25 February 2020

Der fehlende Mut, mit alten Ausbildungs­traditionen zu brechen

Die Abschaffung der berühmten Kaderschmiede École Nationale d’Administration (ENA) – mit dieser Ankündigung sorgte Emmanuel Macron für Wirbel in der aufgeheizten Stimmung der Gelbwestenproteste im letzten Jahr. Die jüngsten Entwicklungen um die Reform lassen aber Zweifel daran aufkommen, dass es neben einer symbolträchtigen Änderung des Namens zu substanziellen Reformen kommen wird. Es scheint ganz so, als befürchte man durch ein verändertes Ausbildungs- und Karrieresystem hoher Beamter und Beamtinnen Einbußen in der Funktionsfähigkeit des Staates. Dabei wäre ein flexibleres, weniger elitäres und damit egalitäres Ausbildungssystem eine große Chance, für einen gesellschaftlichen Wandel zu sorgen.

Die Unzufriedenheit mit den alten Eliten

Mit den Gelbwestenprotesten zeigte sich die Unzufriedenheit großer Bevölkerungsteile – mit den Benzinpreisen, dem Steuersystem, den Rentenansprüchen. Macron reagierte, indem er in einer „Grand débat national“ sammelte, was den Franzosen und Französinnen am Herzen lag. Die Präsentation der Ergebnisse dieses Austausches im April 2019 war ein Paukenschlag: Zu den geplanten umfassenden Staatsreformen gehört auch die Abschaffung der prestigeträchtigen ENA. Vergleichbar wäre dieser Schritt damit, das Volljuristenmodell samt universitärer juristischer Ausbildung abzuschaffen.

Der Symbolwert dieser Institution, die 1945 auf Initiative von Charles de Gaulle gegründet wurde, ist immens. Die ENA ist aber bereits mehrfach die Kritik geraten, insbesondere wegen ihrer geringen sozialen Durchlässigkeit. Sie steht als Kaderschmiede hoher Staatsbeamter sinnbildlich für ein verkrustetes, elitäres System in Frankreich. So waren und sind nahezu alle Präsidenten Frankreichs „Enarchen“, auch Macron selbst, unter dessen Präsidentschaft der Tradition nun ein Ende gesetzt werden soll.

Macron hatte nach der Ankündigung ein Expertenteam rund um den langjährigen Fußballfunktionär und ENA-Alumnus Frédéric Thiriez beauftragt, Reformvorschläge vorzulegen. Diese waren zunächst für November letzten Jahres vorgesehen, verzögerten sich laut Le Figaro aber durch über 250 Expertenanhörungen und kontroverse Diskussionen bereits im Entwurfsprozess. Erst am 18. Februar 2020 übergab der Leiter der Expertengruppe dem Premierminister Édouard Philippe den Bericht mit dem Titel „Mission Haute Fonction Publique“. Dieser schlägt eine Reformierung des Ausbildungssystems für hohe Staatsämter vor, die unter anderem die angekündigte Abschaffung der ENA beinhaltet.

„L’ENA est morte, vive l’EAP“

Doch wie umfassend kann eine Reform sein, welche unter der Präsidentschaft sowie Federführung ehemaliger Absolventen der ENA stattfindet? Tatsächlich kann von einer gänzlichen Abschaffung der ENA bei näherem Hinsehen kaum die Rede sein: Die ENA soll nämlich – aufgrund ihrer Bekanntheit im Ausland – weiter international als École Nationale d’Administration internationale (kurz ENAi) auftreten. Auf nationalem Niveau soll die alte ENA – neben sechs weiteren Ausbildungsstätten (u.a. auch die Richterschule École Nationale de la Magistrature (ENM)) – in eine neue Einrichtung, die École d’Administration Publique (EAP) integriert werden. „L’ENA est morte, vive l’EAP“ – schrieb daher Les Echos und beschrieb die ersten Reaktionen der französischen Regierung auf den Bericht als eher zurückhaltend.

Die neu zu schaffende EAP soll eine sechsmonatige gemeinsame Grundausbildung für alle Absolventen und Absolventinnen vorsehen, die verschiedene praktische Erfahrungen sowie einen militärischen Vorbereitungsdienst enthält. Danach teilen sich die Wege: So müsste, wer künftig Richterin oder Richter in der ordentlichen Gerichtsbarkeit werden möchte, den Ausbildungszweig „Justiz und Sicherheit“ wählen, für die Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit soll der Zweig „Verwaltung“ entstehen. Eine gemeinsame juristische Ausbildung ist somit nicht vorgesehen, ebenso wenig ein verpflichtendes Jurastudium vor dem Eintritt in die Spezialausbildungen. Dies zeigt, dass die Reform vom bisherigen System her denkt: Sie nutzt nicht die Gelegenheit, den Dualismus zwischen Grandes Écoles und Universitäten aufzubrechen und insbesondere die Ausbildung an den juristischen Fakultäten der staatlichen Universitäten aufzuwerten.

So hatte die geringe Bedeutung der juristischen Fakultäten bisher zur Folge, dass die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler der ENM („auditeurs de justice“) nicht über eine generelle juristische Vorausbildung in den verschiedenen Rechtsgebieten verfügen. Vielmehr besuchten zwei Drittel der ENM-Absolventen und Absolventinnen zuvor das Institut d’Études Politiques in Paris (Sciences Po Paris). Auch den Aufnahmetest der ENA bestand bisher hauptsächlich (76 %), wer zuvor an Sciences Po Paris studiert hatte. Dies nennt der Bericht ein „Quasimonopol“ (S. 11), nicht nur der Ausbildung an einer Grande École, sondern zudem zentralisiert in Paris. Deshalb soll das neu vorgeschlagene Auswahlverfahren mehr Chancengleichheit bieten und etwa die umstrittene Prüfung in „Culture générale“ wegfallen. Während Kritiker der Ausbildung damit intellektuellen Anspruch absprechen, zielt dies nach dem Bericht auf eine größere Diversität unter den Absolventen und Absolventinnen.

Auch weitere der Reformvorschläge brechen mit einigen der Spezifika der französischen Elitenausbildung: So soll das System der Rangziffern der Jahrgangsbesten („classement de sortie“) wegfallen. Den vordersten Plätzen stand seit jeher der begehrte Direkteinstieg insbesondere in den Conseil d’État und die Cour des Comptes offen. Diese besonders prestigeträchtigen Karrieren in den „Grands Corps juridictionnels“ sollen nun erst nach einigen Jahren Berufserfahrung und separatem Auswahlverfahren möglich sein.

Für eine vollständige Veränderung dieser Institutionen sind nach dem Bericht allerdings verfassungs- und europarechtliche Vorgaben zu beachten. Nach der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel fußt die Justiz auf Berufsrichterinnen und -richtern (s. für die ordentliche Gerichtsbarkeit die Entscheidung Nr. 94-355 DC und Nr. 2011-635 DC, sowie für die Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit die Entscheidung Nr. 2019-778 DC). Deren garantierte Unabhängigkeit könnte etwa durch Versetzungsmöglichkeiten gefährdet werden (s. im Bericht S. 27 sowie Anhang 6 ab S. 78). Auch europäische Rechtsprechung sei zu berücksichtigen. Hier weist der Bericht unter anderem auf die Verurteilungen Frankreichs durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen der internen Organisation des Conseil d’État hin (s. etwa die Entscheidung Kress c. Frankreich von 2001).

Der schwere Weg zu einer modernen Juristenausbildung

Die genaue Umsetzung der Vorschläge bleibt weiter abzuwarten. Der Premierminister hat auf den Bericht hin nun dessen nähere Begutachtung angeordnet, wobei Le Monde berichtet, dass der Regierung einige Vorschläge bereits jetzt missfallen. Dies betrifft etwa die Abschaffung der Rankings am Ende der Ausbildung. Konkrete Änderungen in der Ausbildung könnten – sollten die Gesetzesänderungen wie vom Bericht vorgesehen bis September dieses Jahres beschlossen werden – ab dem Jahr 2022 eintreten.

Gleichzeitig zeigt die Reform auch, dass traditionell national- und obrigkeitsstaatlich gedachte Ausbildungskonzepte immer mehr unter Druck geraten. Auch hierzulande ist die Juraausbildung umstritten, wie zum Beispiel die Reaktionen auf das Interview mit Marietta Auer verdeutlichten. Mangels zentralistischen Systems und derzeit geringerer medialer Präsenz hochschulpolitischer Themen steht eine Reform allerdings weit weniger im Fokus der Öffentlichkeit als in Frankreich. In diesem Zusammenhang sind aktuelle Entwicklungen, insbesondere die von der Justizministerkonferenz geplante Schwächung der universitären Schwerpunktausbildung, trotzdem kritisch zu sehen. Eine moderne Juristenausbildung erfordert es, Recht in seinem gesellschaftlichen und internationalen Kontext zu begreifen. Ein Rückfall in ein traditionsbehaftetes reines Pflichtfachstudium wird dem nicht gerecht. Gerade die Schwerpunkt- und Grundlagenfächer ermöglichen es, einen reflektierten Blick auf juristische Fragestellungen zu werfen. Insofern gilt in Deutschland wie in Frankreich: Es bedürfte Courage, mit einigen alten Ausbildungstraditionen zu brechen. Dabei würde ein stärkerer Fokus auf interdisziplinäre und internationale Kompetenzen helfen, die gesellschaftliche Dimension der Rechtsanwendung besser zu verstehen.


3 Comments

  1. Paul Meiners Tue 25 Feb 2020 at 11:54 - Reply

    Sehr interessanter Beitrag! Ich verstehe aber Ihre Kritik am Sciences Po System nicht ganz. Wie Sie selber schreiben:
    “Dabei würde ein stärkerer Fokus auf interdisziplinäre und internationale Kompetenzen helfen, die gesellschaftliche Dimension der Rechtsanwendung besser zu verstehen.”

    Genau das wird doch in der Sciences Po so praktiziert, ganz anders als in Deutschland?

    • Ruth Weber Thu 27 Feb 2020 at 09:19 - Reply

      Vielen Dank für die Frage! Der Unterschied zum deutschen (Jura-)Ausbildungssystem besteht meines Erachtens darin, dass es sich bei Sciences Po im Ausgangspunkt nicht um eine juristische, sondern um eine politik-/sozialwissenschaftliche Ausbildung handelt.

  2. FUnge Tue 25 Feb 2020 at 23:12 - Reply

    Hier wird von der französischen Elite ganz offensichtlich die große Chance vertan endlich ein Ausbildungniveau zu erreichen, wie es beispielsweise für die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages ganz sebstverständlich ist. Schade drum.

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