Demokratiepolitik: Die Abschaffung der kommunalen Stichwahl in Nordrhein-Westfalen als Verfassungsproblem
Für den Modus, in dem in einer Demokratie Repräsentanten gewählt werden, ist vieles denkbar. Trotzdem erzeugen Reformbemühungen im Wahlrecht zuverlässig skandalisierende Debatten, so auch derzeit in Nordrhein-Westfalen. Am 11.04.2019 hat der dortige Landtag auf Antrag der Landesregierung beschlossen, die Stichwahl bei den Wahlen der (Ober-)Bürgermeister und Landräte abzuschaffen.
Das wahlrechtliche Tauziehen um die Stichwahl der (Ober-)Bürgermeister
Als 1994 erstmalig entschieden wurde, dass die (Ober-)Bürgermeister nicht mehr im Rat bzw. im Kreistag, sondern unmittelbar von den wahlberechtigten Einwohnern gewählt werden, wurde zugleich festgelegt, dass dies in höchstens zwei Wahlgängen erfolgt (§ 46 c KWahlG NRW a.F.): Konnte im ersten kein Kandidat mehr als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen auf sich vereinen, fand eine Stichwahl zwischen den beiden erfolgreichsten Kandidaten statt.
2007 wurde die Stichwahl mit den Stimmen von CDU und FDP abgeschafft. Begründet wurde dies damit, dass in 75 % der Fälle bereits der erste Wahlgang genügt habe und die Wahlbeteiligung im zweiten Wahlgang in der Regel geringer gewesen sei als im ersten. Bereits damals war die Entscheidung umstritten und wurde vielfach mit strategischen Vorteilen für die CDU in der Situation der relativen Mehrheitswahl erklärt (siehe Plenarprotokoll 14/58, S. 6448). Sie hielt aber einer Überprüfung durch den Verfassungsgerichtshof in Münster stand, der die Änderung 2009 für mit der Landesverfassung vereinbar erklärte, jedoch anmahnte, die „Wahlverhältnisse daraufhin im Blick zu behalten, ob das bestehende Wahlsystem den erforderlichen Gehalt an demokratischer Legitimation auch zukünftig zu vermitteln vermag“ (4. Leitsatz).
2011 reagierte der Gesetzgeber infolge einer geänderten politischen Mehrheit im Landtag und führte die Stichwahl auf Antrag der rot-grünen Minderheitsregierung wieder ein. Die vor zwei Wochen beschlossene erneute Abschaffung stellt also eine weitere Etappe in diesem wahlrechtlichen Tauziehen zwischen den unterschiedlichen politischen Lagern dar. Das mag durchaus befremden. Es ist aber daran zu erinnern, dass auch Wahlen Gegenstand von politischen Entscheidungen sind. Auch wenn das Wahlrecht in der Regel außerhalb von Parteipolitik gestellt wird und bei Reformen zur Zurückhaltung und Einstimmigkeit gemahnt wird, ist die Bedeutung von Demokratiepolitik immens. Nur durch sie können Fehlentwicklungen korrigiert und Innovationen implementiert werden. Dieser Umstand droht zuweilen in den Hintergrund zu geraten, was aber seine Gründe hat, wie dieser Beitrag zeigen soll.
Wahlrechtspolitik als Herausforderung
Hier zeigt sich: Wahlrechtsfragen sind Machtfragen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Die in der Politik handelnden Akteure sind primär auf den Machtgewinn gepolt, ihre Handlungslogik ist von einer Dringlichkeit der Zielerreichung bei der Realisierung des vermeintlich Richtigen gezeichnet, notfalls auch gegen normative Appelle. Dies gilt explizit auch für solche des Rechts. Weiter noch ist immer wieder zu beobachten, wie auch dieses zum Kampfmittel gegen den politischen Konkurrenten eingesetzt wird.
Die Entscheidung über das Landes- und Kommunalwahlrecht obliegt dem Landtag als von politischen Akteuren gebildetes Organ. Bei der Abschaffung der Stichwahlen handelt es sich um eine sogenannte „Entscheidung in eigener Sache“. So entscheiden die Abgeordneten im Landtag zwar über ein Wahlsystem, das sie selbst nicht unmittelbar betrifft, sondern die Bürgermeister und Landräte. Die parteiförmige Strukturierung des politischen Systems begründet aber einen Gleichlauf der Interessen auf kommunaler und Landesebene. Maßgeblich ist also der Blick auf den Parteienwettbewerb insgesamt.
Im Wahlrecht steht die Politik vor der nicht unerheblichen Herausforderung, die eigene Handlungslogik durchbrechen zu müssen. Über Wahlen wird demokratische Legitimation vermittelt. Dies gelingt nur dann, wenn sie das Ergebnis einer allgemeinen, freien, gleichen, öffentlichen Auseinandersetzung sind. Das Wahlrecht, das dies gewährleisten möchte, verträgt sich deswegen nicht mit manipulativen Strategien, die allein auf den eigenen Machtgewinn gerichtet sind. In dieser Absicht zugeschnittene Wahlkreise, das sogenannte „Gerrymandering“, Sperrklauseln oder der strategische Einsatz von Sitzzuteilungsverfahren nähren den ohnehin schon verbreiteten Verdacht, dass es in der Politik „nicht mit rechten Dingen“ zugeht.
Recht, Politik, Recht der Politik
Machtfragen sind deswegen Verfassungsrechtsfragen. Sowohl das Grundgesetz als auch die nordrhein-westfälische Landesverfassung widmen sich an verschiedenen Stellen der Regulierung des politischen Wettbewerbs, auch für die kommunale Ebene (Artt. 1 I, 2 LV NRW i.V.m. Art. 28 I 1 und 2 GG). Dieses Recht der Politik steht immer und so auch hier vor dem Problem, wie weit der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers in demokratiepolitischen Fragen reicht, der zwar von der Verfassung vorgesehen ist, vom Recht und der Rechtswissenschaft aber mit einem gewissen Maß an Skepsis begegnet werden muss.
Für die verfassungsrechtliche Bewertung der Abschaffung der Stichwahl finden sich in der nordrhein-westfälischen Landesverfassung insbesondere die Maßstäbe des Mehrheitsprinzips und der politischen Chancengleichheit, die beide unmittelbar mit dem Prinzip demokratischer Legitimation zusammenhängen. Wichtige Entscheidungen sollen in einer Demokratie mit einfacher Mehrheit getroffen werden, der Weg dorthin soll das Ergebnis eines fairen Wettbewerbs sein. Damit das angekündigte Vorhaben der Opposition, die Gesetzesänderung vor dem Verfassungsgerichtshof zu Fall zu bringen, Erfolg hat, müssten diese Verfassungsprinzipen eine Entscheidung hinreichend deutlich determinieren. Dies scheint angesichts deren Abstraktheit nicht einfach zu begründen, aber auch nicht aussichtslos.
Neue Probleme, alte Lösungen?
So weckt ein konkreter Blick auf die beschlossene Abschaffung der Stichwahl tatsächlich Bedenken. Die Wahl der Bürgermeister allein im Verfahren der relativen Mehrheitswahl ermöglicht den Wahlsieg mit Ergebnissen, die deutlich unter 50 Prozent der Stimmen liegen können. In solchen Fällen sinkt die Legitimität des gewählten Bürgermeisters, nicht nur im Verhältnis zu den Bürgern, sondern auch bei der Amtsausübung, insbesondere bei der Behauptung gegenüber dem Rat („Minderheitsbürgermeister“). Die Erwartung solcher Ergebnisse liegt auch nicht unbedingt fern: Das Parteiensystem weist mittlerweile deutlich mehr als nur zwei starke Parteien auf, neben SPD und CDU feiern die Grünen und die AfD Erfolge, die nicht unbedingt vor den Kommunen Nordrhein-Westfalens haltmachen werden. Ein mit nur 20 bis 30 Prozent der Stimmen gewählter Bürgermeister wird sich schwerlich in das Amtsselbstverständnis eines „Stadtvaters“ oder einer „Stadtmutter“ einordnen können. Die darin zum Ausdruck kommende Erwartungshaltung, dass der Wahlsieger eine einfache Mehrheit hinter sich versammeln können muss, dürfte auch nicht nur politische Romantik sein, sondern rechtlich der Integrations- und Repräsentationsfunktion von Wahlen entsprechen.
In diesem Zusammenhang offenbart sich eine weitere Schwäche der Reform: Die nur einstufige Wahl wirkt sich negativ auf den politischen Wettbewerb als solchen aus. So könnte sich der Wähler genötigt sehen, nur tatsächlich aussichtsreichen Kandidaten seine Stimme zu geben und nicht seiner eigentlichen Präferenz zu folgen, um womöglich den Erfolgswert seiner Stimme nicht zu vergeuden. Dies zieht andererseits Folgen für die Kandidatenseite nach sich. Politisch verwandte Parteien, die beispielsweise jeweils nur knapp hinter einem gemeinsamen politischen Gegner liegen, der relativ der stärkste ist, müssen sich fragen, ob sie überhaupt jeweils eigene Kandidaten ins Rennen schicken oder zugunsten des anderen verzichten. Dies ist nicht unbedingt im Sinne einer auf Konkurrenz ausgelegten Demokratie.
Ob angesichts vorhandener Spannungen im politischen System ein Schritt mit diesen Folgen zulässig ist, scheint zweifelhaft, vor allem angesichts der dünnen Begründung der Landesregierung, die erneut die Kosten und die geringere Beteiligung bei der Stichwahl anführt. So ist das Kostenargument im Kontext der Wahl als primärerer demokratischer Akt der Entscheidungsfindung schwach. Die Wahlbeteiligung hingegen ist ein allgemeines Problem der kommunalen Ebene, nicht speziell der Stichwahl. Hier wäre empirisch zu untersuchen, was tatsächlich die Gründe für das Fernbleiben im zweiten Wahlgang sind. Angesichts der negativen Wahlfreiheit ist die Wahlbeteiligung ohnehin ein schwierig zu bewertender Indikator für die durch die Wahl vermittelte Legitimation.
Angesichts dessen ist es nicht ausgeschlossen, dass der politische Vorteil für die CDU nicht allein Anlass für die Änderung im Kommunalwahlrecht ist, sondern deren maßgeblichen Grund darstellt. Hierfür spricht auch die Energie, mit der die Abschaffung der Stichwahl verfolgt wird, die Nordrhein-Westfalen zudem zum einzigen Bundesland macht, das eine Bürgermeister- bzw. Landratswahl mit relativer Mehrheit im ersten bzw. einzigen Wahlgang ermöglicht. Dass alle anderen Bundesländer einen anderen Weg gehen, hat gute Gründe: Die relative Mehrheitswahl stammt aus einer Zeit eines binären Lagersystems mit starken Volksparteien, bei der auch in relativer Wahl tendenziell deutliche Ergebnisse erzielt werden konnten. Die voranschreitende Fragmentierung der Parteienlandschaft in den letzten beiden Jahrzehnten ist Ausdruck von Legitimationsproblemen und führt zu solchen bei der relativen Mehrheitswahl. Die Stichwahl hingegen zieht als binäre Entscheidung zwingend eine einfache Mehrheit nach sich und sichert in jedem Fall ein hinreichendes Maß an Legitimation. Der Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen wird darüber entscheiden müssen, ob die Abkehr davon tatsächlich noch im Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers liegt.
Zuletzt hat er die auf Verfassungsebene implementierte Sperrklausel zu den Ratswahlen in Nordrhein-Westfalen für verfassungswidrig erachtet. Diese Gerichtsentscheidung zeichnet kein gutes Bild der deutschen Demokratiepolitik – ebenso wenig wie die des Bundesverfassungsgerichts zu den Sperrklauseln zum Europäischen Parlament und die geradezu prekäre Situation des Bundestagswahlrechts. Man wird sehen, ob sich auch die Abschaffung der Stichwahlen in diese Reihe einfügt.
Ein schmales Angebot würd ich schon als im Sinn einer auf Konkurrenz ausgelegten Demokratie betrachten. Die Stichwahl ist gerade ein technisches Hilfsmittel, das Angebot zu minimieren, ohne die Auswahl ganz zu eliminieren. Problematisch wird die relative Mehrheitswahl dann, wenn es ihr gerade nicht gelingt, zu einem entsprechend reduzierten Angebot zu führen.
Das Argument der geringeren Wahlbeteiligung bei Stichwahlen ist schon nicht unerheblich, denn jeder zusätzliche Wahlgang verringert das symbolische Gewicht “einer” Wahl. Bei Personenwahlen gäbe es immerhin noch die Möglichkeit einer Vorzugswahl mit Ranking der Kandidat*innen. Ãœberhaupt: Wenn das Problem erst entstanden ist, weil die Direktwahl eingeführt wurde, warum nicht eine Kombination? Keine absolute Mehrheit bei der Direktwahl -> dann stimmt das Kommunalparlament eben über die Erst- und Zweiplatzierten ab. Das würde auch einem Gegeneinander von Bürgermeister*in und Rat entgegenwirken.
Als vermeintlich aussichtsloser Kandidat zur Bürgermeisterwahl 2020 in Warendorf werde ich mich dafür einsetzen, sollte es insgesamt mehr als zwei Bewerber geben, dass es nur einen Kandidaten geben wird. Wenn ich Kommunalwahlgesetz § 46 c, 1, Satz 2 richtig verstehe („Gibt es nur einen zugelassenen Wahlvorschlag, ist der Bewerber gewählt, wenn sich die Mehrheit der Wähler für ihn entschieden hat.“), dann scheint mir das eine gute Lösung zu sein.
In der Nachbarstadt Telgte hat man da kürzlich gute Erfahrungen mit gemacht.