12 January 2017

Der Burkini als Technological Fix

Während in ersten öffentlichen Bädern in Deutschland und der Schweiz Burkinis verboten worden sind, befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am 10. Januar 2017, dass der Burkini ein Mittel sein kann, die Teilnahme muslimischer Kinder am koedukativen Schwimmunterricht zu ermöglichen. Der schonende Interessenausgleich, der so erreicht werden konnte, war nur durch diesen Schwimmanzug, der den Charakter eines technischen Konfliktlösungsmittels annimmt, denkbar. Solche technological fixes, die praktische Konkordanz zulassen, stehen auch in anderen Fällen zur Verfügung.

In Osmanoğlu und Kocabaş gegen die Schweiz (Nr. 29086/12) urteilte der Gerichtshof, dass die Verweigerung einer Befreiung vom Schwimmunterricht nicht die Religionsfreiheit der Eltern zweier muslimischer Schülerinnen verletzt. Entsprechend ihrer Überzeugung wollte das Elternpaar seine Töchter auf das religiöse Gebot der Bedeckung des Körpers in der Öffentlichkeit vorbereiten. In der Verweigerung einer Befreiung vom Schwimmunterricht sah der Gerichtshof zwar eine Beeinträchtigung der Religionsfreiheit der Eltern aus Art. 9 EMRK, die auch das Recht umfasse, seine Kinder den eigenen religiösen Vorstellungen entsprechend zu erziehen. Die Maßnahme verfolge jedoch ein legitimes Ziel und erreiche auch einen gerechten Ausgleich zwischen der Religionsfreiheit und den gegenläufigen öffentlichen und Individualinteressen.

Das öffentliche Interesse an der Teilnahme der Töchter am Schwimmunterricht schätzte die Kammer als hoch ein: Die Schule nehme generell einen besonderen Platz im Prozess sozialer Integration ein, der für Kinder aus anderen Kulturen und religiösen Minderheiten noch wichtiger sei. Zur Integration gehörten auch lokale Sitten und Gebräuche. Die Bedeutung des Schwimmunterrichts erschöpfe sich nicht in der gesundheitlichen Wirkung und der Vermittlung der Fertigkeit des Schwimmens. Das gemeinsame Schwimmen sei vor allem auch als Gemeinschaftsaktivität zu verstehen, an der prinzipiell alle Schüler ohne Unterschied teilnehmen sollten. Die vollständige Teilnahme an schulischen Aktivitäten und die damit verbundene Integration liege gerade auch im Interesse des Kindes. Daher sei es insbesondere nicht entscheidend, dass die Beschwerdeführer ihren Töchtern privat Schwimmunterricht ermöglichten. Die Schwere der Beeinträchtigung der Religionsfreiheit sah der Gerichtshof u.a. durch die Möglichkeit verringert, sich getrennt von den Jungen umzukleiden und zu duschen. Ausschlaggebend war jedoch, dass die Schulbehörden angeboten hatten, das Kind dürfe einen Burkini tragen. Dieser ermöglichte es, den religiösen Bekleidungsvorschriften auch im Schwimmunterricht jedenfalls weitgehend zu entsprechen. Seiner ständigen Rechtsprechung entsprechend stellte der Gerichtshof klar, dass Pluralismus, Toleranz und Offenheit Grundprinzipien demokratischer Gesellschaft seien und eine faire Behandlung von Minderheiten forderten. Dies garantiere jedoch nicht, dass man sich in der Öffentlichkeit stets und vollumfänglich nach seinen religiösen Geboten richten könne.

Der Gerichtshof verwendet eine Argumentation, die schon das Bundesverwaltungsgericht in einem parallel gelagerten Fall vertrat und auch vom Bundesverfassungsgericht nicht in Frage gestellt wurde. In der Ablehnung der Befreiung einer muslimischen Schülerin vom koedukativen Schwimmunterricht sah das Bundesverwaltungsgericht ebenfalls im Wesentlichen deshalb keine Grundrechtsverletzung, weil die Möglichkeit des Tragens des Burkinis die Eingriffsintensität deutlich mindere. Lebensnäher als der Gerichtshof, der keine konkreten Anhaltspunkte für eine potentielle Stigmatisierung durch das Tragen des Burkinis zu erkennen vermochte, wies das Bundesverwaltungsgericht darauf hin, dass ggf. zu erwartende intolerante Äußerungen einiger Mitschüler einerseits ebenfalls zum Sozialisationsprozess gehörten und ihnen andererseits durch die Lehrkräfte entgegenzutreten sei. Hygienische Bedenken spielten – anders als in der Verbotsbegründung mancher Bäderbetriebe – zu Recht in keiner der genannten Entscheidungen eine Rolle, da sie unplausibel sind.

Gleichfalls wesentlich war wohlgemerkt die Zurückweisung des Arguments, dass die Beschwerdeführerin dem Anblick von Jungen in Badehose ausgesetzt wäre. Einen Schutz davor, mit dem Grundrechtsgebrauch anderer konfrontiert zu werden, kann es in einer pluralistischen Gesellschaft grundsätzlich nicht geben. Dies gilt selbstredend allseitig.

Die Ermöglichung praktischer Konkordanz durch einen technological fix

Die Nutzung des Burkinis als Argument ist einerseits Ausdruck praktischer Konkordanz im besten Sinne: Es wird ein schonender Ausgleich kollidierender Interessen angestrebt und in diesen Fällen tatsächlich erreicht – auch wenn das Medienecho teils eher kämpferisch als versöhnlich ist. Weder wird die Religionsfreiheit gänzlich hintangestellt, indem nur eine Teilnahme in der für die Mehrheitsgesellschaft üblichen Badekleidung gefordert wird, noch wird das öffentliche Interesse an sozialer Integration aufgegeben. Beide müssen vorliegend gewisse Abstriche hinnehmen, keines aber unangemessene.

Ermöglicht wird praktische Konkordanz hier aber erst und nur durch den Burkini. Er wirkt als technological fix. Solche technischen Konfliktlösungsmittel werden sonst u.a. im Umweltbereich eingesetzt, wenn ein Verhalten beibehalten werden soll, z.B. Stromverbrauch, dieses Verhalten aber gleichzeitig andere Interessen beeinträchtigt, z.B. Klimaveränderung durch CO2-Ausstoß. Eine technische Konfliktlösung ermöglicht es, die Beeinträchtigungen, die das Verhalten für andere Interessen erzeugt, abzumildern (s. etwa L. Rosner (Hrsg.), The Technological Fix: How People Use Technology to Create and Solve Problems, New York 2004). Die erneuerbaren Energien sind ein Beispiel. Die Wirkung des Burkinis in der grund- und menschenrechtlichen Abwägung ist ähnlich: Er ist ein Mittel, das die Beeinträchtigung der Religionsfreiheit durch den Schwimmunterricht deutlich mindert.

Ein Interessenkonflikt besteht zwar weiterhin, dies zeigt das Vorbringen, es wären im Burkini noch immer Körperkonturen sichtbar – welches vom Bundesverwaltungs- wie vom Bundesverfassungsgericht allerdings als eher unplausibel abgelehnt wurde. Das eigentlich bestehende normative Dilemma wird durch das Hilfsmittel des Burkinis aber massiv abgemildert. Jedenfalls wäre eine verbleibende Beeinträchtigung, die auch sonst im Alltag bestehen kann, geringfügig und hinzunehmen. Wesentlich für die Wirkung dieser technischen Konfliktlösung ist, dass es gleichsam nicht mehr wirklich zum Schwur kommt. Aus dem hard case wird ein jedenfalls etwas einfacherer, da die Kluft zwischen den gegenläufigen Interessen nicht mehr so breit ist wie zuvor.

Weitere Möglichkeiten und Grenzen der Figur

Die Möglichkeiten, die praktische Konkordanz in diesem Feld in Verbindung mit einem technological fix bietet, sind noch nicht ausgeschöpft. Denn die Reduzierung der Intensität einer Interessenbeeinträchtigung mit technischen Mitteln ist ebenso in anderen Fällen möglich. Oft wird es wohl an den Parteien sein, die Gerichte auf solche Problemlösungen hinzuweisen. Jedenfalls dann, wenn sie nicht allgemein bekannt sind. Die Gerichte können und sollten aber darauf hinwirken, dass entsprechende Erwägungen angestellt werden, und ggf. auf Sachverständige zurückgreifen. Die Entscheidung des Gerichtshofs in Dogru gegen Frankreich (Nr. 27058/05) etwa, dass die Schulverweisung einer 11-jährigen Schülerin, die ihr Kopftuch nicht für den Sportunterricht ablegen wollte, gerechtfertigt war, weil ein Kopftuchverbot im Sportunterricht aus Sicherheitsgründen „nicht unvernünftig“ sei, ist mittlerweile überholt. Denn mit einem entsprechend ausgestalteten Kopftuch steht jedenfalls nunmehr ein technological fix zur Verfügung:

Im Jahr 2012 konnte die iranische Frauenfußballnationalmannschaft wegen eines Kopftuchverbots nicht an der Olympiade teilnehmen. Mit Unterstützung der Vereinten Nationen wurde das Kopftuch von der FIFA sodann für eine Testphase und schließlich 2014 endgültig zugelassen. Zur Begründung wurde ausgeführt: „After a two-year pilot, there is no indication as to why the wearing of head covers should be prohibited, as long as their design restrictions are respected as defined in the pilot.“ Unter bestimmten technischen Voraussetzungen, die Hersteller bezüglich Material und Ausgestaltung beachten müssen, stellen Kopfbedeckungen kein Sicherheitsrisiko dar. Der Gerichtshof sollte seine Rechtsprechung in dieser Hinsicht, ganz im Sinne der Konvention als living instrument, insofern bei nächster Gelegenheit dieser Faktenlage anpassen.

Die Möglichkeiten, die praktische Konkordanz in Verbindung mit einem technological fix bietet, sind jedoch endlich. Denn es gibt schlicht Situationen, in denen keine technische Konfliktlösung zur Verfügung steht, und entsprechend eine Entscheidung getroffen werden muss, die der Religionsfreiheit oder den öffentlichen Belangen Vorrang einräumt. Diese Entscheidung mag einem Interesse viel zumuten, ist dann aber nicht zu vermeiden. Das legitime öffentliche Interesse daran, Schulkinder auch in die lokalen Traditionen zu sozialisieren, wird z.B. wohl eine Grenze finden, wenn es mit einer hohen Belastung der Religionsfreiheit abgewogen werden muss. Als zugegeben klischeebeladenes Gedankenexperiment denkbar wäre etwa ein verpflichtender Saunabesuch finnischer Schulklassen.

All dies sind der Rechtsprechung des Gerichtshofs entsprechend stets Einzelfallentscheidungen und sie können prinzipiell in beide Richtungen ausfallen. Dies haben diverse Fälle vor dem Gerichtshof gezeigt (s. etwa Leyla Şahin gegen die Türkei [GK], Nr. 44774/98). Konventionsrechtlich hat der Gerichtshof klargestellt, dass jedenfalls ein effektives und zugängliches Verfahren bereitgestellt werden muss, in dem die Berechtigung für die hier gegenständlichen Befreiungen überprüft werden kann. Im Bereich des Verhältnisses zwischen Staat und Religion, und insbesondere im Bildungsbereich, gesteht der Gerichtshof den nationalen Entscheidungsinstanzen in dieser Prüfung mit der margin of appreciation einen bedeutenden Entscheidungsspielraum zu, soweit sie einen legitimen Ausgleich unter Einbeziehung aller relevanten Interessen und Erwägungen anstreben. Dieser geht aber natürlich weiter Hand in Hand mit der Kontrolle durch den Gerichtshof.

Die Möglichkeit, normative Interessenkonflikte durch eine Veränderung der Faktenlage mit technischen Hilfsmitteln abzumildern, sollte jedenfalls soweit als möglich ausgeschöpft werden. Technological fixes ermöglichen praktische Konkordanz und damit einen respektvollen, möglichst schonenden und gerechten Interessenausgleich, der dem Zusammenleben in modernen pluralistischen Gesellschaften dienlich ist.


6 Comments

  1. Leser Thu 12 Jan 2017 at 17:02 - Reply

    Die Möglichkeiten…

    Das Kruzifix-Problem könnte gelöst werden, indem alle katholischen Teilnehmer sich mittels google glass ein Kruzifix einblenden. Pokefix Go.

    Die Kollegen aus der Ecke “besorgte Bürger” könnten sich alle Leute mit schwarzen Haaren oder Kopftüchern ausblenden lassen. Das ist im Straßenverkehr vielleicht etwas gefährlich, aber man könnte die Fahrzeuge der bB ja entsprechend markieren – “Ich bremse nicht für Ausländer”, dann wüssten die Betroffenen, dass da jemand mit Scheuklappen fährt, und könnten weiträumig Abstand halten.

    Die Verweigerung eines Handschlags könnte durch einen Roboterarm behoben werden. So macht sich der Gläubige nicht am dreckigen Ungläubigen die Hände schmutzig, und der Ungläubige darf trotzdem irgend’was schütteln.

    Oder es könnten alle etwas zur Vernunft kommen und gegenseitige Rücksicht üben.

  2. Maria Thu 12 Jan 2017 at 18:27 - Reply

    Lieber Leser, das nächste Mal bitte etwas weniger dick auftragen. Konservative Muslime verweigern nicht gegenüber “Ungläubigen” den Handschlag, sondern gegenüber dem jeweils anderen Geschlecht (also auch gegenüber Glaubens”brüdern”).

  3. Leser Fri 13 Jan 2017 at 09:15 - Reply

    Das ändert natürlich alles. Bei der nächsten satirischen Äußerung werde ich auf mehr Präzision bei der genauen Beschreibung der religiös motivierten Unhöflichkeit achten.

  4. The Populist Sat 14 Jan 2017 at 09:07 - Reply

    Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich bei den Kindern um Mädchen im Alter von 8 und 10 Jahren handelt und der Burkini vom Kläger nicht als Option akzeptiert wurde, da auch mit Burkini noch Konturen erkennbar sind, muss man ganz nüchtern feststellen:

    Hier fehlt es nicht an einem “Fix” hier fehlt es an der Bereitschaft sich als Zuwanderer in die aufnehmende Gesellschaft zu integrieren.

  5. Verfasst.org Mon 23 Jan 2017 at 18:28 - Reply

    Schön geschrieben, aber letztlich nur ein “Workaround” für ein deutlich größeres gesellschaftliches Problem. Die Frage scheint sich u.a. dahingehend zu verlagern, wie man mit stärker werdenden religiösen Konflikten im öffentlichen Raum umgeht, insb. mit Blick auf den grundrechtlich geschützten Bereich der Religionsfreiheit. Siehe hierzu insb. diesen Artikel: https://verfasst.org/index.php/recht-und-gerechtigkeit/item/54-religionsfreiheit-staat-schutzbereich mit herzlicher Einladung zur Stellungnahme.

  6. Zweiti Tue 16 May 2017 at 20:38 - Reply

    Sehr spannender Fall zur Religionsfreiheit. Warum nicht im Methodenkurs des 2. Semesters behandeln? Würde mich jedenfalls freuen. MfG

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