11 December 2014

Der Gazprom-Fall vor dem EuGH: Schiedsgerichtsbarkeit und europäisches Prozessrecht

Die Enttäuschung gleich am Anfang: Es geht in diesem Beitrag weder um TTIP noch um CETA. Immerhin aber sind einige andere zeitgerechte Schlagworte im Angebot: Schiedsgerichtsbarkeit (allgemein), Gazprom, Russland, Litauen, Gaslieferungen.

Politisch geht es um einen hochbrisanten Komplex: Die Entflechtung der Gasmärkte im Baltikum. Das findet auch der EuGH spannend, weshalb er das Vorabentscheidungsersuchen des Kassationsgerichtshofs von Litauen – es betrifft technische Fragen der Abgrenzung von EuGVVO und Schiedsgerichtsbarkeit – Ende September vor der Grand Chamber verhandelte (C-536/13). Anfang Dezember hat nun der Erste Generalanwalt Melchior Wathelet seine Schlussanträge vorgelegt. Sein Ergebnis: Die Schiedsgerichtsbarkeit sei als Gesamtbereich der EuGVVO entzogen. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, das New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche von 1958 („UNÜ“) auszulegen. Eine von einem Schiedsgericht erlassene anti-suit injunction reiche danach jedenfalls nicht aus, um die Anerkennung und Vollstreckung eines Schiedsspruchs auf Grundlage des Art. V Abs. 2 lit. b) UNÜ zu versagen.

Rechtsstaatlich ist das aus verschiedenen Gründen interessant. Aber zunächst zum (vereinfachten) Sachverhalt:

Gazprom beliefert Litauen bereits seit vielen Jahren mit Erdgas. Angekauft wurde das Gas von der Gesellschaft Lietuvos dujos AB („Dujos“). Aktionäre von Dujos waren Gazprom, E.ON Ruhrgas und die Republik Litauen. Versorgt wurde nahezu die komplette litauische Bevölkerung. Nach Angaben der litauischen Regierung wurde dabei der höchste Gaspreis innerhalb der EU berechnet. Das sorgte in einem Land mit kühlen Wintern für eine eisige Stimmung. Es lag deshalb für das Energieministerium nahe, nachteilige Handlungen der zwei von Gazprom ernannten Vorstandsmitglieder zu erahnen. Deshalb erhob das Energieministerium Klage vor dem Regionalgericht Vilnius gegen Dujos sowie die entsprechenden Vorstandsmitglieder. Hierbei handelte es sich um ein spezielles Verfahren nach litauischem Recht, wonach das Gericht einen Sachverständigen ernennen kann, der daraufhin untersucht, ob eine juristische Person oder ihre Organe ordnungsgemäß gehandelt haben. Vor allem ging es darum, Dujos zur Aufnahme von (Nach-)Verhandlungen über einen angemessenen und fairen Gasabnahmetarif zu verpflichten. Da sich in der Aktionärsvereinbarung allerdings eine Schiedsabrede fand, reagierte Gazprom auf das litauische Verfahren mit der Einleitung eines Schiedsverfahrens unter den Auspizien der Stockholmer Handelskammer. Noch vor Entscheidung des vor dem Regionalgericht Vilnius anhängigen Rechtsstreits erließ das Schiedsgericht einen Schiedsspruch, in dem es dem Energieministerium aufgab, bestimmte Klageanträge zurückzunehmen sowie die Streitigkeit vor einem Schiedsgericht auszutragen. Hierbei handelte es sich letztlich um eine anti-suit injunction in Form eines Schiedsspruchs. Dieser Schiedsspruch hinderte das Regionalgericht Vilnius jedoch nicht daran, die Streitigkeit als nicht schiedsfähig unter litauischem Recht einzuordnen und die Zuständigkeit der staatlichen Gerichtsbarkeit zu bejahen. Der Klage des Energieministeriums wurde stattgegeben und ein Gutachter eingesetzt. Daraufhin legte Dujos Rechtsmittel vor dem Litauischen Appellationsgericht ein. Diesem blieb jedoch der Erfolg versagt: Ein Schiedsspruch, der die Klagebefugnis des litauischen Staates vor einem litauischen Gericht beschränke und litauischen Gerichten die Zuständigkeit für Entscheidungen über ihre Zuständigkeit nehme, verstoße gegen den in der litauischen Verfassung verankerten Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz. Gegen diese Entscheidung wehrte sich Dujos mit der Revision vor dem Kassationsgerichtshof von Litauen, welcher daraufhin verschiedene Abgrenzungsfragen zum Verhältnis von Schiedsgerichtsbarkeit und EuGVVO dem EuGH vorlegte.

Insgesamt wirft der Rechtsstreit nicht nur technische Abgrenzungsprobleme auf, sondern berührt grundsätzliche rechtsstaatliche Fragestellungen. Zunächst ist bemerkenswert, dass Gazprom seine eigenen Rechte in Schiedsverfahren durchsetzt, wohingegen die Russische Föderation sich dem Schiedsgericht vor dem Ständigen Schiedsgerichtshof in Den Haag in Sachen Yukos nicht stellte. Eine Vollstreckung des 50 Milliarden USD schweren Yukos-Schiedsspruchs lehnt die Russische Föderation selbstverständlich ab, will aber gleichzeitig den eigenen anti-suit injunction-Schiedsspruch gegen Litauen auf der Grundlage des UNÜ vollstrecken. Abgesehen von diesem erstaunlichen Prozessverhalten ist der unbefangene Betrachter zunächst darüber überrascht, was eine gesellschaftsrechtliche Streitigkeit zwischen der Republik Litauen und einer litauischen Gesellschaft mit dem europäischen Zivilprozessrecht zu tun haben soll. Zwar lässt sich dies unter Hinweis auf den allgemein gehaltenen Art. 2 der EuGVVO durchaus begründen, es mutet aber dennoch seltsam an, dass ausgerechnet der vorliegende Sachverhalt zur Neujustierung des Koordinatensystems von europäischem Zivilprozessrecht und Schiedsgerichtsbarkeit dienen soll. Geht man nun davon aus, dass die Vorlagefragen zulässig gestellt worden sind, so ist zunächst die bisherige Rechtsprechung des EuGH ins Gedächtnis zu rufen. So hat der EuGH bereits entschieden, dass grenzüberschreitende anti-suit injunctions von staatlichen Gerichten unter der EuGVVO unzulässig sind (Turner v Grovit, C‑159/02). Das gilt sogar dann, wenn die anti-suit injunction zur Durchführung eines Schiedsverfahrens erlassen wurde (Allianz v West Tankers, C-185/07). Demgegenüber soll der Erlass von anti-suit injunctions durch Schiedsgerichte nun nach Ansicht des Generalanwalts nicht der EuGVVO unterfallen. Das Verbot von anti-suit injunctions im europäischen Zivilprozessrecht beträfe folglich nur staatliche Gerichte, nicht aber Schiedsgerichte. Das führt zu dem auf den ersten Blick kuriosen Ergebnis, dass die Macht des Staates kleiner als die des Schiedsgerichts erscheint – eine Aussage, die nicht zuletzt vor den Protesten gegen TTIP eine gewisse Brisanz in sich trägt. Bei genauer Analyse fällt aber auf, dass die Einwirkungsmöglichkeiten von Schiedsgerichten auf staatliche Verfahren weder neu noch rechtsstaatlich bedenklich sind. Zunächst ist zu beachten, dass die Parteien dem Schiedsgericht nicht nur die Kompetenz zur Entscheidung des Rechtsstreits, sondern auch zum Erlass von einstweiligen Maßnahmen übertragen haben. Abgesehen davon richten sich die Maßnahmen des Schiedsgerichts nur gegen die Parteien und binden nicht die Richter, weshalb deren Unabhängigkeit auch nicht in Gefahr gerät. Letztlich würde eine Anwendung der EuGVVO zur Vermischung von unterschiedlichen Streitbeilegungsebenen führen. Deshalb ist im Ergebnis dem Generalanwalt zuzustimmen, wenn er die EuGVVO als unanwendbar auf schiedsgerichtliche anti-suit injunctions ansieht.

Rechtsstaatlich bemerkenswert ist überdies die Tatsache, dass der Generalanwalt nahezu ausschließlich mit der neuen EuGVVO argumentiert, die derzeit noch nicht in Kraft und für den zu entscheidenden Rechtsstreit ohnehin nicht anwendbar ist. Es scheint sich aber im Europarecht durchzusetzen (oder durchgesetzt zu haben?), dass zu den bislang anerkannten Auslegungsmethoden eine weitere, der Fortentwicklung des Europarechts dienende Auslegungsmethode hinzugetreten ist.

Zuletzt darf die Frage gestellt werden, warum der Generalanwalt das UNÜ ausführlich auslegt. Hierbei handelt es sich nicht um Europarecht, sondern um ein multilaterales völkerrechtliches Übereinkommen. Den Begriff der öffentlichen Ordnung in Art. V Abs. 2 lit. b) UNÜ müssen die litauischen Gerichte deshalb eigenständig auslegen. Daran ändert auch ein vermittelter Bezug zur EuGVVO nichts.

Es bleibt abzuwarten, wie der EuGH auf die sorgfältig erarbeiteten Schlussanträge des Generalanwalts reagieren wird. Er wäre gut beraten, ihnen in Hinblick auf den Ausschluss der Schiedsgerichtsbarkeit zu folgen. Diese sollte ausschließlich den völkerrechtlichen Übereinkommen sowie den nationalstaatlichen Regelungsmechanismen unterfallen.


One Comment

  1. Marc B. Fri 12 Dec 2014 at 12:28 - Reply

    Mir ist völlig unklar, wie eine Aktionärsvereinbarung (auch wenn die Republik Litauen Gesellschafter ist) die Aufsichtsbehörden der Republik Litauen binden soll. Hat die Republik Litauen denn im Gesellschaftervertrag ihre wettbewerbsrechtliche Aufsichtsfunktion explizit dieser Schiedsklausel understellt oder werden dort nur gesellschaftsrechtliche Ansprüche geregelt?

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