Der Corona-Aufbaufonds, die Fiskalunion und das Bundesverfassungsgericht
Am 26.03.2021 hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts angeordnet, dass das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz (ERatG) vorläufig nicht durch den Bundespräsidenten ausgefertigt werden darf. Dadurch bannt es vorläufig die Gefahr, dass ein europarechts- und verfassungswidriger Weg in die Fiskalunion eingeschlagen wird. Was steckt dahinter, und was ist von den in diesem Verfahren aufgeworfenen Verfassungsrechtsfragen zu halten?
Es handelt sich dabei zunächst um einen sogenannten Hängebeschluss, d.h. der Beschluss greift lediglich vorläufig, bis das BVerfG die Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung getroffen hat. Mithin handelt es sich um einen „Eil-Eil-Rechtsschutz“ für besonders dringende Fälle, bei denen selbst bis zur Entscheidung über den Eilantrag vollendete Tatsachen drohen. Das heißt aber auch, dass durch den Beschluss vom 26.03.2021 noch nicht einmal das vorletzte Wort in dieser Angelegenheit gesprochen wurde. Die Entscheidungen im Eilrechtschutz und insbesondere in der Hauptsache stehen noch aus. Es wird also noch länger dauern, bis über die Verfassungsmäßigkeit des Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetzes entschieden ist.
Gegenstand des Eilverfahren ist das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz. Dabei handelt es sich um das deutsche Zustimmungsgesetz zum Finanzierungssystem der Europäischen Union bis zum Jahr 2027. Es ist die rechtliche Grundlage für das Inkrafttreten des aktuellen Eigenmittelbeschlusses der Europäischen Union vom 14.12.2020. Die Eigenmittelbeschlüsse der Europäischen Union beruhen auf Art. 311 Abs. 3 AEUV und dienen neben sonstigen Einnahmen der Finanzierung des EU-Haushalts. Der aktuelle Eigenmittelbeschluss ermöglicht es der Europäischen Kommission in Art. 5 Abs. 1a, Kredite in Höhe von bis zu 750 Milliarden Euro und mit einer Laufzeit von bis zu 38 Jahren aufzunehmen. Mit diesen Mitteln will die Europäische Union im Rahmen ihres Konjunkturpakets NextGenerationEU temporär 750 Milliarden Euro einsetzen, um die unmittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Schäden der Corona-Pandemie zu beheben. Wichtigstes Instrument im Rahmen dieses Konjunkturpakets ist dabei die Recovery and Resilience Facility, wodurch 627,5 Milliarden Euro an Darlehen und Zuschüssen zur Unterstützung von Reformen und Investitionen in den Ländern der Europäischen Union bereitgestellt werden sollen. Eine Umsetzung der Konjunkturpakete durch die Europäische Union ist erst möglich, wenn alle Mitgliedstaaten den Eigenmittelbeschluss ratifiziert haben (Art. 311 Abs. 3 S. 3 AEUV).
Bundestagsbeschluss nach hitziger Debatte
Der Bundestag hat am 25.03.2021 dem Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz zugestimmt, der Bundesrat einen Tag später. Der Abstimmung im Bundestag ging eine hitzige Debatte voraus, in deren Verlauf Michael Roth (SPD), Staatsminister im Auswärtigen Amt, in seiner Funktion als Regierungsvertreter das Eigenmittelsystem „als einen notwendigen und überfälligen Schritt in Richtung Fiskalunion“ bezeichnete. Der Eigenmittelbeschluss diene mitnichten nur als Wiederaufbauprogramm, sondern mithilfe der 750 Milliarden Euro solle in die Erneuerung der Europäischen Union, in Digitalisierung, den sozialen Zusammenhalt und vor allem in mehr Klimaschutz investiert werden. Das Eigenmittelsystem solle auch dazu beitragen, dass die Europäische Union in Zukunft über neue Steuern verfüge. Das Europäische Parlament solle nicht nur die Ausgabenverantwortlichkeit, sondern auch Verantwortung für die Einnahmen tragen.
Laut Peter Boehringer (AfD), Vorsitzender des Haushaltsausschusses, markiere der Gesetzesentwurf dagegen „den letzten Schritt in die illegale EU-Fiskalunion“. Der Eigenmittelbeschluss habe keine Rechtsgrundlage in den Europäischen Verträgen, da der Europäischen Union eine Kreditfinanzierung ihrer Ausgaben grundsätzlich verboten sei. Das BVerfG habe schon 2012 sinngemäß geurteilt, der Deutsche Bundestag dürfe keinem Mechanismus zustimmen, der zu einer Haftungsübernahme für andere Staaten führe.
Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) nannte als Rechtsgrundlage für den Eigenmittelbeschluss der Europäischen Union Art. 311 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 122 AEUV. Danach handle es sich um ein Aufbauinstrument für den Ausnahmefall außergewöhnlicher und gravierender wirtschaftlicher Schwierigkeiten. Gleichzeitig sei eine dauerhafte Schuldenaufnahme der EU zur Finanzierung operativer Haushaltsausgaben unzulässig. Die Interpretation des Staatsministers Roth als Weg in die Transferunion wiesen er, ebenso wie Christian Dürr (FDP) vehement zurück.
Verfassungsbeschwerde und Eilrechtschutz durch das Bündnis Bürgerwille
Antragsteller der Verfassungsbeschwerde und des Eilantrags vom 22.03.2021 ist das Bündnis Bürgerwille rund um Bernd Lucke. Die Antragsteller kritisierten inhaltlich zwei Punkte:
1. Die Ermächtigung zur Verschuldung der Europäischen Union verstoße gegen die bestehenden Unionsverträge, sei mithin ein Ultra-vires-Akt. Zum einen sei schon nach dem Wortlaut die Aufnahme von Fremdmitteln keine Entscheidung über Eigenmittel. Zum anderen verstoße der Eigenmittelbeschluss gegen das Unionsprinzip, dass die Mitgliedstaaten nicht wechselseitig für ihre jeweiligen Verbindlichkeiten einstehen müssen und in ihrer Finanzpolitik eigenverantwortlich handeln können.
2. Zudem liege auch ein Verstoß gegen die Verfassungsidentität vor, da die Verschuldung der Union dazu führe, dass der Bundestag nicht mehr Herr seines Budgetrechts sei. Die Kommission könne allein und frei bestimmen, welche Mitgliedstaaten im Haftungsfall die Schulden zurückzahlen müssen. Zudem sei die Haftungsgrenze so hoch angelegt, dass Deutschland im schlimmsten Fall für die gesamten 750 Milliarden Euro haften müsse.
Wie wird das BVerfG entscheiden?
Die zentrale Frage ist, ob der Bundestag mit dem Gesetz gegen seine Integrationsverantwortung verstoßen und die absoluten Integrationsschranken des Grundgesetzes, das Verbot des Ultra-vires-Handelns und das Verbot der Berührung der Verfassungsidentität, verletzt hat.
Eine Ultra-vires-Kontrolle, d. h. Kompetenzkontrolle, bezieht sich gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG darauf, ob die EU-Organe auf hinreichend qualifizierte und strukturell bedeutsame Weise ihre Kompetenzen überschritten haben. Im konkreten Fall stellt sich die Frage, ob der Eigenmittelbeschluss offensichtlich gegen die Unionsverträge verstößt. Was die Frage der Rechtsgrundlage betrifft, ist davon auszugehen, dass die Verfassungsbeschwerde an dieser Stelle weder im Eilentscheid noch in der Hauptsache Erfolg haben wird. Anders sieht es dagegen bei der Frage der Zweckbindung aus.
Unstreitig ist Art. 311 Abs. 3 AEUV die unionsrechtliche Rechtsgrundlage für den europäischen Eigenmittelbeschluss vom 14.12.2020. Danach erlässt der Rat im besonderen Gesetzgebungsverfahren einstimmig und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einen Beschluss, mit dem die Bestimmungen über das System der Eigenmittel der Union festgelegt werden. Das ist auch geschehen. Ausweislich des Art. 311 Abs. 3 S. 2 AEUV können allerdings lediglich Eigenmittel eingeführt werden. Die Antragssteller argumentieren, dass es sich bei der Kreditaufnahme aber gerade um Fremdmittel handle. Dabei handelt es sich um ein sehr restriktives Wortlautargument, gestützt auf die Differenzierung von Fremd- und Eigenkapital in der Betriebswirtschaftslehre. Der EuGH mit seiner stark teleologisch orientierten und vom effet-utile-Gedanken geleiteten Rechtsprechung wird dieser Argumentation mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht folgen. Stattdessen wird er vermutlich ein weites Verständnis von Eigenmitteln befürworten. Sollte das BVerfG der Argumentation des Antragsstellers folgen, wäre hier jedenfalls eine Vorlage an den EuGH notwendig. Ein Acte clair, der eine Vorlage entbehrlich machen würde, liegt nicht vor.
Allerdings kommt es auch auf die Zweckbindung des Eigenmittelbeschlusses an. Gemäß Art. 122 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV kann die Europäische Union mit konkreten Maßnahmen mittels verbindlichen Rechtsakten aktiv werden, um etwa bei gravierenden Versorgungsengpässen, Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen einem Mitgliedstaat unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Union zu gewähren. Die genannten unionsrechtlichen Aufbauinstrumente im Rahmen der Konjunkturpakete NextGenerationEU und Recovery and Resilience Facility werden ausdrücklich auf diesen Art. 122 AEUV gestützt. Der kritische Punkt ist dabei, ob die Konjunkturpakete wirklich nur auf die Überwindung der unmittelbaren Corona-Folgen gerichtet sind. Nur wenn sie auf diesen Ausnahmefall beschränkt bleiben und die enge Zweckbindung einhalten, können sie auf die grundsätzlich eng auszulegende Ausnahmevorschrift des Art. 122 AEUV gestützt werden.
Ein Eigenmittelsystem, das insoweit nicht nur als Wiederaufbauprogramm dient, sondern in viele andere Sachbereiche übergreift, wie es Staatsminister Michael Roth vorschwebt, wäre dabei nur schwerlich mit Art. 122 AEUV vereinbar. Die Bundesregierung selbst plant 37 % der Zuweisungen der Europäischen Union für den Klimaschutz und 20 Prozent für Digitalisierung zu verwenden (BT-Drucksache 19/27838). Während die Verwendung für die Digitalisierung wegen der Lockdown-Folgen und der eingeschränkten direkten Kontaktmöglichkeiten noch im unmittelbaren Zusammenhang mit der Corona-Notlage stehen kann, ist dies bei der Verwendung für den Klimaschutz nicht der Fall. Es ist nicht ersichtlich, weshalb der mit Abstand größte Teil der Corona-Hilfen für den Klimaschutz ausgegeben werden soll, der in keinem Zusammenhang zur Corona-Pandemie steht. Im Gegenteil, wenn die Pandemie irgendwelche „positiven“ Auswirkungen hat, dann auf die Entwicklung des Weltklimas. Natürlich können durch Investitionen in den Klimaschutz auch Arbeitsplätze geschaffen werden. Es ist aber sehr zweifelhaft, ob dies noch ausreichend unmittelbar mit der Bekämpfung der Corona-Folgen zusammenhängt. Schon aus diesem Grund wird das BVerfG die Zweckbindung auch des Eigenmittelbeschlusses der Europäischen Union sehr genau unter die Lupe nehmen. Hier hat die Verfassungsbeschwerde realistische Erfolgschancen.
Eine Frage der Verfassungsidentität
Aber selbst wenn das neue Eigenmittelsystem der Europäischen Union europarechtlich in Ordnung ist, darf das deutsche Zustimmungsgesetz nicht gegen die Verfassungsidentität des Grundgesetzes verstoßen. Unionsrechtliche Hoheitsakte sind am Maßstab des Grundgesetzes zu überprüfen, wenn dies zur Kontrolle der Wahrung der durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG verbürgten Verfassungsidentität Deutschlands unabdingbar geboten ist. Und auch hier hat die Verfassungsbeschwerde wohl gute Aussichten auf Erfolg.
Das BVerfG verankert den Schutz der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestags direkt in Art. 79 Abs. 3 GG. Der unabänderliche Kernbereich des Demokratieprinzips ist verletzt, wenn der Deutsche Bundestag durch eine Maßnahme der Europäischen Union seiner parlamentarischen Haushaltverantwortung insoweit entäußert wird, als er oder zukünftige Bundestage das Budgetrecht nicht mehr eigenverantwortlich ausüben können. Davon umfasst ist auch das Verbot, für Willensentscheidungen Dritter mit schwer kalkulierbaren Folgen mitzuhaften.
Sehr kritisch sind hier das mögliche Haftungsvolumen und die Haftungsdauer. Aufgrund der langen Laufzeit der Kredite werden zukünftige Bundestage bis ins Jahr 2058 an den Eigenmittelbeschluss gebunden sein. Niemand wird ernsthaft annehmen, dass bis zur letzten Tilgungsrate 2058 regelmäßige und wiederkehrende Krisenwellen in Europa ausbleiben. Auch in den nächsten Krisen werden neue Hilfspakete geschnürt werden, wie es in der jüngeren Vergangenheit immer geschehen ist. Insoweit könnte Staatsminister Roth Recht haben, wenn er durch den Eigenmittelbeschluss den Weg der Europäischen Union in die Fiskalunion vorgezeichnet sieht. Die Corona-Notlage könnte ausgenutzt werden, um durch die normative Kraft des Faktischen die Fiskalunion unumgänglich zu machen. Statt den Weg über eine Änderung der Verträge zu gehen, scheint versucht zu werden, die Fiskalunion im Rahmen der Haushaltsplanung zu „legitimieren“. Entscheidend ist die Frage, ob Deutschland notfalls vollumfänglich für 750 Milliarden Euro allein haften würde. Sollten hier im Eigenmittelsystem der Europäischen Union keine ausreichenden Sicherungsmechanismen vorhanden sein, steht ein Verstoß gegen die haushaltspolitischen Gesamtverantwortung und die Verfassungsidentität unmittelbar im Raum.
Problematisch ist zuletzt auch die wirtschaftliche Intransparenz der Mittelbeschaffung. Wo und wie wird die Europäische Union 750 Milliarden Euro Schulden machen? Welche Institutionen stellen die Kredite zur Verfügung? Hat die Europäische Kommission dabei freie Hand?
Das BVerfG wird also noch viele offene Fragen klären müssen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass es den Hängebeschluss erlassen hat, um einen unumkehrbaren Zustand zu verhindern. Selbst im Rahmen des vorläufigen Eilentscheids sind, wie dargestellt, noch wesentliche Rechts- und Tatsachenfragen zu klären. Sollten das BVerfG insbesondere von einer fehlenden Zweckbindung des Eigenmittelbeschlusses ausgehen, dann wird es auch in der Eil- und in der Hauptsacheentscheidung den fortgeschrittenen Weg konsequent weitergehen, um einen europarechts- und verfassungswidrigen Weg in die Fiskalunion zu stoppen.
Vielen Dank für diese sehr klare, sehr zugängliche Darstellung von Sachlage und Hintergrund, Herr Riedl!
Gratulation zu dieser gelungenen, weil klar verständlichen und kompakten Darstellung! Dazu einige Anmerkungen zur Frage, unter welchen Bedingungen ein Mitgliedstaat bei der Schuldenrückzahlung für andere ausfallende Mitgliedstaaten “einspringen” muss:
Sind nicht ausreichend EU-Haushaltsmittel für die Rückzahlung der Schulden (Anleihen) vorhanden, so muss die Kommission zuerst durch aktive Kassenmittelverwaltung und erforderlichenfalls durch Rückgriff auf kurzfristige Finanzierungen am Geldmarkt diese Finanzierungslücke ausgleichen (sh. Art. 9 (4) Eigenmittelbeschluss). Erst wenn diese Möglichkeiten nicht ausreichen, kann die Kommission als letztes Mittel von den Mitgliedstaaten verlangen, dass diese anteilsmäßig („pro rata“) zu ihrem jeweiligen Beitrag am EU-Haushalt den Fehlbetrag VORLÄUFIG zur Verfügung zu stellen. Dieselbe anteilmäßige Zur-Verfügung-Stellung von Geldern gilt, wenn ein Mitgliedstaat seinen Finanzierungsanteil an der Schuldentilgung nicht leisten kann. Wichtig ist, dass der ausfallende Mitgliedstaat weiterhin verpflichtet bleibt, seinen Finanzierungsanteil an der Schuldentilgung zu leisten.
Aus dem vorhin Gesagten folgt meiner Auffassung nach, dass, erstens, explizit eine anteilsmäßige (“pro rata”) Zwischenfinanzierung festgelegt ist, somit im Umkehrschluss eine solidarische Zwischenfinanzierung bzw. Haftung nach dem Motto “einer haftet für alle” ausgeschlossen ist.
Zweitens handelt es sich meiner Meinung nach um keine Haftungsübernahme im eigentlichen Sinn, da Finanzmittel seitens der restlichen Mitgliedstaaten “vorübergehend” bereitgestellt werden, d.h. der ausfallende Mitgliedstaat bleibt weiterhin für seinen seinen Finanzierungsanteil verantwortlich und haftbar und muss diesen sobald wie möglich nachzahlen.
Drittens ist der Betrag, den ein “einspringender” Mitgliedstaat jährlich zur Verfügung stellen muss, in absoluten Zahlen jedenfalls begrenzt, nämlich maximal soviel Mittel wie auf seinen BNE-gestützten relativen Anteil an der außerordentlichen und vorübergehenden Anhebung der Eigenmittelobergrenze (Anm. das sind 0,6% des gesamten BNE der EU) entspricht.
“Drittens ist der Betrag, den ein “einspringender” Mitgliedstaat jährlich zur Verfügung stellen muss, in absoluten Zahlen jedenfalls begrenzt, nämlich maximal soviel Mittel wie auf seinen BNE-gestützten relativen Anteil an der außerordentlichen und vorübergehenden Anhebung der Eigenmittelobergrenze (Anm. das sind 0,6% des gesamten BNE der EU) entspricht.”
Laut Eurostat betrug das BNE pro Kopf in 2019 Euro 31.917 (EU 27). Bei 447,1 Einwohnern in der EU 27 resultiert daraus ein BNE in der EU von 14.270 Mrd. Euro. 0,6% davon machen 86 Mrd. Euro aus.
Wie häufig im Recht geht es ja bei den Risiken nicht um den Normalfall, sondern um die Grenzfälle. Angenommen Ihre Beschreibung der Tatsachen ist richtig, was passiert in dem Fall, in dem ein Mitgliedsstaat vor Rückzahlung der gemeinsamen Schulden aus der EU ausscheidet (u.a. um sich dieser Schulden zu entledigen)? Vorläufig kann dann ziemlich lange dauern und aus einer Zwischenfinanzierung wird dann eine Dauerfinanzierung. Wie wahrscheinlich ist es zudem, dass sich die übrigen Mitgliedsstaaten aus der Haftung lossagen können, wenn sie es bislang selbst in Fällen der Nicht-Beistandsklausel kaum geschafft haben? (Im aktuellen Fall erscheint mir das Haftungsrisiko deutlich konkreter.) Mir scheint, dass die deutsche Debatte häufig zu sehr vom Wortlaut abhängt, während in anderen Ländern eher die Betonung auf die Macht des Faktischen gelegt wird, was bisher den Verlauf der Euro-Krise und hin zur Fiskalunion (früher: Haftungsunion) besser beschrieben hat.
Zudem schreieben Sie, dass die EU durch “aktive Kassenmittelverwaltung und erforderlichenfalls durch Rückgriff auf kurzfristige Finanzierungen am Geldmarkt diese Finanzierungslücke ausgleichen” solle. Beim Zahlungsausfall eines Mitgliedsstaats geht es möglicherweise um viele Milliarden, da wird “aktive Kassenmittelverwaltung” nicht weiterhelfen. Und Finanzierung am Geldmarkt wird auch nicht weiterhelfen, denn es handelt sich in der Situation eher um eine Frage der Solvenz, nicht der (Il-)liquidität, d.h. Aufnahme von Schulden am Geldmarkt zur Zahlung am Anleihemarkt (linke Tasche, rechte Tasche) ändert nicht viel an der Frage der letztendlichen Haftung und bietet somit keine wirkliche Absicherung.
Und genau deshalb könnte Deutschland im schlimmsten Fall für bis zu 770 Milliarden Euro haften. Dafür müssten innerhalb der nächsten 38 Jahre Mitgliedstaaten insolvent werden oder aus der Europäischen Union austreten und sich nicht mehr an die Zahlungsverpflichtung halten:
https://europeanlawblog.eu/2021/04/14/corona-reconstruction-fund-stopped-for-the-time-being/
Die Verfassungsbeschwerde gegen das “Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz” ist aussichtslos, weil sich die Klage am “Wortlaut” des Vertrages (Art. 311 Abs.3 AEUV) orientiert? Beim Gerichtshof der EU leider ja, aber gilt das auch für das Bundesverfassungsgericht?
Das BVerfG hat in Rn. 118 des PSPP-Urteils folgendes festgestellt: „Stellt sich bei einer Ultra-vires- oder Identitätskontrolle die Frage nach der Gültigkeit oder Auslegung einer Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union, so legt das Bundesverfassungsgericht seiner Prüfung grundsätzlich den Inhalt und die Beurteilung zugrunde, die die Maßnahme durch den Gerichtshof erhalten hat. Dies gilt jedoch nicht bei einer schlechterdings nicht mehr nachvollziehbaren und daher objektiv willkürlichen Auslegung der Verträge (vgl. Rn. 112 f.).“
Das heißt, dass das BVerfG grds. die Auslegung des EuGH (möglicherweise nach einer Vorlagefrage) akzeptieren wird, außer diese ist „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“. Der Grund dafür ist die Aufgabenverteilung zwischen den Gerichten. Der EuGH ist für die Auslegung des Unionsrechts zuständig, während das BVerfG das GG auslegt (zu dem aber eben auch Art. 23 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG gehört).
Danke, Herr Riedl, fûr die ausserordentlich klare Analyse!
Aus dem Ausland gesehen sind ein Paar Fragen mehr zu stellen:
1. ) Wie lange wird das BVergG brauchen um wenigstens über den vorläufigen Eilentscheid zu bestimmen? Es sind schon Zwei Wochen vergangen, und die Begründung ist noch nicht veröffentlicht. Eile gibt es nicht nur auf der Seite der Anklagträger und der Sparer in Deutschland, aber auch auf der Seite der 450 Millionen EU Einwohner, die in einem Wirtschaftlichen Sumpf wegen der Pandemie stehen und für wen bessere Aussichten in der Wirtschaft unentbehrlich sind, was eben der Grund für den Eigenmittelbeschluss ist. Je länger man über die Entscheidung des BVerfGs warten muss, je schlimmer werden die Aussichten auf eine schnelle “Recovery” in der EU. Sparer in Deutschland werden auch davon leiden, den die Deutsche Wirtschaft ist so eng mit der Wirtschaft der anderen EU Mitgliedstaaten verschachtelt, dass sie von der schlechten Wirtshaftslagen in letzteren nur leiden kann!
2.) Wie kommt man aus den anscheinenden Teufelskreis, der die Rechtsprechung des Zweiten Senats seit Jahrzentent ausgebaut hat, nämlich, das die Verträge von Mitglietstaatlichen Höchstgerichten in enger Auslegung kontrolliert werden können und sollen – und nicht nur von dem dazu geschaffenen EUGH – wobei das Deutsche Bundesverstassungsgericht mit einer sehr Breiten Auslegung des GG (besonders von Artikel 23, 38 und 79) die Schranken zu einer eventuellen Reform der Verträge stellt?
Zu 1) Im ESM-Verfahren hat das BVerfG über die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung eine mündliche Verhandlung durchgeführt und dann knapp 3 Monate später das Urteil im Verfahren über die einstweilige Anordnung verkündet. In dem genannten Verfahren hat es in der mündlichen Verhandlung auch die finanziellen Risiken für den Bundeshaushalt und den Haftungsumfang in Blick genommen. Ähnlich könnte es auch im Verfahren über den Eigenmittelbeschluss laufen. Wenn eine Mündliche Verhandlung im Mai stattfindet, könnte im Juli/August das Urteil über den Antrag auf einstweilige Anordnung verkündet werden.
Im Rahmen des eA-Verfahrens nimmt das BVerfG eine Abwägung vor. Folgen, die eintreten, wird die einstweilige Anordnung erlassen und die Hauptsache ist erfolgs vs. Folgen, die eintreten, wird die einstweilige Anordnung versagt, hat die Hauptsache erfolg. Damit werden die Folgen eines Aufschubs des EMB vom BVerfG berücksichtigt.
Zu 2) Eine zu weite Auslegung des Art. 23 GG sehe nicht, allerdings schon bei Art. 38 I 1 GG. Dass letzterer Schutz gegen ultra-vires-Akte bietet, ist eine gerade noch vertretbare, aber nicht überzeugende Auslegung. Das BVerfG von der Identitätskontrolle abbringen wird schwierig, da zumal diese sich auf den Verfassungstext (Art. 23 I 3, 79 III GG) stützen kann. Den Vorbehalt als solchen kann auch der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht ändern. Die prinzipale ultra-vires-Kontrolle über Art. 38 I 1 GG könnte der verfassungsändernde Gesetzgeber abschaffen, in dem er einen Zusatz in Art. 38 I 1 GG aufnimmt, dass dieser keine weiteren Inhalte als die im Wortlaut zur Sprache kommenden hat. Dann wäre nur noch eine inzidente ultra-vires-Kontrolle bei Betroffenheit von Grundrechten möglich (so wie in Honeywell und im anhängigen Egenberger-Verfahren). Derartige Konstelletationen scheinen den Bundestag weitaus weniger zu interessieren. Im Egenberger-Fall hat er es abgelehnt, Stellung zu nehmen (siehe BT-Drs. 19/16866). Der EuGH könnte eine strengere Kompetenzkontrolle ausüben. Die sehr lockere Kontrolldichte in Kompetenzsachen ist die eigentliche Sorge des BVerfG.
Danke vielmals Herr Küppers.
Es wäre interssant, wenn Herr Riedl und/oder Sie auch etwas auf Englisch veröffentlichen würden, denn die ausländischen Kollegen die kein Deutsch lese verstehen an der ganzen Sache sehr wenig.
Mein englischer Beitrag wird morgen im European Law Blog erscheinen. Noch ein weiterer englischer Beitrag folgt vielleicht auch bald. Ich werde ihn hier entsprechend verlinken.
Hier der Link zum englischsprachigen Beitrag auf dem European Law Blog:
https://europeanlawblog.eu/2021/04/14/corona-reconstruction-fund-stopped-for-the-time-being/
Dabei klammere ich die zunächst nur auf Deutschland bezogene Frage der Verletzung der Verfassungsidentität aus und konzentriere mich stärker auf die europarechtliche Frage, ob ein Ultra-vires-Akt vorliegt.
Ich bin mit Argumenten des anonymen Juristen-Kommentars vom 31.03.2021 voll einverstanden. Das Ökonom-Argument der Insolvenz eines MS (Unfähigkeit seine eigenen Anleihen zurückzuzahlen und seine EU-Eigenmittel-Beiträge einzuzahlen) ist jedoch ernst zu nehmen; es gilt aber unabhängig von einer EU-Schuldenaufnahme, sowohl jetzt schon als mit den € 750 Millionen-Anleihen (Verfassungsbeschwerde) oder zukünftigen höheren EU-Schulden. Die Haftungsfrage ändert sich also nicht, das Haftungsvolumen steigt mit der quantitativen Ausweitung der EU-Kompetenzen. Das wesentliche juristische, ökonomische und politische Argument ist meines Erachtens nicht der unweigerlich steigende Haftungsvolumen, sondern die Mittel welche die EU-Organe und die einzelnen MS besitzen, um die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Risiko-MS so zu beeinflussen, dass eine Insolvenz zukünftig vermieden wird. Der EU-Eigenmittelbeschluss vom 14.12.2020 stärkt die Konvergenz fördernde Planungs- und Kontrollmittel, reduziert also das Insolvenzrisiko, lässt das letzte Wort in Wirtschafts- und Finanzpolitik aber nach wie vor in den Händen der nationalen Regierungsorganen die von nationalen Parlamentswahlen und von nationaler öffentlicher Meinungsbildung abhängen.
Danke für den Link zur Englischen Fassung, die sehr Klar und nützlich ist.
Der Ehrlichkeit halber muss ich aber sagen, dass ich Ihre Schlussfolgerung, das andere Verfassungs- bzw. Höchstgericht von Mitgliedstaaten “einen europarechts- und verfassungswidrigen Weg in die Fiskalunion zu stoppen”, und nämlich aufgrund miener Verfassungsrechtsvergleichenden Arbeit.
Nichts für Ungut!
Auf dem European Law Blog habe ich geantwortet:
Thank you for your comment. I hope you’ll excuse me for being a bit brief, so as not to completely give away the content of my current thesis…. ;).
Let me just say that neither Art. 38 para. 1 sentence 1 GG nor Art. 79 para. 3 GG are needed to declare a ruling of the ECJ an ultra vires act.
In PSPP, Ajos, Holubec, and Cohn-Bendit, ECJ rulings were declared ultra vires. It is up to the ECJ to avoid an ultra vires decision or activation of identity control by providing a convincing answer and ensuring liability barriers.
In para. 118 of the PSPP judgment, the GCC stated the following: “Where an ultra vires review or an identity review raises questions regarding the validity or interpretation of a measure taken by institutions, bodies, offices, and agencies of the European Union, the Federal Constitutional Court, in principle, bases its review on the understanding and the assessment of such a measure as put forward by the CJEU. However, this no longer applies where the interpretation of the Treaties is simply not comprehensible and thus objectively arbitrary (see paras. 112 and 113).” This means that the GCC will generally accept the interpretation of the ECJ after a question of referral unless this is ” simply not comprehensible “. The reason for this is the division of tasks between the courts. The ECJ is responsible for interpreting Union law, while the GCC interprets the GG (which, however, also includes Article 23 (1) sentence 2 in conjunction with Article 79 (3) in conjunction with Article 20 (1) and (2) of the Basic Law). This harsh choice of words is thus nothing other than a broad standard of review by the GCC. It serves to protect the ECJ’s monopoly of interpretation of Union law.
This is how interaction within the European constitutional court network functions. As long as the democratic feedback of the EU at least also happens via the Member States, an interplay between court actors of both levels (EU, Member States) is also necessary as a procedural safeguard.
See also:
http://eulawanalysis.blogspot.com/2021/04/the-own-resources-decision-as-ultra.html
Mein aktuellster und umfassendster englischer Beitrag findet sich also hier:
http://eulawanalysis.blogspot.com/2021/04/the-own-resources-decision-as-ultra.html
Eine Wichtige Erklärung zu Ihrem Englischen Beitrag: Weder die Cohn-Bendit Entscheidung noch die Ajos Entscheidung betrafen ultra vires.
In Cohn-Bendit 22. 12. 1978 hat einfach der Conseil d’Etat seine eigene Auffassung der Klagebefugnis Eizelner aufgrund einer Richtlinie angewand. Aber seit seiner Entscheidung in Perreux vom 30. 10. 2009 hat der Conseil d’Etat vôllig die Rechtsprechung des EUGH dazu übernommen.
In Ajos gin es auch nicht um ultra-vires, sondern darum, das der Dänische Obergerischtshof einen Allgemeinen Rechtstgrundsatz nicht anwenden wollte, weil es der Meinung war, es wäre gengen die Rechtssicherheit.
Also der einzige Fall, wo ein anderes Gericht als das BVerfG einen ultra-vires Urteil gefällt hat is Holubec, wo dasTschechische Verfassungsgericht eigentlich mehr auf die Verfassungsidentität beharrt hat wie in Landtova. Dazu kommt, das wie in Landtova die Tschechische Regierung scheinbar die Stellung des Verfassungsgericht nicht deutlich vorgetragen hat, anders asl etwa in Melki und Abdeli, wo deswegen der EUGH in seiner Entscheidung zum Vorabentscheidungsersuchen der Cour de Cassation auch die Stellung des Conseil constitutionnel und des Conseil d’Etat in Anspruch genommen hat, die von der franzôsischen Regierung vorgetragen wurde
Vielen Dank fuer die interessante Analyse. I habe eine Frage zu paragraph 111 der Entscheidung und hoffe, dass Sie mir weiterhelfen koennen. Dort steht “Dazu gehört auch, dass sie schon entstandene Rückzahlungsansprüche (Art. 9 Abs. 5 bis 8 Eigenmittelbeschluss 2020) geltend machen, […]”. Bedeutet dies, dass die Bundesregierung im Zweifelsfall angeordnet werden koennte, die bereits geleisteten Zahlungen zurueckzufordern? MfG Jan Frie