ein Regime von bad governance, das in Europa unter Einschluss Osteuropas ohne Beispiel ist. Die neue ukrainische Regierung hatte vor einigen Wochen nicht besseres zu tun, als nun auch noch den Gebrauch des Russischen in den russischsprachigen Regionen einzudämmen zu versuchen. Das fehlende Vertrauen der Krimbewohner in das Kiewer Regime ist unter diesen Bedingungen leicht zu erklären; das Referendumsergebnis erscheint trotz der fragwürdigen Umstände der Abstimmung nicht verfälscht.
Wie geht es nun weiter? Gegenwärtig kann es in Kiew, Berlin und Brüssel nur um Schadenbegrenzung gehen. Auf der Ebene der internationalen Politik müssen Signale an Russland ausgesandt werden, dass seine Aggressionspolitik keine Zukunft hat. Hier muss dem Denkmodell des Völkerrechts gefolgt werden. Auf der Ebene des Selbstbestimmungsrechts sollte die ukrainische Regierung dagegen davon überzeugt werden, der Selbstbestimmungsdiskussion in der Ostukraine konstruktiv entgegenzutreten. Noch vor den Wahlen im Mai sollten Vorschläge formuliert werden, welche Autonomieangebote den östlichen Regionen der Ukraine gemacht werden können, über die zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls mit Abspaltungsreferenden entschieden werden kann. Die Abstimmung um das Saarstatut im Jahr 1955 hat gezeigt, dass derartige Prozesse zwar kurzfristig schmerzhaft und umstritten sind, aber langfristig Legitimität erlangen können. Die neue Führung in Kiew besteht sehr darauf, durch das Volk legitimiert zu sein. In Donezk, Odessa oder Charkiw kann sie nun beweisen, dass ihr das Selbstbestimmungsrecht in der östlichen Ukraine ebenso viel wert ist wie die Basisdemokratie des Maidan.
s. Mursweick, Die Problematik eines Rechts auf Sezession – neu betrachtet, in: AVR 31 (1993), S.307-332
Dafür, dass aus der russischen Ukraine- respektive Krimpolitik gleich ein ganzes Konzept herausgedeutet wird, erfolgt doch eine viel zu knappe – man ist versucht zu schreiben: gar keine – Darstellung der vorhergehenden Ereignisse. Diese mögen bei der völkerrechtlichen Bewertung des Geschehens in diesen Tagen zwar nur von mittelbarer Bedeutung sein, sind jedoch dennoch nicht außer Acht zu lassen. Man wird feststellen können, dass ohne den Regierungssturz Janukowitsch und der sich daran anschließend ins Amt gesetzten Interimsregierung samt der von dieser ausgehenden Handlungen und Bemerkungen das Vorgehen Russlands doch sehr wahrscheinlich anders ausgehen hätte.
Von daher scheint mir, dass der den in meinen Augen durchaus vernünftigen und zutreffenden rechtlichen Einschätzungen ein zu knapper und unvollständiger Sachverhalt zu Grunde gelegt wird. Ohne Not, darf man meinen, denn sowohl die staatliche Souveränität als auch das Selbstbestimmungsrecht wurden durch die dem aktuellen Geschehen vorhergehenden Entwicklungen doch ebenfalls berührt. Wie steht es um die Legalität von Unterstützungshandlungen zu Dauerprotesten und -aufständen in fremden souveränen Staaten, wie diese hier allem Anschein nach – nicht duch Russland – stattgefunden haben? Denn denkt man den Gedanken nun zu Ende, so wäre es unbefriedigend, allein die Reaktion Russlands nach ihrer völkerrechtlichen Legalität, nicht aber das diese verursachende Geschehen davor nach ähnlichen Maßstäben zu untersuchen.
Trauriger Beitrag. Ich hatte mir erhofft auf Verfassungsblog.de die “Krimkrise” einmal aus einer wissenschaftlichen insb. objektiv völkerrechtlichen Perpektive erläutert zu bekommen.
Leider benutzt auch Prof. Beichelt eine sehr voreingenommene Sprache. Wäre die pro russische Bevölkerungsschicht eine “Minderheit”, warum hat sie bei der letzten Wahl Janukowitsch gewählt? Warum ist das geostrategische verfolgen von Interessen “postkolonial”? Wann war Russland überhaupt Kolonialmacht im Gegensatz zu denen, die jetzt solche Worte in den Mund nehmen(GB, USA, Frankreich, Deutschland)?
Der eigentliche Skandal ist doch nicht die Annexion der Krim, sondern das fehlende Kommunizieren von objektiven Kriterien an den Bürger um diese zu beurteilen. So wird mir in russischen Medien erklärt, der Vorgang verstöße nicht gegen Völkerrecht. Andersherum erklären mir britische, amerikanische und deutsche Medien, Russland vertsöße gegen Völkerrecht. Keiner von beiden befindet es aber als nötig die Rechtslage zu erklären. Ich soll also als Bürger vertrauen statt mündig urteilen. Recht soll aber nicht von dem ausgehen dem man Vertraut, sondern im geschriebenen Wort durch Auslegung der Wahrheitsfindung dienen oder durch den Ausgelegt werden den man durch Wahl dazu legitimiert hat.
Auch Prof. Beichelt schreibt: “das Völkerrecht sagt recht eindeutig nein”. Aber warum tut es das? Weil Staaten als saturiert gelten sollen? Wenn Staat Staatsgewalt, Staatsvolk und Staatsgebiet heißt, warum ist die Ukraine dann noch ein Staat, wenn sich das Volk offensichtlich nicht mehr als Einheit betrachtet und Staatgewalt sich während des Umsturzes “verabschiedet” hat?
Ich hätte mir gewünscht, dass wenigstens im Verfassungsblog die Möglickeit geboten wird, mir über eine Drastellung der Rahmenbedingungen selbst eine Meinung zu bilden.
In politischer Hinsicht ist meiner Ansicht nach keine der beiden “Fraktionen” schützenswerter als die andere. Nehmen wir mal Kuba als Beispiel, um zu sehen das “aktives” verteidigen geostrategischer Intereressen insb. der USA nicht fremd ist.
Bermerkenswert ist darüber hinaus das in deutschen Medien von der ukrainischen Regierung gesprochen wird. Das halte ich für subtile Manipulation. Wer hat die gewählt? Hab ich Demokratie nicht verstanden?
Die führt uns zur nächsten interessanten Frage, auf die bisher eine Antwort ausbleibt und zwar wie es sich mit dem Verhältnis von “Wehrhafte Demokratie”, Putsch, Völkerrecht und Intervention durch Drittstaaten verhält.
Nichts für ungut
Wolfgang Riemann
Der Verfasser will für die Beantwortung der Krimfrage zwei Denkmodelle unterscheiden: Völkerrecht und Selbstbestimmung. Diese beiden Konzepte würden fälschlicherweise oft vermischt. Wie die Überschrift verdeutlicht, sind sie jedoch aus Sicht von Prof. Beichelt richtigerweise quasi Gegensätze.
Seine lapidare Aussage zum Völkerrecht lautet, dieses sage `recht eindeutig „nein“, und daher stellt das russische Vorgehen eine völkerrechtswidrige Handlung dar.’
Für das andere `Denkmodell’ der Selbstbestimmung, gäbe es dagegen `keine allgemein akzeptierte Antwort auf die Frage, wann Selbstbestimmung legitim ist.’
Selbstbestimmung ist jedoch nicht allein eine politisch-moralische (`legitim’), sondern auch eine völkerrechtliche (vgl. nur Art. 1 IPbürgR) Angelegenheit. Ein erster Blick in Wikipedia hätte vielleicht schon geholfen: http://de.wikipedia.org/wiki/Selbstbestimmungsrecht_der_V%C3%B6lker. Von Völkerrecht und Selbstbestimmungsrecht im gleichen Atemzug zu sprechen, ist daher keine unzulässige Vermischung. Das völkerrechtliche Selbstbestimmungsrecht der Völker ist eine komplizierte Sache, das ist zuzugeben. Warum aber für die Annäherung an die Krimfrage ‘zwischen Völkerrecht und Selbstbestimmung’ zu unterscheiden ist, erschließt sich mir jedenfalls aus dem Beitrag nicht.
Zur völkerrechtlichen Einschätzung der Krimfrage sagt der Beitrag tatsächlich eigentlich gar nichts, da muss ich meinem Vorredner beipflichten. Aber vielleicht wird hier auf einer politikwissenschaftlichen Ebene argumentiert, in der `Völkerrecht’ und `Selbstbestimmung’ etwas anderes bedeuten als für Juristen? Gute Analysen, in denen das auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker als völkerrechtliches Problem diskutiert wird, kann man derzeit beim Ukraine Insta-Symposium von opiniojuris finden.
Zwischen Völkerrecht und Selbstbestimmung
Mit diesem Leitgedanken seines Artikels thematisiert Timm Beichelt zwar unterschiedliches, gegensätzliches Verstehen von dem, was einerseits als Völkerrecht und andererseits als Selbstbestimmung werde und zu bezeichnen sei.
Doch es geht ihm in seinem Artikel nicht darum, zum wissenschaftlichen Verstehen von Völkerrecht und Selbstbestimmung beizutragen, sich mit dem herrschenden Verständnis dazu öffentlich auseinanderzusetzen.
Er will sich einer Antwort auf die Frage, wie Völkerrecht und Selbstbestimmung gelten und angewendet wurden und werden sollten, mit Denkmodellen nähern: warum und was hierbei zwischen den so Bezeichneten unterschiedlich, gegensätzlich verstanden wurde und werde.
Er will sich zwar mit Denkmodellen – dem Denkmodell des Völkerrechts und dem Denkmodell der Selbstbestimmung – dieser Antwort (nur) nähern. Selbstbestimmung könne er aber dabei nicht als Selbstbestimmungsrecht bezeichnen, denn letzteres sei als eine andere Ebene (von Denkmodellen?) zu verstehen.
Außerdem müsse dem Denkmodell des Völkerrechts gefolgt werden, damit mit seinen zwei Denkmodellen das Verstehen einer Antwort auf die genannte Frage nicht darüber hinaus verführt werde, was das Völkerrecht . . . eigentlich erlaube.
Es ist auch sein „Glück“, dass Völkerrecht, Selbstbestimmung, Selbstbestimmungsrecht beliebig verstanden wird und werden darf, und das bleibt ihm erhalten, wenn sein veröffentlichtes Verständnis davon nicht in Konflikt gerät, was eigentlich erlaubt ist.
Leider können sich auch Völkerrechtler der Deutungshoheit der Politiker des Landes nicht enziehen, wenn diese schon festgelegt haben was Völkerecht ist. Völlig abzulehnen ist die Fragestellung
“Völkerrecht oder Selbstbestimmung”;weil gerade die Selbstbestimmung der Meschen und Völker zu den höchsten Rechtsgütern,wie aus vielen Rechtsakten der UNO zu entnehmen ist,gehört. Das Problem besteht nur darin,dass iim Falle einer angestrebten Sezession eines Volkes oder Volksgruppe nicht geregelt ist,unter welchen Voraussetzungen dies erfolgen kann.Einigkeit sollte darüber bestehen,dass dies bei schwerwiegenden Verletzungen der UNO-Menschen-und Minderheitenrechte durch einen Staat und das Volk bzw.die Volksgruppe in einem geschossenem Territorum vom Staat abgrenzbar ist, möglich sein kann.Einer genaueren Reglung des Selbstbestimmungsrechtes streben die Staatelenker nicht an, weil eine mögliche Verkleinerung ihres Machtbereich ihren machtpolitischen Interessen widersprechen würde. Die ” Territoriale Integrität ” eines Staates wird nach einem gesunden Rechtsverständnis zweitrangig wenn einer Volksgruppe im Staat die zustehenden Rechte verweigert werden und eine territoriale Abspaltung als Ultima ratio möglich ist.
[…] Crimea’s secession/annexation to the Russian Federation and on its illegality (see on this blog here) and I personally agree with these statements. At the same time, I believe that the Crimean problem […]