19 March 2013

Deals im Strafprozess: Das Verfassungsgericht als Kesselflicker

Die gesetzliche Regelung zum Deal im Strafprozess ist ein löchriges Fass. 2009 hat der Gesetzgeber das Gefäß geschaffen, um die einsickernde Praxis, Angeklagten für Kooperation mildere Strafen in Aussicht zu stellen, aufzufangen. Doch die 240 Wörter des § 257c StPO reichen nicht, den giftigen Inhalt zu halten. Überall rinnt und rieselt es hinaus.

Das deutsche Strafrecht funktioniert, anders als das aus Film, Funk und Fernsehen bekannte amerikanische, nach dem Schuldprinzip: Der Staat darf strafen, wenn und soweit er jemandem die Schuld für eine Straftat nachweist. Der Strafprozess ist kein Kampf zwischen Staatsanwalt und Angeklagtem, sondern eine Untersuchung des Gerichts. Es geht nicht um Sieg oder Niederlage, sondern um die Wahrheit.

Der Staat weiß nicht genug

Das hat den Vorteil, dass man als Beschuldigter weniger als in den USA auf Gedeih und Verderb davon abhängt, dass man einen guten Anwalt bezahlen kann, der den Kampf für einen führt. Es hat aber den Nachteil, dass es sich in der modernen Welt und im modernen (Wirtschafts-, Umwelt-, Steuer-)Strafrecht alles andere als von selbst versteht, was das überhaupt sein soll: die Wahrheit.

Der Staat weiß nicht genug. Er muss, wie in der Wirtschaft auch, die Privatinteressen der Betroffenen für sich einspannen, um zum Ziel zu kommen. Er muss sich von seiner Hoheitsposition hinabbegeben auf den Marktplatz der Informationen und das Spiel mitspielen, das dort nun mal gespielt wird: Handel, oder auf englisch: Deal.

Interessen haben aber nicht nur der Angeklagte und sein Verteidiger, sondern auch die Richter und Staatsanwälte. Ein reibungslos und schnell zu Ende geführtes Verfahren schont ihre Nerven und ist gut für ihre Karriere. Der Verteidiger hat auch keine Lust, sich länger herumzuplagen als nötig. So kann es schnell dazu kommen, dass das, was im Urteil steht, mit der Wahrheit nicht mehr viel zu tun hat, ja sogar die alte Schreckensvision des erzwungenen falschen Geständnisses wird plötzlich ganz real.

Ein löchriger Kessel

2009 hatte der Gesetzgeber den Versuch unternommen, den Kuchen gleichzeitig zu essen und zu behalten: Im neuen § 257c StPO legalisierte er die Verständigung im Strafprozess, allerdings unter allerhand Maß- und Vorgaben und Einschränkungen, die gewährleisten sollten, dass am Ende trotz alledem die wahre Schuld oder Unschuld des Angeklagten und sonst nichts über Strafe und Strafmaß entscheiden.

Das taten sie aber nicht. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht letzten November stellte sich heraus, dass ein ganz erheblicher Teil der Strafjustizpraxis auf diese ganzen Vorgaben und Einschränkungen pfeift. Im offiziellen Teil, in der Hauptverhandlung, im Protokoll keine Spur von einem Deal, aber informell, auf dem Gang draußen steckt man unter Juristen dann doch schnell die Köpfe zusammen, denn was die Revisionsinstanz nicht weiß, macht sie nicht heiß. Wenn man sich schon auf dem Marktplatz trifft, dann wird eben auch gedealt. Es haben doch alle ein Interesse daran, oder nicht?

Was folgt nun verfassungsrechtlich daraus? Das Schuldprinzip steht nicht zur Disposition des Gesetzgebers, ja nicht einmal in der des Verfassungsgebers.

Das, so der Zweite Senat, heißt aber noch lange nicht, dass Deals im Strafprozess nicht erlaubt seien. Nur müsse halt das Schuldprinzip auch den Marktplatz beherrschen. Und wenn es dem Gesetzgeber nicht gelungen ist, das durchzusetzen, dann muss es halt der Senat selber tun.

Weder das Fass noch sein Inhalt wandern auf die Sondermülldeponie, stattdessen krempelt der Senat höchstselbst die Ärmel hoch, setzt sich die Schweißerbrille auf und macht sich daran, die Löcher eins nach dem anderen abzudichten: Informelle Deals darf es überhaupt nicht geben, Geständnisse im Rahmen eines Deals müssen stets in der Hauptverhandlung überprüft werden, die Revision muss wenn irgend möglich zulässig sein, und noch viele Punkte mehr.

Das Urteil hat 21.187 Wörter, also 20.947 mehr als § 257c StPO. Bemerkenswert wenig davon sind aber der Frage gewidmet, wie Schuldprinzip und Marktplatz überhaupt konzeptionell zusammengehen.

Ob’s hält?

Ein mühseliger Text

Zuletzt noch ein Stoßseufzer: Ich bin sonst ein großer Fan der Karlsruher Gelehrsamkeit. Viele Urteile sind ein wahrer Lesegenuss, und es macht Spaß und bringt intellektuell wie verfassungspolitisch Gewinn, die Deliberation des Senats in all ihren Windungen nachvollziehen zu können.

Dieses Urteil indessen weckt in mir eher Sehnsucht nach der lapidaren Kürze des französischen Conseil Constitutionel. Es ist echt ein mühseliger Text, und das ist nur teilweise durch das gewaltige Normkonkretisierungsprogramm, das sich der Senat da aufgehalst hat, erklärbar. Wozu muss er obendrein auch noch links und rechts ständig Obiter Dicta fallen lassen, hier zur Einstellung wegen Geringfügigkeit, da zum Strafbefehlsverfahren? War es wirklich nötig, in RNr. 66 ein Grundseminar Juristische Methodenlehre abzuhalten (hat mich schon an der Uni immer zu Tode gelangweilt)? Musste so viel Redundanz zwischen Maßstäbe- und Anwendungsteil wirklich sein?

Berichterstatter Herbert Landau ist kein professoraler Chrysostomos, sondern ein wackerer Arbeiter im Weinberg des Rechts, das ist vielleicht der Grund für dieses stilistisch so glanzlose Urteil. Es muss ja auch nicht jeder auf Lübbe-Wolff-Niveau schreiben. Nur wäre dann um so mehr zu empfehlen, nicht mehr Worte zu machen als unbedingt nötig.


3 Comments

  1. Leser Tue 19 Mar 2013 at 19:50 - Reply

    Schöner Beitrag, dass ad personam Landau ist aber unschön. Die schwere Lesbarkeit dürfte allein mit den unterschiedlichen Ansichten im Senat zu den schwierigen Fragen zusammenhängen. Zudem wird vor allem das Aus- und Abschweifende von Begründungen als Ausweis eines Professorengerichts problematisiert. Schließlich wage ich zu bezweifeln, dass etwa Frau Professorin Lübbe-Wolffs Entscheidung zu den Rückmeldegebühren ein glanzvolles Machwerk gediegener Rethorik ist (wie im Übrigen auch nicht erkennbar ist, welchen wichtigen Senatsentscheidungen (nicht Sondervoten) sie überhaupt ihren Stempel aufgedrückt hat).

  2. Felix Thu 21 Mar 2013 at 11:44 - Reply

    Ist es wirklich richtig, zu behaupten, der amerikanische Prozess funktioniere nicht nach dem Schuldprinzip? Natürlich kennt er unsere Instruktionsmaxime nicht und ist daher strukturell eher offenen für Absprachen, aber auch in den USA wird man doch bemüht sein, den Täter (nur) entsprechend seiner Verantwortung zu bestrafen, oder nicht?

  3. Dr. Thomas Wedel Tue 25 Jun 2013 at 10:20 - Reply

    Zur Frage von Maximilian Steinbeis: War es wirklich nötig in RNr. 66 ein Grundseminar Juristische Methodenlehre abzuhalten?
    Dies war zwar nicht zwingend erforderlich, ich halte es aber doch für sehr begrüßenswert, dass das Verfassungsgericht sich gerade in einem so viel beachteten Urteil auch grundsätzlich zur Gesetzesauslegung und insbesondere auch zur Frage des Stellenwerts des aus den Gesetzesmaterialien erkennbaren Willen des Gesetzgebers äußert. Laut Bundesverfassungsgericht hat unter den anerkanntan Methoden der Gesetzesauslegung Wortlaut, Systematik, Sinn und Zweck und Gesetzesmaterialien keine einen unbedingten Vorrang vor einer anderen. In keinem Fall dürfe aber die richterliche Rechtsfindung an die Stelle der Regekungskonzeption des Gesetzgebers eine eigene treten lassen. Für die Beantwortung der Frage, welche Regelungskonzeption dem Gesetz zugrunde liegt, komme auch den Gesetzesmaterialien eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu. Nach diesen allgemeinen Feststellungen begründet das Bundesverfassungsgericht dann auch seine Entscheidung, wonach § 257c StPO (noch) verfassungsgemäß ist, entscheidend mit dem aus den Gesetzesmaterialien ersichtlichen (subjektiven) Willen des Gesetzgebers. Es argumentiert dabei unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung insbesondere dahingehend, dass es erklärtes Regelungsziel des Gesetzgebers gewesen sei, weiterhin ein Strafverfahren sicherzustellen, das dem fundamentalen und verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz der Wahrheitsermittlung sowie der Findung einer gerechten, schuldangemessenen Strafe verpflichtet ist. Die Auslegung und Anwendung des Verständigungsgesetzes habe sich “zuvörderst an diesem gesetzgeberischen Konzept zu orientieren”. (Ähnlich auch schon BVerfG, NJW 2012,669: Die Gerichte sind verfassungsrechtlich an die gesetzgeberische Grundentscheidung gebunden, die sich u.a. aus den Gesetzesmaterialien erschließen läßt; vgl. auch BGH, NJW 2013, 995: Die Gesetzesmaterialien sind bei der Auslegung maßgeblich zu berücksichtigen sowie Wedel, Der Wille des Gesetzgebers in der aktuellen sozialrechtlichen Rechtsprechung, SGb 2013,25 und: Der Wille des Gesetzgebers in der aktuellen Kostenrechts-Rechtsprechung, JurBüro 2013,176 )
    Fazit: Die objektive Auslegungstheorie ist tot, es lebe die subjektive.
    Rechtsanwalt Dr. Thomas Wedel, Oberasbach

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