Der Europäische Beistandsfall als Katalysator für eine Militarisierung der Europäischen Außenpolitik?
Wenn ein EU-Mitgliedsstaat angegriffen wird, dann schulden ihm alle anderen Mitgliedsstaaten „alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“. Dieser so genannte Beistandsfall war bisher bloße Theorie – doch jetzt hat Frankreich ihn erstmals aktiviert. Die anderen Mitgliedsstaaten, u.a. Deutschland, reagierten zwar im Wortlaut vage, aber im Grunde zustimmend. Frankreich schwebt dabei insbesondere (zumindest mittelbare) militärische Unterstützung im Kampf gegen IS vor. Dies könnte die Union tiefgreifend verändern, wenn die Aktivierung der Beistandsklausel die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union militarisiert.
Grundsätzlich zivile Ausrichtung der GASP
Die Beistandspflicht des Art. 42 Abs. 7 EUV ist eine Vorgabe der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), welche ihrerseits als „integraler Bestandteil“ in den umfassenden Kontext der GASP einzuordnen ist. Innerhalb der GSVP sind sowohl zivile Missionen als auch militärische Kampfoperationen vorgesehen, die zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit beitragen sollen (Art. 42 Abs. 1 EUV). Hierbei handelt es sich vorwiegend um den sicherheitspolitischen Aspekt der GSVP. Die verteidigungspolitische Integration kann (durch Beschluss des Rates) bis hin zu einer gemeinsamen Verteidigung führen (Art. 42 Abs. 2 EUV). Dies würde bedeuten, dass die Europäische Union schließlich über eigene Kampfverbände inklusive integrierter Kommandostrukturen verfügen würde.
Aktuell dominiert aber der grundsätzlich zivile Ansatz in der GASP. Der neu geschaffene Europäische Auswärtige Dienst und die gestärkte Position des Hohen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik im Vertrag von Lissabon machen dies nach außen sichtbar. Durch die Bestimmungen der GSVP rücken insbesondere die Missionen gemäß Art. 42 iVm Art. 43 EUV in den Fokus. Gemäß Art. 43 Abs. 1 EUV sollen die sogenannten Petersberg-Aufgaben, also „gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten“ als Handlungsoptionen genutzt werden. EUPOL-Afghanistan oder auch EULEX-Kosovo sind als quantitative zivile Flagschiffe der Union ein Begriff. Militärische Operationen wie EU NAVFOR Somalia – Operation Atalanta oder Operation Althea sind eher defensiv strukturiert, sodass offensiv-robuste Kampfeinsätze in der aktuellen gemeinsamen Außenpolitik keine bedeutende Rolle spielen.
Militärische Forderung Frankreichs
Frankreich verlangt von den anderen Mitgliedsstaaten vorwiegend mittelbare und unmittelbare militärische Unterstützung beim Kampf gegen den IS insbesondere in Syrien. Die Formulierung „alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“ der Beistandsklausel schließt zwar auch zivile Ressourcen mit ein, doch ist die ebenfalls denkbare Solidaritätsklausel des Art. 222 AEUV wohl nicht grundlos außer Acht gelassen worden. Abgesehen von der Frage, ob der Anschlag in Paris als „bewaffneter Angriff“ gelten kann (ausführliche und zutreffende Analysen dazu hier und hier) überrascht das Vorgehen der Grande Nation hier aus zweierlei Hinsicht: Zum einen kehrt sie damit von der bisher grundlegenden europäischen Prämisse „NATO first“ ab. Der Rückgriff auf die Beistandsklausel zeigt aber ebenfalls, dass die strikte Trennung von innerer und äußerer Sicherheit, die die Europäischen Verträge nicht ohne Grund kennzeichnet, durch die Anschläge von Paris zumindest aus praktischer Perspektive weiter erschüttert wird.
„NATO first“?
Als Einrichtung zur kollektiven Verteidigung ist die NATO bis heute für viele EU-Mitgliedsstaaten, darunter auch seit 2009 wieder voll integriert Frankreich, die erste Anlaufstelle bei der Suche nach militärischer Unterstützung (dort: Art. 5 NATO-Vertrag) im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das eigene Hoheitsgebiet. Gleichzeitig hat die Existenz der NATO, und mit ihr der strukturiert-militärische Austausch insbesondere mit den USA die Entwicklung einer rein europäischen Kollektivverteidigung im Rahmen der GSVP de facto lahm gelegt.
So sieht Art. 42 Abs. 7 UAbs. 2 EUV vor, dass die Verpflichtungen aus dem NATO-Vertrag keinesfalls durch die Beistandsklausel überlagert werden können. Dieser spezielle Hinweis ist lediglich eine Wiederholung einer gleichlautenden Grundregel, die gemäß Art. 42 Abs. 2 UAbs. 2 EUV für die gesamte GSVP gilt: NATO-Verpflichtungen dürfen durch europäische Verteidigungsbestimmungen nicht verletzt werden.
Nun wurden diese negativen Formulierungen (keine NATO-Vertragsverletzung) im Sinne einer transatlantischen Austauschpolitik häufig aber auch politisch als positive Forderung nach einer Priorisierung der NATO-Strukturen interpretiert: „NATO first in defence affairs“. Frankreich, traditioneller Vorreiter europäischer Verteidigungsstrukturen, bricht nun, ohne Vertragsrecht zu verletzen, mit dieser ungeschriebenen Regel. Diese europäische Beistandsforderung ist aber wohl in erster Linie keinem langfristig politischen Kalkül geschuldet, sondern vielmehr der Möglichkeit, über die unausgereifte Beistandsklausel des EU-Vertrages kurzfristig bilaterale militärische Unterstützung, und wenn auch nur mittelbar, von einigen europäischen Mitgliedsstaaten zu erhalten.
Annäherung innere und äußere Sicherheit
Frankreich hat eben nicht die auf die innere Sicherheit zugeschnittene Solidaritätsklausel des Art. 222 AEUV aktiviert, sondern seine Forderung auf die GSVP-Bestimmung des Art. 42 EUV gestützt. Damit begibt sich die Regierung nicht nur in juristisch unsichere Fahrwasser, wenn es um die Zurechnung der Anschläge als bewaffnete Angriffe geht, sondern bekennt sich zu einem europäischen Sicherheitsbegriff, der nicht mehr konsequent zwischen Innen und Außen trennt.
Nun lässt sich der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts innerhalb der EU tatsächlich angesichts globaler Terrorismusstrukturen nicht mehr ohne globales Agieren der Union verwirklichen. Europäische offensive Kampfeinsätze können, selbstverständlich im Einklang mit dem Völkerrecht, als ultima ratio dieser Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Frage kommen. In einer auch innereuropäisch so umstrittenen Gemengelage wie der Syrienkrise darf aber der aus der Bündnisklausel des Art. 42 Abs. 7 EUV erwachsende politische Druck – unmittelbar rechtliche Verbindlichkeit wird mindestens durch die im Normtext enthaltene sogenannte irische Klausel (auch: Art. 42 Abs. 2 Uabs 2) verhindert – nicht dazu benutzt werden, die Mitgliedsstaaten außenpolitisch auf Linie zu bringen.
Keine grundsätzliche Militarisierung der GSVP
Die Unfertigkeit der Bündnisklausel – weder ein Bündnisverfahren, noch dann weitergehende Strukturen zur Hilfeleistung sind normiert – zeigt, dass eine gemeinsame europäische Verteidigung weder rechtlich noch tatsächlich existiert. Das Prinzip der Freiwilligkeit des militärischen Beitrags besteht fort. Der Bündnisfall sollte keinesfalls dazu beitragen, dass eine in den Kinderschuhen steckende gemeinsame Verteidigung die Werkzeuge der intergouvernementalen GSVP, die mittel- und langfristig konzipierten Missionen der EU, als Sicherheitsbeitrag in der Welt in der Außenwahrnehmung kurzfristig ablöst. Bilateral kann selbstverständlich auf Basis des Freiwilligkeitsprinzips auch aktiv militärisch an der Seite der Franzosen in Syrien gekämpft werden. So hat dies die EU-Außenbeauftragte Francesca Mogherini im unmittelbaren Anschluss an die Ratssitzung weitsichtig formuliert. Dies und die wohl faktische Ausgestaltung der Bündniswirkung lassen hoffen, dass der notwendige Spagat zwischen unbedingter Solidarität mit Frankreich und Selbstaufgabe der grundsätzlich zivilen Außenpolitikdoktrin der Union in den traurigen Tagen nach dem dunklen Freitag in Paris zu schaffen ist.