Der „Anschein der Neutralität“ als schützenswertes Verfassungsgut?
Seit dem (noch nicht rechtskräftigen) Augsburger Richterspruch vom Juni 2016 haben Kopftuchverbote wieder Konjunktur. In dem von mir angestrengten Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Augsburg ging und geht es zwar nicht um das Amt des Berufsrichters, sondern um unzumutbare Beschränkungen bereits in meiner Referendarausbildung. Unabhängig von der fehlenden rechtlichen Grundlage, erachte ich ein Kopftuchverbot in der Justizausbildung als einschneidende Verletzung multipler Grundrechte, insbesondere der Ausbildungsfreiheit und der Chancengleichheit, aber auch der Glaubensfreiheit. Dennoch hat das Urteil über die Landesgrenzen hinweg erneut einen Gesetzgebungsaktionismus ausgelöst, diesmal für alle möglichen Bereiche in der Justiz.
Geregelt werden soll nun unter Verweis auf das Urteil in meiner Sache, gleichsam vorgreiflich, ein Bereich, der bisher noch nicht Gegenstand der Rechtsprechung gewesen ist. Mehr als ein Jahrzehnt nach den ersten Verbotsgesetzen im Schulwesen, deren Korrektur spätestens seit 2015 überfällig ist, werden sie nun speziell für die Justiz konzipiert. Neu sind sie nicht: In Hessen und Berlin bestehen bereits weitreichende, verfassungsrechtlich nicht unbedenkliche Verbote für die Landesbeamtenschaft, in Hessen gar unabhängig davon, ob sie nach außen hoheitlich tätig werden. In Baden-Württemberg zeichnet sich eine Verbotsregelung ab, die Berufsrichterinnen und Staatsanwältinnen das Kopftuch verbieten, Schöffinnen, Rechtspflegerinnen und Protokollantinnen hingegen ausnehmen soll. Auch in Bayern ist die Novellierung des Bayerischen Richtergesetzes angekündigt, um, so Bayerns Justizminister, „vor allem dem Kopftuch auf der Richterbank eine eindeutige Absage [zu] erteilen“.
Zur Rechtfertigung rekurriert der baden-württembergische Justizminister Guido Wolf auf das Bedürfnis „den Anschein der mangelnden Unparteilichkeit und Neutralität zu verhindern“. Die Vermeidung des Anscheins fehlender Neutralität überwiege schlichtweg die Glaubensfreiheit der betroffenen Personen. Der „Anschein der Neutralität“ – ein eigenständiges Verfassungsgut, das all die Jahre ein unerforschtes Dasein fristete? Oder vielleicht doch eher ein opportunes Konstrukt?
Subjektive Fehleinschätzungen und objektive Gefahrenlagen
Galt es bei dem Verbot des Tragens einer religiös motivierten Kopfbedeckung im Schulwesen zunächst noch „abstrakten Gefahren“ für den nach Ansicht von Ute Sacksofsky zu Unrecht zum Verfassungsgut aufgestiegenen „Schulfrieden“ (DVBl 2015, 801 (806)) vorzubeugen und die religiös-weltanschauliche Neutralität sowie konfligierende Grundrechtspositionen zu wahren, so geht es nunmehr – um in den sicherheitsrechtlichen Gefahrenkategorien zu bleiben – um die Abwehr von Putativgefahren: Aufgrund subjektiver Fehlvorstellungen wird auf eine objektiv nicht bestehende Gefahrenlage geschlossen.
Dabei ist es gerade die Besonderheit der Justiz, die keine Verbote rechtfertigt. Verhandlungen vor deutschen Gerichten sind öffentlich, Urteile unterliegen der Begründungspflicht. Jeder genießt den grundrechtlich gewährleisteten Anspruch auf rechtliches Gehör. Entscheidungen sind in der Regel mit Rechtsmitteln angreifbar. Prozessbeteiligte haben das Recht auf den gesetzlichen Richter und bei dessen Verletzung die Möglichkeit, ihn wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Angesichts dieser rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen kann nicht pauschal von einer Gefahrenlage ausgegangen werden, da Mechanismen bestehen, die die neutrale Rechtsfindung bei konkreter Gefährdung wahren sollen. Ein Gerichtssaal ist ein Ort der Wahrheitsfindung und der argumentativen Streitbeilegung, idealerweise mit dem Ziel Rechtsfrieden zu schaffen. Eine erkennbar muslimische Richterin tut diesen Zielen keinen Abbruch, sonst wäre ihre Befähigung zum Richteramt das Papier, auf dem sie bescheinigt wird, nicht wert.
Neutrale Richter im neutralen Staat
Der Gehalt der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates ist nicht identisch mit der Neutralität der Richterschaft. Auch unter jedem anderen als dem grundgesetzlichen Kooperationsmodell, wie etwa im konfessionellen oder im strikt laizistischen Staat, hat die Judikative ihr Amt gleichwohl unparteiisch und neutral auszuüben. Während Art. 97 GG den Richter vor Weisungen, Abhängigkeiten und äußeren Einflüssen schützt und in persönlicher Hinsicht dessen Unbeteiligtheit im konkreten Fall gewährleisten soll, handelt es sich beim Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates um ein objektives Verfassungsprinzip, das sich an den Staat und nicht an seine Bediensteten richtet. Es verwehrt dem Staat, sich mit einer bestimmten Religion zu identifizieren, nicht jedoch dem für den Staat handelnden Individuum. Ein Beamter wird seiner Grundrechtsfähigkeit auch nicht durch die Eingliederung in den hoheitlichen Aufgabenbereich verlustig. Daraus folgt: Gerade der religiös-weltanschaulich neutrale Staat schafft die Prämissen dafür, dass seine Bediensteten auch bei Amtsausübung ihre individuelle religiöse Überzeugung nicht verbergen müssen. Es ist gerade diese Offenheit, die die religiöse und weltanschauliche Neutralität des freiheitlichen Staates kennzeichnet.
Der „Anschein der Neutralität“ als Scheinargument
Eine Robe ist kein Garant für die neutrale Amtsausübung. Sie ist auch nicht Ausdruck von Irreligiosität, so wie das Kopftuch nicht Ausdruck einer religiös motivierten Rechtsprechung ist. Eine Robe mag Seriosität vermitteln, auch Professionalität, indem sie den Richter als Träger einer bestimmten Funktion kennzeichnet, nicht jedoch ohne Weiteres auch Neutralität. Denn auch der Anwalt als einseitiger Interessensvertreter hüllt sich vor deutschen Gerichten gewöhnlich in die Robe. Dies mag seiner Funktion als „Organ der Rechtspflege“ Ausdruck verleihen (§ 1 BRAO), widerspricht aber jedenfalls nicht seiner naturgemäß fehlenden Neutralität.
Als Symbol wird die Robe häufig in Kontrast zur Kopfbedeckung gestellt. Doch auch wenn ein Kopftuch im Unterschied zum Barett als Teil der Amtstracht in der Regel aus einer religiösen Motivation getragen wird, macht das bloße Tragen die persönliche Überzeugung noch nicht allgemein verbindlich und steht der neutralen und unparteiischen Amtsführung nicht entgegen.
Denn eine Robe ist keine Schutzkleidung, die vermeintliche Sterilität vermitteln soll oder gar eine Verkleidung, hinter der ein Richter seine wahren Absichten verbergen soll. Auch steht sie nicht der richterlichen Grundrechtsfähigkeit entgegen. Der moderne Verfassungsstaat verlangt von seinen Beamten nicht mehr das von Arnold Köttgen noch 1932 als Relikt der absoluten Monarchie beschriebene „restlose Aufgehen der Person des Amtsträgers in einer vom Staat repräsentierten Idee“ (in: Anschütz/Thoma, Hdb zum Deutschen Staatsrecht, Bd. 2, S. 1 (6)). Die Robe führt nicht zur Rückkehr zu diesem, stark monarchistisch geprägtem Verständnis der eingeschränkten Grundrechtsfähigkeit von Beamten. Eine Richterin gibt mit ihrem Amt ihre Individualität und ihre politischen, religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen nicht auf. Sie darf sich nur keinesfalls von diesen bei der Entscheidungsfindung leiten lassen – muss sie aber auch nicht verbergen.
Restrisiko Unabhängigkeit
Der „Anschein der Neutralität“ ist kein um seiner selbst willen verfassungsrechtlich geschütztes Gut. Er ist allenfalls Ausdruck eines subjektiven Empfindens, das von anderen Verfassungsgütern, wie der negativen Religionsfreiheit potenzieller Verfahrensbeteiligter, gerade nicht geschützt ist.
Das, was der Landesgesetzgeber nun auf Kosten individueller Freiheitsrechte gesetzlich zu gewährleisten versucht, kann die Verfassung in Art. 97 schlicht nicht garantieren: Die innere Unabhängigkeit eines Richters kann nur dieser selbst beurteilen. Er muss gewissenhaft prüfen, ob er ausreichend Distanz und Neutralität zur konkreten Rechtsfrage aufbringen kann und sich im Zweifel selbst ablehnen. Dieses Restrisiko kann keine gesetzliche Vorschrift vorab absichern, es ist vielmehr eine Frage der Richterethik. Wer diese Richterethik im Einzelfall grob verletzt, wird sich der Schelte der Rechtsmittelinstanz oder – im Fall des vorsätzlichen Amtsmissbrauchs durch Rechtsbeugung gar – der Strafbarkeit aussetzen.
„Vom Mythos der Unabhängigkeit“ sprach in diesem Zusammenhang der Politikwissenschaftler Rolf Lamprecht, in seiner vor zwanzig Jahren erschienenen gleichnamigen Abrechnung mit der dritten Gewalt. „Die eigene Weltanschauung zurückzustellen“, so Lamprecht, „ist eine Kunst, die nur wenige beherrschen. Viele sind sich der individuellen Einflüsse nicht mal bewußt; sie fließen unkontrolliert in das jeweilige Urteil ein. Manche kennen zwar die Determinanten, tun aber alles, um sie nicht sichtbar werden zu lassen“ (ebd., S. 31). Beobachter mögen in der Entscheidung der Bayerischen Verfassungsrichter 1997 die Bestätigung hierfür gesehen haben, als neun Richter, darunter der ehemalige Präsident des Landeskomitees der bayerischen Katholiken, einstimmig das Bayerische Schulkreuzgesetz absegneten (siehe die Kritik bei Gerhard Czermak, in: KJ 1997, 490). Dem bloßen Anschein nach war keiner von ihnen befangen. Doch Abhängigkeiten und Einflüsse sind nicht sichtbar. Sie werden aber von der Rechtsordnung – was insbesondere die Richterwahl oder die fehlende Selbstverwaltung der Justiz verdeutlichen – in Kauf genommen.
Dennoch ist davon auszugehen, dass die Praxis dem verfassungsrechtlichen Anspruch, Unabhängigkeit zu gewährleisten, in den allermeisten Fällen auch gerecht wird. So ist aus der Justizsoziologie her bekannt, dass biografische Daten nicht zwingend eine bestimmte Urteilsentscheidung präjudizieren. Es mag zwar den beschworenen „Mythos der Unabhängigkeit“ so allgemein nicht geben, wohl aber den schon von Jutta Limbach, damals noch als Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, in ihrer Vortragssammlung „Im Namen des Volkes“ kritisierten „Mythos vom unpolitischen Richter“ (S. 116).
Sie weist darauf hin, dass sich gerade die politische Indifferenz sowie gesellschaftliche und moralische Abstinenz als zu schwaches Schutzschild gegenüber Ideologien erweist: „Der Richter, der sich von politischen und sozialen Werturteilen frei zu halten sucht … dürfte sich sehr schnell als wehrlos gegenüber gesellschaftlichen Konformitätszwängen erweisen“ (ebd., S. 102).
Eine völlig gleichgültige und ethisch wertfreie Jurisprudenz gibt es nicht und kann es auch nicht geben, jedenfalls nicht, solange die Rechtsprechung nicht der Automatisierung anheimfällt.
Objektivität ist ein Idealzustand, dem jeder Richter verpflichtet ist, den aber kein Gesetzgeber proaktiv versichern kann – auch nicht durch Kleidungsverbote und Amtstrachtenerlasse. Dennoch ist der Rechtssuchende den menschlichen Regungen des Richters nicht schutzlos ausgeliefert. Verstöße gegen diese Pflicht können im Einzelfall die Besorgnis der Befangenheit begründen. Allerdings lässt sich ein Befangenheitsantrag nicht bereits mit dem subjektiven Empfinden rechtfertigen. Maßgeblich ist vielmehr die fehlende Gewähr der Unparteilichkeit, nicht der bloße Anschein. Zweifel an der Unparteilichkeit können angebracht sein, wenn bei vernünftiger Würdigung das Misstrauen objektiv gerechtfertigt ist, wobei auf den Standpunkt des besonnen, nicht des besorgten Verfahrensbeteiligten abzustellen ist. Weder religiöse, noch parteipolitische Zugehörigkeiten führen per se zur Befangenheit, selbst dann nicht, wenn jemand „politische Überzeugung hat und diese auch nach außen offenbart und vertritt“. Dies hat zur Folge, dass auch ein Richter, der sich aktiv im Verein Lebensrecht engagiert hat, unbefangen über die Rechtmäßigkeit des Schwangerschaftsabbruchs entscheiden kann.
Und selbst wenn im Einzelfall tatsächlich Befangenheit vorliegt, ist dies kein Unwerturteil oder Makel. Es führt zum Ausschluss der Richtertätigkeit im konkreten Rechtsstreit, ohne dem Betroffenen den Richterstatus allgemein abzusprechen. Anders jedoch die geplanten Verbotsgesetze. Sie ignorieren das bisher gelebte Selbstverständnis richterlicher Unabhängigkeit und schießen über das Ziel hinaus, indem sie es der erkennbaren Muslimin verwehren, sich zumindest in der obligatorischen Probezeit zu bewähren.
In dubio pro libertate
Die Kopftuchdebatte ist wohl mehr eine Symbol- und nur scheinbar eine Neutralitätsdebatte. Dabei finden – bewusst oder unbewusst – Fehldeutungen statt. Selten verlaufen die Grenzen zwischen Politik und Recht unschärfer. Oder, wie es der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf in seiner vielzitierten Studie „Die Wiederkehr der Götter“ beschreibt: „Auch wer Max Webers Postulat der ‚Werturteilsfreiheit‘ ernst zu nehmen versucht und sich durch Methodenreflexion um rationale Distanz bemüht, wird beim Thema Religion bald mit der eigenen Herkunftsgeschichte, mit der Kontingenz kultureller Prägungen und der unausweichlichen Einbindung in konfessionsspezifische Tradition konfrontiert. In Sachen Religion gibt es keinen neutralen Beobachter.“ (S. 69).
Kann dann von einer interessensorientierten Politik, die getrieben ist von Wahlkampfzwängen oder gestaltet wird von einer schwierigen Konsenskoalition, die neutrale Lösung dieser gesamtgesellschaftlichen Frage überhaupt erwartet werden? Zwar ist die Kopftuchfrage nur unfreiwillig in die Landtage getragen worden, war es doch das Bundesverfassungsgericht, das im Jahr 2003 für ein Verbot unter Anknüpfung an einen abstrakten Gefährdungstatbestand ein entsprechendes Parlamentsgesetz forderte. Doch nach über einem Jahrzehnt ist – möglicherweise auch mit Blick auf die Ländergesetze, die nach Auffassung der Instanzengerichte alsbald schon jegliche aus dem Rahmen fallende Kleidungsstücke verbieten sollten – schließlich in Karlsruhe die Erkenntnis gereift, dass die Abwägung konfligierender Grundrechtspositionen auch nicht in Form eines parlamentarischen Verbotsgesetzes ohne Vorliegen einer konkreten Gefahr vorab einseitig zu Lasten einer Grundrechtsposition erfolgen kann. Vielmehr kann gegenseitige Toleranz nur eingeübt werden, wenn in allen Bereichen des Staates „für christliche, muslimische und andere religiöse und weltanschauliche Inhalte und Werte“ gleichermaßen Offenheit herrscht. Diese Toleranz kann schwerlich per Gesetz eingefordert werden, darf aber auch nicht durch ein solches unmöglich gemacht werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat, auch mit dem jüngsten Kammerbeschluss zu Kita-Erzieherinnen, die Debatte wieder in gewissem Maße entpolitisiert und zurück in die Bahnen der Grundrechtsdogmatik gelenkt. Und diese lehrt, dass die individuelle Glaubensfreiheit ein elementares und schützenswertes Verfassungsgut ohne Gesetzesvorbehalt ist, das mit entgegenstehenden verfassungsimmanenten Schutzgütern im Wege der praktischen Konkordanz in schonenden Ausgleich zu bringen ist. Der derzeit stark bemühte „Anschein der Neutralität“ ist kein solches verfassungsimmanentes Gut. Es wäre leichtfertig, zu Gunsten des bloßen Anscheins das Gut der Religionsfreiheit politischen Kompromissen Preis zu geben.
Denn von dieser Freiheit profitiert jeder Einzelne in der Gesellschaft, in Gestalt der positiven als auch der negativen Glaubensfreiheit. Es besteht kein Bedürfnis, die austarierte Religionsfreiheit exklusiv neu zu denken. Schließlich beruht der Kopftuch II-Beschluss nicht auf einer Neuinterpretation der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, sondern bewegt sich überwiegend in tradierten verfassungsrechtlichen Bahnen. Auf Grenzen stößt die Glaubensfreiheit nicht bereits, wenn ein Bediensteter für sich persönlich religiöse Gebote als im Alltag verbindlich erachtet, sondern erst dann, wenn er sie zwanghaft allgemein verbindlich machen will und andere an seinen moralischen Maßstäben misst.
Wenn nun angesichts der zunehmenden religiösen Vielfalt die restriktive Handhabung der Religionsfreiheit oder plakativ „weniger Rechte“ gefordert werden, wird verkannt, dass die extensive Auslegung kein Novum, sondern eine bewusst getroffene, historische Errungenschaft ist: „Die besondere Gewährleistung der gegen Eingriffe und Angriffe des Staates geschützten Religionsausübung in Art. 4 Abs. 2 GG erklärt sich historisch […] insbesondere aber aus der Abwehrhaltung gegenüber den Störungen der Religionsausübung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. […] Da die “Religionsausübung” zentrale Bedeutung für jeden Glauben und jedes Bekenntnis hat, muß dieser Begriff gegenüber seinem historischen Inhalt extensiv ausgelegt werden.“
Kopftuchverbote verkehren diese grundgesetzliche Freiheitsvermutung in ihr Gegenteil und perpetuieren Stigmata. Wer die freiheitliche Grundordnung ernst nimmt, kann ein gewichtiges Grundrecht nicht pauschal hinter einen diffusen “Anschein” zurücktreten lassen. Der „Anschein der Neutralität“ kann auch trügen. Neutralität ist, wie der böse Schein, in der Regel unsichtbar.
Aqilah Sandhu, Ass. Jur., hat während ihres Referendariats im Freistaat Bayern gegen das ihr in Gestalt einer Auflage auferlegte Kopftuch-Verbot geklagt.
Anm. d. Red.: Um bei diesem Thema zu erwartenden Ad-Personam-Trollereien vorzubeugen, werden Kommentare einstweilen durch eine Moderationsschleife geleitet.
Ein klug geschriebener Beitrag, der m.E. jedoch an einer wichtigen Stelle – trotz seiner Ausführlichkeit – ein paar Fragen offen lässt. Sie schreiben:
” […] handelt es sich beim Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates um ein objektives Verfassungsprinzip, das sich an den Staat und nicht an seine Bediensteten richtet. Es verwehrt dem Staat, sich mit einer bestimmten Religion zu identifizieren, nicht jedoch dem für den Staat handelnden Individuum.”
Ich bin in der Materie höchstwahrscheinlich nicht so tief drin wie Sie, allerdings hege ich Zweifel, dass sich der Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität nicht in gewissen Grenzen auch auf die Staatsbediensteten durchschlägt. Wie soll der Staat als juristisches Konstrukt, der nur durch seine ihm dienenden natürlichen Personen handeln kann, sonst als Adressat dieses Grundsatzes diesem auch nachkommen? Das von Ihnen erstrittene Urteil des VG Augsburg schlägt in Rdnr. 57 m.E. auch in diese Richtung:
“Zwar liegt es nahe anzunehmen, dass dieser Grundsatz durch das Tragen eines religiös motivierten Kopftuchs gefährdet wird. Hierfür spricht auch Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 1 Weimarer Reichsverfassung (WRV). Die in institutioneller und ideeller Hinsicht Bedeutung besitzende Regelung wirkt nicht
nur einer unbotmäßigen institutionellen Verflechtung von Staat und Religionsge
meinschaften entgegen, sondern auch der Identifizierung des Staates mit einer bestimmten Religion […]”
Selbstverständlich muss es so sein, dass kein Staatsbediensteter gezwungen werden kann, seine religiöse Identität zu verleugnen. Dem VG Augsburg ist auch darin zuzustimmen, dass statusrechtlich gesehen die Tätigkeit von Rechtsreferendaren und Richtern nicht vergleichbar ist. Entscheidend ist aber, wie Sie zu Recht schreiben, der schonende Ausgleich der betroffenen Grundrechtspositionen im Sinne der praktischen Konkordanz. Dazu gehört aber auch, soweit möglich, eine Annäherung der im Raum stehenden widerstreitenden verfassungsrechtlichen Positionen. Finden Sie nicht, dass Ihr Angebot, ein möglichst unauffälliges Kopftuch zu tragen (habe ich so dem Urteil entnommen), ein Beitrag Ihrerseits darstellt, möglichst unvoreingenommen bzw. neutral “rüberzukommen”, wenn ich das so salopp sagen darf? Letztendlich hat die weltanschaulich-religiöse Neutralität (auch) etwas mit Konfliktvermeidung/-Lösung zu tun; und mit ihrem Vorschlag, ein unauffälliges Kopftuch zu tragen, würde ich gerade eine entsprechende Geste sehen.
Ich bin mir sicher, dass ein gutes und kluges Gesetz es leisten kann, den zitierten “schonenden Ausgleich” einzufordern. Dass die Verlautbarungen von Seiten der Politik eher Gegenteiliges vermuten lassen, stimme ich Ihnen allerdings zu.
Mit dieser funktionellen Begrenzung des Grundrechtsschutzes für Beamte, weil der Staat durch seine Amtsträger nach außen handelt, argumentiert auch die Senatsminderheit im ersten Kopftuchurteil von 2003. Dies hat jedoch die Rückkehr zur überkommenen Lehre von den besonderen Gewaltverhältnissen zur Folge. Nach der BVerfG-Rechtsprechung liegt der entscheidende Unterschied darin, dass die kopftuchtragende Beamtin von ihrem individuellen Freiheitsrecht Gebrauch macht und der Staat diese freie Entscheidung lediglich duldet. Dadurch macht er sich die Glaubensbekundung noch nicht zu eigen und muss sie sich nicht zurechnen lassen. Anders im Fall der staatlichen Veranlassung einer bestimmten Glaubenspraxis. Würde er seinen Beamten das Tragen einer religiösen Kleidung verpflichtend vorschreiben, so wäre dies m. E. zweifelslos ein Verstoß gegen die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates.
Zu Ihrer zweiten Frage: Das Tragen eines unauffälligen Kopftuches ist für mich kein Eingriff in die Glaubensfreiheit. Es ist vielmehr ein Entgegenkommen, denn der Staat kann m.E. durchaus von seinen Bediensteten ein einheitliches und ein der Würde des Gerichts entsprechendes Auftreten verlangen, was bei einem mit der Robe abgestimmten Kopftuch der Fall ist.
“…Trollereien vorzubeugen…”=sehr vernünftig.
Niemand ist objektiv in dem Sinne, dass er sich bei einer Beurteilung einer Sache völlig neutral verhält, losgelöst von seiner Lebenserfahrung und Weltanschauung. Somit ist die Rechtsprechung davon auch nicht frei, weil wir es mit Menschen zu tun haben. Mit all ihren Vorzügen und Fehlern.
Trotzdem wird von der Richterschaft verlangt, sowohl dem Kläger als auch dem Beklagten die Gewissheit zu dokumentieren, dass man frei und unbeeinflusst jenseits aller subjektiven Kriterien allein dem Recht verpflichtet ist. Es ist der moralische, unbedingte Anspruch des Gesetzgebers an seine Richterschaft. Es ist keine Beliebigkeit, sondern Auftrag.Die Begrifflichkeit “Anschein der Neutralität” als Unterstellung greift damit nicht.
Die Justiz hat sich aller Kennzeichen der persönlichen Überzeugungen zu enthalten, sonst kann sie in der Gesellschaft ihrem Auftrag zweifelsfrei nicht nachkommen. Deshalb keine Zeichen für Weltanschauung oder Partei.
@ GustavMahler:
Wenn ich Ihren letzten Absatz richtig verstehe, dann müssten Sie auch dafür sein, dass in keinem bayerischen Gerichtssaal mehr ein Kreuz hängt?
@ as
Ich weiß nicht so Recht, ob ein auf die Robe bezogenes Kopftuch dieses unauffälliger macht…
Angenommen, Sie wären Richterin am BVerfG, dann wäre das Kopftuch vermutlich aufgrund des leuchtenden Rots sehr auffällig. Ich kann mir auch gerade nicht vorstellen, wie bzw wann ein Kopftuch unauffällig wirkt (‘leichter’ Stoff?), auch wenn es sicherlich möglich ist; mir fehlt da schlicht das entsprechende Wissen, hoffe das sehen Sie mir nach.
In der Sache hätte ich aber tatsächlich vermutet, dass das Tragen eines unauffälligen Kopftuchs Ihrerseits mit einem irgendwie gearteten Respekt vor der weltanschaulichen Neutralität des Staates verknüpft ist als einem optisch einheitlichen “Gerichtslook”. Respekt und v.a. gegenseitiges Entgegenkommen der Beteiligten Akteure vor den jeweiligen verfassungsrechtlichen Gütern – seien sie subjektiv – oder objektivrechtlicher Qualität – könnten so manches Spannungsverhältnis schonend(er) auflösen. Problem ist nur, dass die Fronten zu verhärtet sind und die Politik die Thematik um jeden Preis zugunsten der weltanschaulichen Neutralität auflösen will…
Die Neutralität des Staates/Gerichtes ist doch kein Selbstzweck die man mit einen irgendwie gearteten “Anschein” sicherstellen kann, noch ist es eine theoretisch-esoterische oder philosophisch-juristische Kunstfigur. Die handelnden Personen sind gerade Teil des Organs in dessen Namen sie handeln. Natürlich ergibt sich die Neutralität des Ganzen durch die Neutralität der Teile, was den sonst. Neutralität heißt gerade nicht „scheinbar Wertfrei“ sondern allumfassend, wertend, im Sinne des natürlich vorhandenen Auftrags (siehe Verfassung) im Rahmen und im Geiste, moralisch werten zu handeln.
Die tatsächlich herzustellende Neutralität ist Ausdruck der Unparteilichkeit, im Sinne der Gesetze und der ihnen innewohnende Moralvorstellungen der Gesetzgeber. Sie ist ein Mittel den Rechtsfrieden oder anders die Akzeptanz der Rechtsprechung als Handlung des Staates im Namen des Volkes, dazu gehört wesentlich mehr als nur der Richterspruch aber das wissen sie besser als ich, durch den sicherzustellen der bei Gericht freiwillig oder unfreiwillig erscheint oder durch die Rechtshandlung betroffen ist.
Auch wenn es keiner zu sagen wagt, es ist das Problem der fremden Richter. Man lese Wilhelm Tell.
„Nach altem Brauch und eigenem Gesetz,
Der höchste Blutbann war allein des Kaisers.
Und dazu ward bestellt ein grosser Graf,
Der hatte seinen Sitz nicht in dem Lande,
Wenn Blutschuld kam, so rief man ihn herein,
Und unter offnem Himmel, schlicht und klar,
Sprach er das Recht und ohne Furcht der Menschen.
Wo sind hier Spuren, dass wir Knechte sind?“
~
Der Richter mit dem Zobelpelzkragen, einem protzigen Diamantring an jedem Finger und der Rolex im Preise einer Hollywoodvilla am Handgelenk, spricht Recht über die 78-jährigen Oma die „schwarzgefahren“ ist um zur Arbeit zu kommen. Sie wäre sonst verhungert. Die Bild berichte möchte ich gerne Lesen wenn die Oma zur Gefängnisstrafe verurteilt wurde. (Ein authentischer Fall, das Aussehen des Richters ist aber nicht überliefert.)
~
Was ist das anderes, als mit dem Kopftuch aufzutreten. Sie bringen damit klar zum Ausdruck ich bin keiner von euch, ich bin anders. Das Kopftuch ist das Zeichen Ihres bewusst anders Seins, des nicht dazugehören Wollens.
Das dürfen sie auch, denn das ist Recht und Freiheit wie es die Deutschen einander in ihrem Staat versprochen haben. Das reicht ihnen aber nicht, sie wollen dass der Richter wie oben beschrieben Recht spricht und die Akzeptanz des Rechts in unserem Staat ist ihnen nicht wichtig.
Und so oder ähnlich werden Leute denken die Sie im Gericht sehen, aber das wissen Sie ja…
Sie wollen Deutschland und speziell unser Recht in ihrem Sinne, im Sinne der fremden Richter ändern.
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Die Deutschen wollen das nicht! Sie wollen keine Despotie in unserem Staat, in unseren Gerichten oder das dieses in unseren Schulen gelehrt wird. Das Lied der Deutschen spricht von Brüderlichkeit, Einigkeit, Recht und Freiheit und das ist etwas anderes als „Liberté, égalité, fraternité“
„Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.“
So ist es bei Schillers Tell beschrieben.
Und ich füge hinzu wir wollen uns auch nicht vor der Macht Gottes fürchten, den unser Gott hat das Alte Testament mit der Geburt und der Kreuzigung Christ relativiert, weswegen das Kruzifix an der Wand des Gerichtssaales auch seinen Sinn hat, den es symbolisiert sowohl die Gnade Gottes als die des Richters, den unser Recht ist kein rächendes, bei uns werden schon lange nicht mehr Hände, Füße oder Köpfe abgeschlagen oder Menschen mit Prügel oder anderweitig zu Tode gebracht.
Meine Meinung:
Religion hat im Gerichtssaal nichts zu suchen, weder im positiven noch im negativen Sinne – vom Kreuz an der Wand bis zum Kopftuch auf dem Richterinnenkopf.
Natürlich kann man mit Religionsfreiheit dafür argumentieren, dass der Richter oder die Richterin seiner Religion auch während der Dienstausübung fröhnen will.
Man kann auch mit der Vereinigung-oder Meinungsäußerungsfreiheit unterstützen, wenn ein Richter einen NPD-Button, eine Hell’s-Angel-Kutte oder den Schal eines Fußballvereins trägt.
Wie gut auch immer die Argumente sind, beschädigt es nun einmal den Eindruck eines neutralen, fairen Staates und Verfahrens.
Und ich muss auch sagen: Die Tatsache, dass so vehement für Kopftuchfreiheit gekämpft wird, unterstreicht für mich die Wichtigkeit des Verbots. Denn dadurch wird offenkundig, dass das Thema emotional belegt ist. Würde ich da eine emotionslose Entscheidung über Vergewaltigung in der Ehe, Ehrenmord, Brandstiftung an einer Kirche oder einem Asylbewerberheim oder Störung der Glaubensausübung erwarten? Ich persönlich hätte zumindest Zweifel – und dass solche Zweifel entstehen können, ist als Begründung für ein Gesetz m. E. ausreichend.
Man mag es irrational finden, wenn Leute aufgrund Kopftuch an der Neutralität eines Richters zweifeln. Der VW-Vorstand wird es sicherlich auch irrational finden, dass an der Qualität von VWs gezweifelt wird, nur weil gegen ein paar Abgasnormen verstoßen wurde. Aber ein Imageschaden ist da nun einmal. Und um sein Image, ja, sollte der Staat sich scheren. Wir sehen gerade in den Nachrichten, was sonst passiert:
Nazis, Separatisten und verrücktgewordene Entertainer, die die Politik übernehmen.
Was ist besser:
– Richterin ohne Kopftuch sein (CDU/SPD) oder
– (hier Fantasie üben) (AfD)?
Rein pragmatisch, alle Rechtsnormen beiseitegestellt, würde auf die erste Karte setzen, um die Gefahr der zweiten nicht zu steigern.
Audiatur et altera Paris. Wann kommt der zweite Beitrag der Gegenseite?
pars natürlich, da schlug das Smartphone zu…
Natürlich garantiert neutrale Kleidung keine Neutralität. Aber Menschen, die so wenig neutral sind, dass sie nicht einmal dann auf ihre religiösen Symbole verzichten können, wenn sie Amtsträger sind, sind garantiert nicht neutral.
Ich möchte einmal einen Gedanken hinzufügen, der mir besonders relevant scheint – Art. 33 Abs. 3 GG verbürgt:
“Der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sowie die im öffentlichen Dienste erworbenen Rechte sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen.”
Nun dürfte das Amt der Richterin zweifellos ein öffentliches Amt darstellen. Für eine muslimische Richterin, die das Tragen des Kopftuches für sich als bindendes religiöses Gebot ansieht, würde aus ihrer Glaubensüberzeugung ein Nachteil erwachsen, wenn sie aufgrund des Kopftuches nicht Richterin sein dürfte.
Beamtenrechtler*innen vor, ist das nicht der verfassungsrechtliche Knackpunkt (und gar nicht Art. 4 GG sowie die vermaledeite Sonderrechtslehre)?
Damit würde auch einem Element Rechnung getragen, dem in unserer heutigen stets rationalen rechtlichen Argumentation kaum mehr hinreichend Bedeutung geschenkt wird: Eine Glaubensüberzeugung kann man*frau nicht einfach an der Garderobe ablegen. Wenn das Kopftuchtragen durch ein Glaubensgebot innerlich als zwingende Vorschrift wahrgenommen wird, dann ist dies für die Gerichte verbindlich. Hierzu verweise ich auf eine vermeintlich nebensächlich, hier jedoch hochrelevante Formulierungsänderung in der zweiten Kopftuchentscheidung, nach der es nun eben nicht mehr einer gewissermaßen durch Religionsgemeinschaften mediatisierten Anerkennung der Glaubensregel bedarf, sondern einzig die Glaubensüberzeugung der Grundrechtsträgerin relevant ist (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2015/01/rs20150127_1bvr047110.html, Rn. 87 ff.).
@AKM: Nein. Es gibt keine Zugangsbeschränkung zum Amt für Muslime, sondern eine Ausübungsregelung betreffend der Kleidung. Oder wollen Sie sagen, dass Muslime das Kopftuch nicht ablegen können?
In der Tat. Eben weil es eine Glaubensregel ist. Es wäre die Entscheidung erzwungen, entweder Richterin zu werden (und gegen die Glaubensregel zu verstoßen durch Ablegen des Kopftuches) oder gemäß der Glaubensregel zu leben (und nicht Richterin sein zu dürfen).
Es ist genau diese Zwangslage, die m.E. Art. 33 III GG verhindern soll.
@AKM: OK. Ich denke, es sprechen gute Gründe dafür, Muslime, die ideologisch so gefestigt sind, dass sie das Kopftuch nicht mehr ablegen KÖNNEN, gar nicht zum Richteramt zuzulassen.
@AKM: Art. 33 Abs. 3 GG soll verhindern, dass religiöse Gruppen von öffentlichen Ämtern ferngehalten werden, die Bestimmung soll selbstverständlich nicht verhindern, dass die allgemeinen Gesetze für jedermann gelten.
Interessant, wie Sie “Ideologie” und “Glaubensüberzeugung” in Ihrer Argumentation austauschen. Nun ist es aber so, dass das GG sich bereits entschieden hat, das Glaubensüberzeugungen besonders zu schützen sind. Ich entnehme Ihren Ausführungen nichts Gegenteiliges, insbesondere nichts verfassungsdogmatisch Weiterführendes.
@AKM: OK. Ich denke, es sprechen gute Gründe dafür, Muslime, die “in ihrer Glaubensüberzeugung” so gefestigt sind, dass sie das Kopftuch nicht mehr ablegen KÖNNEN, gar nicht zum Richteramt zuzulassen.
Ich habe mich auf Ihre Frage bezogen, ob man aus Art. 33 Abs. 3 GG Honig dafür saugen kann, ein Amt deswegen abweichend von den allgemeinen Gesetzes auszuüben (etwa von Kleidungsvorschriften), weil man persönlich Glaubensüberzeugungen anhängt. Hierzu sagte ich: Nein, dies geht nicht. Art. 33 Abs. 3 GG verhindert vielmehr die Negativauswahl von Bewerbern wegen deren persönlicher Glaubensüberzeugungen.
Ich bin kein Beamtenrechtler. Trotzdem ein Gedanke dazu: Die _Zugehörigkeit_ zu einem religiösen Bekenntnis scheint mir hier nicht das Problem zu sein. Art. 33 Abs. 3 GG scheint mir insoweit schon viel enger formuliert zu sein als Art. 4 GG (siehe insbesondere dessen Abs. 2) – und womöglich historisch auf eine andere Situation zugeschnitten zu sein. Mir scheint sie – für diese Situation – sogar überflüssig, weil Art. 33 Abs. 2 GG ja ohnehin die allein zulässigen Auswahlkriterien benennt. Aber das alles aus beamtenrechtlicher Laiensicht.
Die Frage ist doch, wie mir scheint, gerade, ob es sich bei den – nun ja erst neu zu schaffenden – “allgemeinen Gesetzen” tatsächlich um solche “allgemeinen Gesetze” handelt. Ihre tatsächlichen Auswirkungen sind, selbst wenn sie sich nicht spezifisch gegen muslimische Glaubensüberzeugungen richten, diskriminierend – mittelbar diskriminierend. Ich meine, dass Art. 33 III GG auch ein solches Verbot mittelbarer Diskriminierung enthält (arg: enthalten muss, soll es nicht durch formalistische Interpretation sinnentleert werden).
Nochmals zu Ihrem vermeintlich unproblematischen Austausch von “Ideologie” und “Glaubensüberzeugung”: Der besondere Gehalt der Glaubensfreiheit liegt meines Erachtens gerade darin, dass sie vor den Zumutungen säkularen Lebens schützt, mithin einen Freiraum für religiöse Überzeugungen auch in der Öffentlichkeit schafft.
Ich fände es höchst begrüßenswert, wenn wir eine kopftuchtragende muslimische Richterin am BVerfG hätten – das würde symbolisch transportieren, dass Musliminnen und Muslime nicht nur “versteckt” und “assimiliert” in Deutschland leben dürfen, sondern selbstverständlich auch nach außen sichtbar ihren Glauben leben dürfen. Auch in einem öffentlichem Amt wie als Richterin.
@AKM: Kann man gerne in ein allgemeines Gesetz schreiben, dass Beamte und Richter tragen können, was sie wollen. Wenn Sie da eine Mehrheit im Deutschen Bundestag hinbekommen, alles klar. Wenn nein, dann müssen die Beamten und Richter sich an die allgemeinen Gesetzes halten (so ist das mit Art. 33 Abs. 3 GG). Was Ihnen vorschwebt, scheint eine Art “Schaukel- oder Wechselwirkungstheorie” zu sein, ist es das, was Sie sagen wollen?
@AKM: Was einzelne “ideologisch” gefestigte Richter am BVerfG betrifft (nicht jede Ideologie dort ist derzeit eine “religiöse Überzeugung”), haben wir wohl in jüngerer Zeit eher ein Übermaß erlebt. Wenn Sie insoweit die Außenwahrnehmung des Gerichts in den Blick nehmen, werden Sie mühelos die problematischen Stellen finden…
@Kopfschüttler: Wo nehmen Sie eigentlich die “allgemeinen Gesetze” her? Meinen Sie Art. 20 Abs. 3 GG – Bindung der Rechtsprechung an Recht und Gesetz? Oder Art. 97 Abs. 1 GG (“Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.”)? Und was hätte das dann mit Art. 33 Abs. 3 GG zu tun?
Bitte um Aufklärung.
@ AKM
Die Norm dürfte die einschlägige sein – das ist ja gerade der Knackpunkt, wenn es keinen Anspruch auf Beteiligung gäbe, dann wäre die Debatte gar nicht da (bzw. würde sich im nichtrechtlichen Rahmen bewegen).
Die Frage ist jedoch, ob Art. 33 GG erstens lediglich Zutritts- oder auch Ausübungsfreiheit gewährleistet und ob das schrankenlos ist.
Sie kennen vielleicht die Problematik um die nudelsiebtragenden Anhänger des fliegenden Spaghettimonsters, die mit ihrer Bewegung die Frage zu beantworten versuchen: Schlägt Religionsfreiheit jedwede Vernunft, jedwedes anderes Recht?
Würde – als Beispiel – die Autorin gerne einer Richterin gegenübersitzen, die sich als Hindu zu erkennen gibt? Wäre das auch noch der Fall, falls gerade ein religiös aufgeladener Krieg zwischen Indien und Pakistan herrscht?
Würden wir es akzeptieren, wenn es jemand als Teil seiner Religion sieht, sich ein gewisses hinduistisches Glückssymbol auf die Stirn tätowieren zu lassen? Wie prüfen wir, ob er wirklich Hindu ist – oder doch nur ‘n doofer Nazi mit ‘ner guten Ausrede?
Gegenseitige Rücksichtnahme heißt auch, sich gelegentlich zurückzunehmen. Und das kann der Staat von seinen Dienern, das kann die Öffentlichkeit von ihren Beamten/Richtern verlangen.
Man sollte dabei nicht übertreiben. Bei staatlichen Aufgaben, die nicht hoheitlich oder anderweitig “aufgeladen” sind, sollte sich m. E. wiederum der Staat zurückhalten, genau so bei schlicht modischen Erscheinungen – wir erleben das gerade live bei der Diskussion um Tätowierungen und Brustvergrößerungen bei der Polizei.
Aber mal ganz ehrlich: Wenn es nicht okay ist, wenn ‘ne Polizistin eine neutrale Tätowierung (Herz, Kaninchen oder sonst’was) auf der Hand trägt, weil das dem Ansehen der Polizei schade – dann soll der Richterin im Dienst ein betontes Glaubensbekenntnis erlaubt sein? Ja, ne, ist klar.
Ganz ehrlich: Es gibt gute Zeiten, Rechte als Minderheit durchsetzen zu wollen, und es gibt schlechte Momente dafür. Wenn 10% bis 20% der Republik auf Landesebene ihr Kreuz am rechten Rand setzen, weil ihnen zu viel Islam im Land präsent sei, dann muss man nicht auch damit noch aufkreuzen. Ein wenig Taktgefühl – sogar wenn ein Recht besteht/bestünde, ist es m. E. politisch nicht verantwortlich, darauf just in diesem Moment zu pochen. Das macht doch alles nur noch schlimmer.
Man stelle sich einmal vor, Frau Merkel würde sich öffentlich als Muslimin zu erkennen geben – oder eine Richterin mit Kopftuch ans BVerfG setzen.
Das mag ein Teil der Bevölkerung als Zeichen für Toleranz begrüßen. Aber ein anderer Teil beginnt danach die Revolution und murkst den ersten Teil ab. Wollen wir das?
@AKM: Allgemeine Gesetze bezieht sich auf “Gesetze für alle”, unabhängig von persönlichen Überzeugungen. Art. 33 Abs. 3 GG garantiert Ihnen nicht, dass Sie Ausnahmeregelungen bekommen (habe ich jetzt schon zweimal geschrieben), sondern Art. 33 Abs. 3 GG garantiert, dass Sie nicht deswegen nicht in das Richteramt berufen werden, weil Sie bestimmte religiöse Überzeugungen haben.
Noch konkreter: Der Staat kann Substanz Art. 33 Abs. 3 GG keine Ausschreibung machen, die Richterstellen nur für Christen vorsehen.
@AKM:Interessant, wie Sie Gesetzesbindung und Formalismus in Ihrer Argumentaion verwechseln.
“sub”, nicht “Substanz” ;-)
@AKW: Zugegeben, “formalistisch” war ein wenig überspitzt. Ich bezog mich auf den Unterschied von formalem Gleichheitsverständnis – auf den offenbar @Kopfschüttler aus ist – und materialem Gleichheitsverständnis – um das es mir geht.
Bei einem materialen Gleichheitsverständnis bleibt es nicht dabei, nur zu gucken, ob eine Benachteiligung bereits im Text der Norm selbst explizit enthalten ist. Es geht vielmehr auch darum zu überprüfen, wie sich – vermeintlich – “allgemeine” Gesetze auf unterschiedliche Personengruppen auswirken. Für Art. 3 Abs. 2 GG (Kategorie “Geschlecht” ist das vom BVerfG im Nachtarbeitsurteil anerkannt worden).
Ich plädiere dafür, diese Sichtweise auch auf die Kategorie “Religion” in Art. 3 Abs. 3 GG und eben Art. 33 Abs. 3 GG zu übertragen, mithin für ein materiales Gleichheitsverständnis.
Dann erweist sich, dass ein “allgemeines” Gesetz, nur Robe und kein Kopftuch zu tragen, zwar formal nicht aussagt: “Muslimische Richterinnen mit Kopftuch darf es nicht geben.”, aber material betrachtet genau diese Wirkung hat: Faktisch werden kopftuchtragende Frauen vom Amt der Richterin ausgeschlossen.
[Dass darin übrigens auch noch eine – intersektionale – mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts liegt, sei nur am Rande bemerkt.]
Mit welcher Begründung wollen Sie (etwaige) Vorgaben des Art. 3 II GG auf Art. 33 GG “übertragen”? Um was handelt es sich bei dieser “Übertragung” methodologisch? Art. 3 GG ist kein Super-Grundrecht. Der Gedanke an Rechtsfortbildung contra legem liegt da nahe!
@AKM: Dass Sie dafür plädieren, ist deutlich geworden. Das ändert aber nichts an Ihrer Frage, ob Art. 33 Abs. 3 GG dies auch hergibt. Die Bestimmung dient nicht dazu, Sonderrechte zu verschaffen, sondern soll Negativauswahl verhindern, das sind zwei unterschiedliche Dinge.
Man kann über beides reden, rechtspolitisch hat @Leser da m.E. alles, was man an klugen Dingen dazu sagen kann, gerade geschrieben (lesen Sie das ruhig nochmal langsam nach).
@Anna K. Mangold
In der Tat eine gute Überlegung.
Anders als noch der 2. Senat im ersten Kopftuch-Urteil, misst der 1. Senat im jüngsten Beschluß das Verbot nur an Art. 4 I GG (lediglich die unzulässige Privilegierungsklausel wird an Art. 33 III iVm Art. 3 GG gemessen).
Im ersten Urteil hat der 2. Senat Art. 33 III GG zwar geprüft, ihm im Verhältnis zu Art. 4 I GG jedoch kaum eine eigenständige Bedeutung beigemessen; glaubensbezogene Zugangsbeschränkungen im öffentlichen Dienst sind danach den strengen Rechtfertigungsanforderungen von Art. 4 I GG unterworfen (BVerfGE 108, 282 (298)).
Die Forderung, Art. 33 III GG und seiner eigenständigen Bedeutung stärker Rechnung zu tragen, etwa als Grundentscheidung mit dem Ziel, “Angehörige aller in der Gesellschaft vertretenen religiösen Gruppen gleichermaßen an der Ausübung öffentlicher Gewalt zu beteiligen” (Rustenberg, JZ 2015, 637 (642)), ist deshalb in der Literatur auch bereits erhoben worden. Die Norm könnte dadurch zusätzlich zur subjektiv-rechtlichen Dimension auch die eines Verfassungsauftrags (ähnlich dem Art. 3 II 2 GG) erhalten.
Hat eigentlich schonmal jemand an die negative Religionsfreiheit gedacht? Was ist, wenn meine Weltanschuung es mit verbietet, gemeinsam mit einer Kopftuchträgerin einen Senat oder eine Kammer zu bilden? Das als Argument iRv Art. 33 anzuführen, ist mE genauso berechtigt oder absurd (je nach Standpunkt) wie das Tragen des Tuchs selbst.
Nur eine kleine Anmerkung: Interessant finde ich Ihre Beschreibung des Gerichtssaals:
„Ein Gerichtssaal ist ein Ort der Wahrheitsfindung und der argumentativen Streitbeilegung, idealerweise mit dem Ziel Rechtsfrieden zu schaffen.“
Sicherlich – vor allem aber ist der Gerichtssaal ein Ort staatlicher Machtausübung. Kaum eine Situation gibt es, in der Menschen so abhängig sind von der Macht anderer, wie im Gerichtssaal. Nicht immer, aber sehr oft in existentiellen Fragen. Daran ändern weder Begründungspflichten etwas noch die Möglichkeit von Rechtsmitteln, zumal jeder Instanzenzug einmal erschöpft ist.
Dürfen nicht Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass diejenigen, denen diese Macht anvertraut ist, wenigstens für die Zeit der mündlichen Verhandlung – und nur darum geht es ja – ihre eigenen Bekenntnisse und Anschauungen vöölig zurückstellen und dies sichtbar durch den Verzicht (auch) auf religiöse Symbole dokumentieren? Allein um denjenigen, der eine hohe Freiheitsstrafe, eine abschlägige Sorgerechtsentscheidung oder eine existenzvernichtende Verurteilung zu einer Geldzahlung fürchtet, nicht noch mit der Sorge zu belasten, welche Bedeutung das von der Richterin getragene Kopftuch, Kreuz usw. für den Prozessausgang haben könnte – mag diese Sorge auch noch so unbegründet sein.
Ohne Kenntis diesbezüglicher Statistiken, kann es, egal ob entsprechend entgegenstehende Gesetze oder nicht, eher ungewöhnlich wirken, wenn jemand, mit oder ohne (muslimisches, christliches o.ä) Kopftuch, von Beginn einer Justizlaufbahn an einen bestimmten Einsatz seiner Person in der Justiz mit Erfolg einklagen kann.
Anderes kann für eine Aufnahme für allgemeine Ausbildungsverhältnisse in der Justiz, wie ein Rechtsreferendariat, gelten.
Dürfen nicht Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass diejenigen, denen diese Macht anvertraut ist, wenigstens für die Zeit der mündlichen Verhandlung – und nur darum geht es ja – ihre eigenen Bekenntnisse und Anschauungen vöölig zurückstellen und dies sichtbar durch den Verzicht (auch) auf religiöse Symbole dokumentieren?”
Genau das.
Wobei ich wiederholen möchte: Kreuze im Gerichtssaal sind m. E. da auch unangebracht. Aber einen Fehler (Kreuze) kann man nicht durch einen zweiten (Kopftücher) ausgleichen.
Es gibt nun durchaus einen Unterschied zwischen einen Kreuz und einem Kopftuch im Gerichtssaal. Das Kreuz hängt dort aus einer christlichen Tradition heraus und genau aus dem selben Grund wir der Amtseid mit der Formel “so wahr mir Gott helfe.” abgeschlossen, die eben nur optional weggelassen werden kann.
Weltanschaulich neutral sind natürlich beide Elemente keineswegs, sie sind geradezu christliche Weltanschauung.
Das stört aber zunächst einmal überhaupt nicht. Denn das Recht, dass im Gerichtssaal gesprochen wird ist nichts anderes als die Umsetzung einer kodifizierten Weltanschauung mit allen Konsequenzen – und darin finden sich sehr wohl zentrale, christliche Werte wieder. Das Geständnis ist beispielweise nichts anderes als die juristische Transkription des christlichen Sündenbekenntnisses.
Die Frage muss sein ob religiöse Elemente im Gerichtssaal die Rechtssprechung auf der Basis der in Gesetzen anerkannten und kodifizierten Weltanschauung entscheidend beeinflussen können. Im Hinblick darauf, dass sich die großen christlichen deutschen Kirchen weitgehend der Gesetzgebung unterwerfen und für viele das Kreuz ein Folklore-Element geworden ist, darf man davon ausgehen, dass es diese Beeinflussung nicht gibt.
Es ist nun etwas ganz anderes, wenn ein solches religiöses Element a.) von einem individuellen Beamten, sprich Entscheider, genutzt wird b.) das zum Ausdruck kommende Bekenntnis in der Regel Werte beinhaltet, die mit dem Grundgesetz unvereinbar sind und c.) schon das Element selbst in Varianten seiner Anwendung, beispielsweise dem Tragezwang, zu zentralen Werten des Grundgesetzes im Widerspruch stehen kann.
Natürlich ist Frau Sandhu mit ihrer Klage im Recht gewesen und hat dieses bekommen. Die nun absehbaren Verbote zeigen aber, dass uns der Multi-Kulturelle Gesellschaftsentwurf viele Freiheiten nimmt. Will eine Frau zukünftig vielleicht aus rein ästhetischen Gründen im Zuge einer Krebstherapie als Richterin ein Kopftuch tragen, dann ist es auch damit bald vorbei.
Weierhin:
Könnte Frau Sandhu nicht mit den exakt gleichen Argumenten ein Recht auf Vollverschleierung als Richterin einfordern?
Zu guter letzt wären natürlich Millionen Frauen und Mädchen, die per Gesetz oder per mittel- und unmittelbaren, gesellschaftlichem Zwang lebenslang ein Kopftuch in der Öffentlichkeit tragen müssen, bitter darüber enttäuscht, wenn verbeamtet muslimische Frauen in Deutschland durch ein Kopftuchverbot übelst diskriminiert werden würden …
Eine schöne, lehrreiche, weil so differenzierte Diskussion. Mir wird deutlich, dass die Argumentationsstruktur außerordentlich suspekt ist, dass der Hinweis auf den inneren Zwang, religiösen Geboten zu folgen, unter dem Gesichtspunkt materialer Gleichheitsaspekte die Suspendierung oder Anpassung allgemeiner Regeln der Rechtsordnung besorgen können soll. Kommt man da nicht erwartbar in Teufels Küche? Wenn es etwa ein religiöses Gebot gäbe, dass freiwillige Ausbildung nur dann erlaubt sei, wenn sie durch eine Person gleichen Geschlechts erfolge, wie weit kämen wir dann mit derartigen materialen Gleichheitsvorstellungen.
Ich stimme Ihnen zu – Kreuz an der Wand und Tuch um den Kopf sind zwei unterschiedliche Dinge, die auch unterschiedlich zu bewerten sind.
Trotzdem finde ich beide falsch. ;-)
Die Formel “So wahr mir Gott helfe” definiert nicht explizit, welcher Gott gemeint ist. Die Formel wird in der Annahme entstanden sei, dass es der christliche Gott sein wird. Aber da mag sich dann noch jeder im Stillen denken, dass er das fliegende Spaghettimonster meint.
UND die Formel ist optional. Eine Abnahme von Kopftuch/Kreuz kann man “Kunde” bei Gericht leider nicht verlangen.
> Kommt man da nicht erwartbar in Teufels Küche?
Um es “weltanschaulich neutral” auszudrücken: Es würde sehr schnell, sehr kompliziert werden, wenn wir das Recht auf Religionsausübung im Dienst über die Pflicht zu Neutralität stellen würden.
Wer das Privileg hat über etwas Lebenspraxis zu verfügen, dem dürfte klar sein, dass mit GG 33 Absatz (3) eben nur der Zugang unabhängig vom Glaubensbekenntnis ermöglicht, niemals aber die explizite Glaubenspraktizierung im Dienst oder Beschäftigungsverhältnis garantiert werden kann.
Ich möchte zu dieser Thematik folgenden Gesichtspunkte einbringen:
Als Deutscher würde ich auf einer Reise durch Israel keine Deutschlandfahne schwenken. Denn ich würde mich sorgen, erstens die Gefühle der dortigen Bevölkerung zu verletzen und zweitens auch selbst verletzt zu werden.
Dabei ist das rein persönlich höchst ungerecht: Ich persönlich habe am Holocaust nicht mitgewirkt. Auch meine Vorfahren nicht. Ich habe persönlich weder davon profitiert, es je gebilligt noch teile ich die dahinter stehende Gesinnung. Faktisch könnte ich die Liebe (?) zu meinem Land nicht ausdrücken, so wie ich es vielleicht wollen würde (vorsorglich: Nein, ich laufe auch nicht fahnenschwenkend durch Deutschland).
Wäre ich FC-Bayern-Fan, würde ich nicht fahnenschwenkend durch eine Gruppe von Weder-Fans laufen, schon gar nicht, falls gerade ein kontroverses Spiel bevorsteht oder gerade stattgefunden hat. Die Gründe wären dieselben.
Das wäre persönlich höchst ungerecht. Mein Recht, in der Öffentlichkeit nach Belieben Fahnen zu schwenken, wäre faktisch eingeschränkt. Ich könnte die Liebe zu meinem Fußballverein nicht so ausdrücken, wie ich das wollte.
Wäre ich Moslem, würde ich gegenwärtig meinem Glauben sehr, sehr still folgen. Und mich fragen, ob Gott mich nicht mehr lieben würde, wenn ich das Kopftuch mindestens im Dienst abnehmen würde. Wenn er mich dafür hassen würde – wie sehr wäre er dann der Verehrung wert?
Das ist natürlich höchst ungerecht. Ich hätte, auch wenn ich Moslem wäre, mit den Attentätern, Terroristen und Eiferern im Iran, im Irak, in Pakistan oder der Türkei wenig gemein, und wäre ganz bestimmt nicht persönlich verantwortlich für ihre Taten.
Trotzdem würde ich mich so benehmen, erstens aus Rücksicht auf andere, zweitens um nicht zu meinen eigenen Ungunsten zu provozieren.
Ganz plastisch: Haben die von der Autorin und anderen Klägerinnen geführte Streite beigetragen zum gesetzgeberischen Willen, die fehlende gesetzliche Regelung zu schaffen? Falls ja, haben sie vielleicht zementiert, dass auch ihre etwaigen Töchter nicht bekommen werden, worauf sie selbst vielleicht still hätten verzichten könnten.
Ich bin auch kein Christ, aber angeblich heißt es in der Bibel, dass man manchmal auch die andere Wange hinhalten soll. Oder im Volksmund: Der Klügere gibt nach.
Vielen Dank für diesen ausführlichen und eloquenten Beitrag.
Entgegen vieler meiner Vorredner bin ich der Ansicht, dass eine Richtierin mit Kopftuch mehr als begrüßenswert wäre. Weshalb hier mit zweierlei Maß gemessen werden soll, verstehe ich nicht. Die innere Überzeugung lässt sich nunmal nicht mit dem Kopftuch ablegen, ich frage mich was das bringen soll. Es wird immer noch der selbe Mensch (mit den selben persönlichen Ansichten) nach deutschem Recht über jemanden richten. Und nur das geschieht. Und mit Verlaub, das geschieht nunmal tagtäglich an deutschen Gerichten! Christen richten über Atheisten richten über Muslime. Und keiner beschwert sich. Warum? Weil jeder weiß, dass – egal wer die Robe trägt – immer noch das deutsche Recht zur Anwendung kommt und nichts anderes. Frau Sandhu hat, wie alle Juristen vor ihr auch, Jura studiert, das deutsche Staatsexamen mit bravour bestanden und bewiesen, dass sie sich besser als so mancher unscheinbarer gänzlich mit seiner Umwelt eins werdender sichtbar “deutscher” “neutraler”, “unvoreingenommener” “überzeugungsfreier” (wo gibt es so etwas?) deutscher Michl in der Anwendung des deutschen Rechtes auskennt. Von so einem Richter möchte ich ein Urteil und keines, das aus Halbwissen und dem Bauch heraus gefällt wird. Weshalb verlangen wir von unseren muslimischen Mitbürgern päpstlicher als der Papst zu sein?
@The Populist, Mi 11 Jan 2017 / 08:39
“Es gibt nun durchaus einen Unterschied zwischen einen Kreuz und einem Kopftuch im Gerichtssaal. Das Kreuz hängt dort aus einer christlichen Tradition heraus und genau aus dem selben Grund wir der Amtseid mit der Formel “so wahr mir Gott helfe.” abgeschlossen, die eben nur optional weggelassen werden kann.
Weltanschaulich neutral sind natürlich beide Elemente keineswegs, sie sind geradezu christliche Weltanschauung.
Das stört aber zunächst einmal überhaupt nicht. Denn das Recht, dass im Gerichtssaal gesprochen wird ist nichts anderes als die Umsetzung einer kodifizierten Weltanschauung mit allen Konsequenzen – und darin finden sich sehr wohl zentrale, christliche Werte wieder. Das Geständnis ist beispielweise nichts anderes als die juristische Transkription des christlichen Sündenbekenntnisses. (…)”
Zum Glück haben wir uns in Deutschland der christlichen / kirchlichen Rechtssprechung längst entledigt, die hat in der Historie schon genug Unheil angerichtet.
Nichtsdestotrotz sollten Sie sich einer Sache bewusst sein: Der Islam gehört, mit dem Christentum und dem Judentum zu den drei Buchreligionen, die auf so ziemlich den gleichen Grundwerten basieren. Muslime erkennen Jesus als einen ihrer Propheten an, gleichwohl verehren sie Moses als einen Propheten. Die 10 Gebote gelten ebenso für Muslime.
Was genau befürchten Sie von einer muslimischen Richterin? Und haben Sie mal in allen deutschen Gerichten nachgefragt, ob es nicht den einen oder anderen Richter gibt, der ebenfalls Muslim ist, man es ihm aber nicht ansieht? Die soll es geben. Und die fällen auch täglich ihre Urteile. Sind diese nun gerechter, weil der Richter kein Tuch trug und sind seine Entscheidungen daher als gültig anzuerkennen? Soll sich der Verurteilte in einer Art Scheinsicherheit fühlen, da er ja denkt, der Richter sei “neutral” (ist er aber nach Ihrer Definition nicht). Letztendlich ist und bleibt dies eine reine Scheindebatte.
@Leser:
“Ganz ehrlich: Es gibt gute Zeiten, Rechte als Minderheit durchsetzen zu wollen, und es gibt schlechte Momente dafür.”
Ist das Ihr Ernst?? Würden Sie, wenn es um Ihr Recht ginge auf den richtigen Zeitpunkt zur Durchsetzung warten? Welcher genau wäre dies? Und seit wann gelten Rechte nur relativ in Abhängigkeit des vorherrschenden Zeitgeistes?
@Leser:
“Wäre ich Moslem, würde ich gegenwärtig meinem Glauben sehr, sehr still folgen. Und mich fragen, ob Gott mich nicht mehr lieben würde, wenn ich das Kopftuch mindestens im Dienst abnehmen würde.”
Es gab schon Zeiten, da konnten Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe nicht in etablierte Positionen kommen. Im Gegensatz zum Kopftuch lässt sich diese aber nicht abnehmen. Ginge es nach Ihnen müssten diese Menschen heute noch immer am Rande der Gesellschaft sitzen und sich still verhalten, ja keinen Aufruhr herbeiführen. Zum Glück hat Rosa Parks nicht so gedacht wie Sie.
> Nichtsdestotrotz sollten Sie sich einer Sache bewusst sein: Der Islam gehört, mit dem Christentum und dem Judentum zu den drei Buchreligionen, die auf so ziemlich den gleichen Grundwerten basieren.
Bei Ihrem Islamkundeunterricht fehlte noch der Hinweise, dass Christentum und Judentum im Unterschied zum Islam, seit 250 Jahren mit der Aufklärung konfrontiert sind. Diese hat auf Religionspraxis und Religionsdogmatik entscheidenden Einfluss ausgeübt. Etwas vergleichbares finden Sie im Islam nicht.
Der Islam übt heute in vielen Ländern genau jene krichliche Rechtssprechung aus, für deren Abschaffung Sie im Hinblick auf das Christentum so dankbar sind. Für viele dieser Länder ist die Scharia aber genauso ein Fortschritt, wie wir ihn in der Aufklärung erkennen. Ein Fortschritt gegenüber dem sonst üblichen Stammesrecht mit Ausprägungen wie Blutrache, etc..
Offenbar sind wird uns nun aber immerhin darin einig, dass die Scharia in Deutschland keinen Fortschritt darstellt und uns 250 Jahre zurück katapultieren würde.
Nun will ich keinem Moslem automatisch unterstellen, dass er hier die Scharia einführen will. Deswegen richte ich mich auch nicht gegen Moslems als Richter. Ich richte mich nur gegen Richter und andere Amtsträger, bei denen ich Zweifel haben muss, dass für diese das Grundgesetz die – ohne wenn und aber – bindende Grundlage ihres Amtshandelns ist.
Frau Sandhu heiße ich als Muslima und Richterin willkommen, wenn diese Zweifel nicht bestehen. Offenbar ist ihr der Ausdruck ihrer Religiösität aber wichtiger, als diese Zweifel auszuräumen.
Und selbstverständlich ist das nicht etwa eine Scheindebatte, sondern eine Debatte von ganz grundsätzlicher Bedeutung.
@ The Populist:
„Ich richte mich nur gegen Richter und andere Amtsträger, bei denen ich Zweifel haben muss, dass für diese das Grundgesetz die – ohne wenn und aber – bindende Grundlage ihres Amtshandelns ist.“
Sie sind also der Überzeugung, solange ein Richter kein erkennbares religiöses Symbol trägt, ist es von vorneherein ausgeschlossen, dass er verfassungsfeindliche oder grundgesetzwidrige Überzeugungen in der Brust trägt? Ich hoffe Sie erkennen die Doppelmoral in eben dieser Denkweise. Wenn Sie dieser Meinung sind, sollten Sie eine Forderung der Überprüfung der gesetzestreue jeglicher Richter fordern (wie Sie selbst merken, ein unmögliches Unterfangen).
Oder aber Sie machen es einfach wie (vermutlich) bisher und setzen Ihr Vertrauen in die qualitative Juristen-Ausbildung an unseren Hochschulen, der Verhandlungstransparenz an deutschen Gerichten, sowie der Nachvollziehbarkeit, Überprüfbarkeit und im Zweifelsfall sogar Anfechtbarkeit eines richterlichen Urteils.
> Ich hoffe Sie erkennen die Doppelmoral in eben dieser Denkweise.
Ich hoffe Sie lernen bis zum Ende Ihres Studiums noch das Verstädnis einfacher Sätze.
Natürlich kann potentiell jeder Richter absichtlich oder unabsichtlich fehlurteilen. Im vorliegenden Fall zeichnet sich aber ein offensichtlicher Wertekonflikt ab und das nährt von vorneherein Zweifel.
Ein Unterschied zwischen Kreuz an der Wand und Kopftuch (oder Kreuz als Halskette bei Richter_in/Staatsanwält_in) ist, dass das erstere der ganzen Institution zugeordnet ist. Insofern finde ich ersteres sogar noch bedenklicher, denn das wird ja bei Gerichten letztlich direkt von einem Staatsorgan gezeigt. Während letzteres dagegen ein (Rest-)Ausdruck der individuellen Person, die ein Amt bekleidet ist.
Wenn wir diese Sache der Neutralität also ernst nehmen, müsste das Kreuz an der Wand zuerst weg (auch an Schulen, und zwar ohne bayerische Sonderlocken), denn der Staat selbst hat kein Recht aus Art. 4 GG, im Gegensatz zu Einzelpersonen, die dieses (ggf. in Konkurrenz zu der Trennung von Staat und Kirche aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 II WRV) haben.
@Hannah,
wenn Sie den deutschen Staat und das deutsche Volk mit und in dem Leben mögen, würde ich mir die Aussage noch einmal überlegen.
Die Quelle allen Rechts ist das Volk.
Wenn das Volk das Recht oder die Rechtsorgane nicht akzeptiert,sind wir bald in Mexiko, Iran oder bei den Saudies – also Rechtsprechung mit Kalaschnikow und/oder Schwert und/oder Peitsche, oder aber das Volk setzt sich durch.
Was dann im Gerichtssaal hängt werden wir sehen.
In Mexico ist es zur Zeit die Dollarnote, im den anderen Ländern der Wahlspruch
الله أَكْبَر.
Recht ist abhängig von der Akzeptanz der Richter durch den Souverän in der Demokratie ist das das Volk!
Siehe mein Beitrag oben.
> … müsste das Kreuz an der Wand zuerst weg …
Und womit wollen Sie mit diesem Ent-Kreuzigung danach weitermachen – Deutschlands Krankenwagen übertünchen und dann die Verbandskästen bei der nächsten Hauptuntersuchung?
Das dressierte Handlungsmuster funktioniert mittlerweile perfekt:
Angehörige gewisser Minderheiten testen erkennbar die Grenzen dieser Gesellschaft aus, dann wird schnell irgendetwas herangezogen, was die ewig bösen Deutschen – hier ist die Generalisierung dann immer OK – scheinbar noch schlimmer machen, um das ganze zu relativieren.
Vielleicht fällt Ihnen noch vor der Bundestagwahl auf, dass sich die Wirkmacht dieses Handlungsmusters mittlerweile umgekehrt hat …
Lieber @Studiosus, danke dafür, dass Sie mit rationalen Argumenten die hier geführte Debatte wesentlich aufwerten! Sie haben eigentlich alles gesagt, was zum Thema gesagt werden muss.
@studiosus_ und @Christian Boulanger
wenn man sich so anschaut wer da alles heute Recht spricht vor allen aus dem Beritt des Blog, dann ist das mit der “Überprüfung der Gesetzestreue jeglicher Richter”. Keine schlechte Idee.
Das Volk macht es sowie so, und zwar ständig.
Und wenn ich mir so anschaue was auf unseren Unis los ist ist das vielleicht die Bessere Wahl.
Aktuelles Beispiel die Uni Magdeburg am Freitag. Alles absolut Gesetzestreue und durch und durch demokratische Elite.
Mit Polenböller, Kampfkugelschreiber und Vermummung geht es zum Biologieseminar.
https://www.youtube.com/watch?v=dSDIngUsYvE
3 Minuten ohne Kommentare
@ studiosus
Halten Sie es für möglich, dass die Bürgerrechtsbewegung in den USA weniger erfolgreich gewesen wäre, wenn sie parallel zu (mehr) Terrorakten stattgefunden hätten, in denen Schwarze Weiße aufgrund Ihrer Hautfarbe getötet hätten? Wenn parallel dazu ein Afrika weiße Touristen, Journalisten, Geschäftsleute und Einheimische aufgrund ihrer Hautfarbe entführt und gefoltert worden wären? Wenn man in den Medien schwarze Meinungsführer hätte sehen können, die sich für eine Auslöschung der “weißen Rasse” aussprechen und weiße Frauen als Sklavinnen halten?
Wenn ja, verstehen Sie mein Argument zu guten und schlechten Zeitpunkten.
Wenn nicht, kann ich nur seufzen.
Es gibt spezielle Verhältnisse, die kraft freiwilliger engerer Beziehung zur Staatsgewalt einen Sonderstatus an Pflichten und Rechten begründen.Das ist ein Grundsatz der gilt auch heute noch. Mit dem besondere Gewaltverhältnis werden darüber hinausgehende Inhalte assoziiert. Beides ist deshalb zu unterscheiden. Mit dem “besonderen Gewaltverhältnis” assoziiert man, eher einen Verlust der Grundrechte in diesen Verhältnissen. Das ist abzulehnen und verworfen. Aber in speziellen Verhältnissen können die Grundrechte eingeschränkt werden, allerdings nur so weit, wie der Zweck des betreffenden Sonderrechtsverhältnisses. dieses erfordert. Das gilt heute noch. Ob man das nun “funktionelle Begrenzung” oder “Sonderstatusverhältnis” nennt, ist eigentlich unerheblich.
@Wiss. Mit., Mo 9 Jan 2017 / 21:02
Sie haben völlig recht. Es ist natürlich möglich das dies auf die Bediensteten durchschlägt! Man landet bei dieser Annahme dann auch nicht wie von Frau Sandhun geschrieben bei einer Lehre die längstens werworfen ist, der Lehre des “besonderen Gewaltverhältnis”. Diese Lehre besteht modifiziert weiter, nur nennt man es nicht mehr so, weil das besondere Gewaltenverhältnis inhaltlich viel weitreichender war, als das was man heute als Grundsatz weiterhin anerkennt! Nämlich die simple Tatsache, dass es spezielle Verhältnisse gibt, die besonderen Anforderungen unterliegen. Man kann dazu auch “Sonderstatusverhältnis” statt “besonderes Gewaltenverhältnis” oder “funktionale Begrenzung” sagen. Selbst wenn man alle diese Begrifflichkeiten weglässt, bleibt der Kern-Inhalt gleich, dass nämlich in bestimmten Bereichen besondere Anforderungen gelten. Und, in diesen Bereichen Grundrechte weitreichender eingeschränkt werden können als wenn man sich nicht in diesen Bereichen befindet. Das hat mit der Unterscheidung Staat/Bürger zu tun. Staat=Grundrechtsverpflichtet und Bürger=Grundrechtsberechtigt. Wenn nun der Bürger in freier Willensentscheidung sich auf die Seite des Staates wirft, muss er sich dessen Anforderungen auch stellen. Wie weit man da die Grenzen zieht ist jeweils umstritten. Das ist damit gemeint, wenn das BVerfG im Kopftuchurteil II die Unterscheidung aufmacht, dass der Staat sich das Bekenntnis welches durch das Kopftuch vorliegt nicht zu eigen macht, sondern die Bekundung nur erldutet. Das ist schlicht eine Frage der Ausdifferenzierung/Grenzziehung, der Grundsatz bleibt. Das “besondere Gewaltenverhältnis” ging soweit zu sagen, dass in diesem Verhältnis die Grundrechte des Beamten aufgehoben sind, keine Geltung haben. Das ist zu weitreichend. Der Neutralitätsgrundsatz für Beamte und Richter gilt aber natürlich. Sie entledigen sich in ihrem Beruf nicht ihrer Grundrechte, es sind aber weitreichender Eingriffe nöglich als beim Staatsfernen Bürger. Das BVerfG hat die Neutralitätsgrenze geschwächt in seinem Kopftuchurteil II, sie weit ausgelegt. Richter und Richterinnen im Vergleich zu sonstigen öffentlich Bediensteten unterliegen aber noch einmal einer gesteigerten Neutralitätspflicht. Deswegen ist noch völlig offen, wie das BVerfG einen solchen Fall entscheiden würde. Es ist auch schon ein gedanklicher Trick, von Frau Sandhun, so zu tun, als wäre der “Anschein der Neutralität” das geschützte Verfassungsgut. Die Neutralität selber ist es. Es stellt sich die Frage wie man sie am besten wahrt, ob man dazu auf “innere” oder “äußere” Objektivität setzt. Da es um die Neutralität gegenüber den Verfahrensbeteiligten geht, also dem Bürger im Gerichtsverfahren, sagt man sich “Justice must not only be done, it must see to be done” ein englischer Rechtsgrundsatz den auch der EuGH anwendet. Es ist des RichtersPFLICHT Neutralität und Distanz ausszustrahlen. Den Anschein zu vermeiden – als ein MITTEL um Neutralität zu symbolisieren. Das Richter keine inerlichen Neutronen sind, wer hätte das gedacht, jeder Mensch hat eine persönliche Auffassung. Diese soll aber im Gerichtsaal hintenanstehen. Da der Richter an RECHT und Gesetz gebunden ist, spielen insofern seine persönliche Auffassungen eine Rolle, die er im Rahmen zulässiger Rechtsauslegung auch zum Tragen bringen kann.