Deals im Strafprozess: Etikettenschwindel im Namen der Effizienz
Geständnis gegen Strafnachlass: Diese Art von Absprache, „Deal“ genannt, gibt es im Strafverfahren schon seit Jahrzehnten. Seit 2009 ist er gesetzlich geregelt. Der Gesetzgeber reagierte damit auf die bereits 2005 geäußerte Bitte des Bundesgerichtshofs (Az. GSSt 1/04), dem bei seinen Versuchen, selbst für rechtliche Leitplanken zu sorgen, mulmig geworden war. Das Ganze schien dem Bundesgerichtshof so grundlegend, dass es nicht einzelne Richter, sondern der Bundestag regeln sollte. Nun hat das Bundesverfassungsgericht über die gesetzliche Regelung zu entscheiden (Az. 2 BvR 2628/10; 2 BvR 2883/10; 2 BvR 2155/11). Morgen verhandelt der Zweite Senat darüber.
Im Mittelpunkt stehen dabei die Grundrechte des Beschuldigten. Denn zu entscheiden sind drei Verfassungsbeschwerden von Verurteilten, die nach einem „Deal“ gestanden hatten. Vor allem geht es darum, ob der „Deal“, wie er in § 257c der Strafprozessordnung (StPO) geregelt ist, das Schuldprinzip verletzt: Danach darf und muss ein Straftäter so lange ins Gefängnis gesteckt werden, wie es seiner Schuld entspricht. Diese Entsprechung gerät aber in eine Schieflage, wenn der Angeklagte allein deshalb glimpflicher davon kommt, weil er sich auf einen „Deal“ eingelassen und gestanden hat. Das hat mit der Schwere seiner Tat nichts zu tun.
Außerdem hat jeder Beschuldigte das Recht, nicht gegen sich selbst aussagen zu müssen, und das Recht, fair behandelt zu werden. Wo bleiben diese Rechte, wenn er zu einem Geständnis und zu prozessualem Wohlverhalten „geschubst“ wird, indem ihm eine niedrigere Strafe versprochen wird? Der „Deal“ schränkt also insbesondere mit dem Schuldprinzip, der Selbstbelastungsfreiheit und dem Recht auf ein faires Verfahren ganz wesentliche Rechte eines jeden ein, der sich einem Strafverfahren ausgesetzt sieht. Das Bundesverfassungsgericht wird diskutieren, ob die Einschränkungen dieser Rechte damit begründet werden können, dass die Strafjustiz ohne „Deals“ nicht mehr funktionsfähig ist und dass „Deals“ dazu dienen, das Verfahren zu beschleunigen.
Das klingt erst einmal gut: Die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege und die Beschleunigungsmaxime sind zweifellos gewichtige Verfahrensbelange. Tatsächlich findet hier aber in dieser Abwägung eine Umetikettierung statt: Denn das eigentliche Problem, das hinter der „Deal“-Thematik steckt, ist der ständig wachsende Effizienzdruck in der Justiz.
Der „Deal“ ist Folge einer bedenklichen Entwicklung – nämlich der beständigen Ausdehnung des Strafrechts einerseits und der mangelnden Ausstattung der Justiz andererseits. Noch in den Nachkriegsjahren erfasste Strafrecht das, was man erwartet: Mord, Totschlag, Körperverletzung, Betrug, Diebstahl usw. Inzwischen schützt das Strafrecht weit mehr. Man denke nur an das Wirtschaftsstrafrecht oder die Umweltdelikte.
Die Ausweitung der strafbaren Handlungen führte natürlich auch zu mehr Fällen. Diese Fälle sind zudem sehr viel komplizierter als etwa ein „normaler“ Diebstahl. Um einen Korruptionsfall aufzuklären, muss beispielsweise die Struktur eines Unternehmens, die Warenzirkulation und die Verstrickung zahlreicher Mitarbeiter ermittelt werden. Personal und Mittel der Strafgerichte wurden aber nicht entsprechend aufgestockt. Die Praxis reagierte seit den 1970er Jahren auf dieses Problem damit, dass sie immer öfter die Ergebnisse nach Gutdünken aushandelte.
Nun kommt hinzu, dass selbst Gerichte der allgemeinen Ökonomisierung unterworfen werden. Richter werden heute auch deswegen befördert, weil sie mehr Akten wegschaffen als ihre Kollegen. Ein (ausgehandeltes) Geständnis, das eine zeitraubende Beweisaufnahme entfallen lässt, hilft da enorm. Der Bundesgerichtshof war insofern in seiner Grundsatzentscheidung zum „Deal“ wenigstens ehrlich. Er begründete ihn primär mit der hohen Belastung der Justiz.
Zweifelhaft bleibt allerdings, ob Effizienzzwänge geeignet sein sollten, die Bollwerke aufzuweichen, die die Strafprozessordnung aufstellt, damit diejenigen, die in die Mühlen der Strafjustiz geraten, dem Verfahren nicht rechtlos ausgeliefert sind. Zur Begründung verweist der Bundesgerichtshof deshalb zusätzlich auf den Beschleunigungsgrundsatz. Da beißt sich die Katze allerdings in den Schwanz. Dieser Grundsatz soll für den Angeklagten sicherstellen, dass er nicht zermürbend lange auf Anklage und Verurteilung warten muss. Dieser Grundsatz kann aber nicht beeinträchtigt sein, wenn alles etwas länger dauert, weil er von seinen Rechten Gebrauch macht, also etwa nicht gesteht. Der Grundsatz erstreckt sich nicht auf Fragen, die keine Interessen des Angeklagten betreffen, wie etwa die Kostenersparnis oder geringere Arbeitslast für die Richter bei einem kürzeren Verfahren.
Der Gesetzgeber vertiefte den Etikettenschwindel noch: Er stützte das neue Gesetz zum „Deal“ im Wesentlichen auf den Opferschutz. Das Opfer der Straftat werde durch ein ausgehandeltes Geständnis davor bewahrt, quälenden Befragungen über die Tat und einem langwierigen, strapazierenden Prozess ausgesetzt zu sein. Aber braucht es dafür überhaupt den „Deal“? Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten, das Opfer vor zu großer Beanspruchung zu schützen. Die Öffentlichkeit kann beispielsweise ausgeschlossen werden, wenn das Opfer intime Details offenbaren muss (§ 171b Gerichtsverfassungsgesetz). Bei Gefahren für das Wohl des Opfers muss es dem Täter nicht unter die Augen treten, sondern kann per Live-Video vernommen werden (§ 247a StPO). Bei kindlichen Opfern etwa von sexuellem Missbrauch kann sogar ein zuvor aufgezeichnetes Vernehmungsvideo abgespielt werden (§ 255a Absatz 2 StPO). Diese Regeln orientieren sich an den konkret betroffenen Belangen des Opfers. Die gesetzliche Regelung des „Deals“ tut das nicht.
Verständigungen sind bezüglich jeder Tat zulässig. Sie werden großenteils in Verfahren getroffen, in denen es keine Opfer gibt, die vor psychischer Belastung geschützt werden müssen, nämlich in Wirtschaftsstrafverfahren. Hier sind häufig nur Belange der Allgemeinheit und überhaupt keine individuellen Opfer betroffen – man denke nur an Steuerstraftaten oder Insolvenzverschleppung. Oder aber die Opfer werden durch das Verfahren psychisch nicht allzu sehr betroffen sein, weil es „nur“ darum geht, ihren Geldverlust zu ahnden. Schließlich wird das Opfer beim „Deal“ überhaupt nicht gefragt. Die Verständigung findet zwischen Richter, Staatsanwalt und Verteidiger des Beschuldigten statt. Häufig wird dem Opfer der Preis für seine Schonung zu hoch sein: Wer wünscht sich schon, von Befragung befreit zu sein, wenn dafür der Täter auf Bewährung frei herumläuft? Dass es eigentlich um Arbeitsentlastung geht, kann man daran sehen, dass der Richter nach einem „Deal“ häufig nur ein (wenig aufwändiges) abgekürztes Urteil schreiben muss, weil niemand Rechtsmittel einlegt (§ 267 Absatz 4 StPO) – das Ergebnis war ja einverständlich ausgehandelt.
Es bleibt zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht allein der Effizienz nicht den Vorrang einräumen wird – egal unter welcher Flagge sie segelt.
Es ist natürlich schon scheinheilig, wenn hier nur die Arbeitsentlastung der Richter betont wird. Bekanntermaßen sind an einer Absprache 3 Personen beteiligt.
Mich treibt das Verhältnis zwischen formalen, verfahrensmäßigen Sicherungen und materiellen Gründen, solche Formalien zurückzudrängen, um. Vielleicht ist der “Deal” nicht das beste Beispiel dafür, das kann ich nicht recht beurteilen. Aber ist es nicht so, dass im Strafverfahren (und ggf. auch durch sein Ergebnis, die Verurteilung) in ganz erheblichem Maße in Grundrechte eingegriffen wird? Und ist es nicht so, dass diese ganz erheblichen Eingriffe nur dann erträglich erscheinen, wenn das Strafverfahren in einer besonders formalisierten Weise abläuft, zu der eben auch die sorgfältige Beweisaufnahme gehört? Und wenn das so ist, ist es nicht merkwürdig, dass man solche formalen Sicherungen immer wieder unter Hinweis auf eine diffuse “Funktionstüchtigkeit/Effizienz der Strafrechtspflege” zurückdrängt, dass man also die Sicherungen, die schwere Eingriffe erst “erträglich” machen opfert, um um schneller oder schwerer in Grundrechte einzugreifen?
Ich glaube nicht, dass Verständigungen “großenteils in Verfahren getroffen [werden], in denen es keine Opfer gibt, die vor psychischer Belastung geschützt werden müssen, nämlich in Wirtschaftsstrafverfahren.” Das ist eine empirisch überprüfbare Frage, da mag ich daneben liegen – aber Fakt ist, wer Strafrecht “macht” (d.h. praktisch im Strafrecht tätig ist), weiss, dass es ein Bedürfnis für die Möglichkeit von Verständigungen gibt. Die Frage stellt sich aber neuerdings in nahezu allen Verfahren, die gesetzliche Regelung führt da schrittweise zu einer Umkehr der Erwartungshaltung: Der Richter, der viele Fälle zu bearbeiten hat, weiss, dass im Falle eines Deals sein Arbeitsaufkommen sinkt – selbst in kleinen Verfahren ist daher die (anwaltliche) „Androhung“ eines Beweisantrags oft eine Möglichkeit, die Rahmenbedingungen einer Verständigung zu Gunsten des/der Angeklagten zu verbessern. Es liegt auf der Hand, dass dies auf Kosten von Aufklärungs- und Schuldprinzip geht.
Eine gesetzliche Lösung ist daher – und die praktischen Erfahrungen mit § 257c StPO bestätigen das – der Versuch der Quadratur des Kreises. Den Staat stören die Kosten von Unschuldsvermutung und Gewaltmonopol, er will aber formal an beidem festhalten und gleichzeitig den Preis drücken. Mit §257c StPO ist – da herrscht nach meinem Eindruck auch Einigkeit im Schrifttum – ein neues Verfahren eingeführt worden, das den Grundsätzen des Strafrechts (und des Strafprozessrechts) widerspricht. Dass man in der Praxis zuvor schon lange ähnlich verfuhr, ist das Eine. Dass man mit der gesetzlichen Regelung aber die Umwandlung einer der Grundlagen des modernen Strafrechts (die Unschuldsvermutung) in eine rechtfertigungsbedürftige Verfahrensbelastung ermöglicht hat, ist zwar erklärbar, aber zu entschuldigen ist es nicht.