25 November 2021

Der Internationale Strafgerichtshof zwischen „positiver Komplementarität“ und Politik

Die Beispiele Afghanistan, Irak, Jugoslawien, Ruanda und Palästina

Vor kurzem hat der neue Chefankläger beim Internationalen Gerichtshof (IStGH) Karim A. A. Khan QC  die Vorermittlungen gegen Kolumbien wegen möglicher Verbrechen in der Auseinandersetzung mit der Guerilla-Organisation Farc aus Gründen der Komplementarität eingestellt. Dieses in Art. 17 Römisches Statut vom 17. Juli 1998 (RSt) kodifizierte Prinzip der Komplementarität entlastet den Ankläger von weiteren Untersuchungen und möglicher Anklage, wenn er zu der Überzeugung gelangt, dass der Staat der vermutlichen Täter ernstgemeinte und effektive eigene Untersuchungen der angeblichen Kriegsverbrechen garantieren kann. In diesem Fall hatte sich die kolumbianische Regierung in einem Kooperationsabkommen mit der Anklagebehörde des IStGH zu enger Zusammenarbeit verpflichtet. Dieses ist nicht das erste Mal, dass die Anklagebehörde einen derartigen Weg wählt. Sie ist dabei nicht ohne Kritik geblieben – ein Anlass, diese Praxis ein wenig genauer anzuschauen.

Die Einrichtung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit auf vertraglicher Basis ist eine der großen Errungenschaft des Völkerrechts nach dem Zweiten Weltkrieg. Anknüpfend an die Nürnberger Tribunale und ihre Prinzipien, soll sie die zentrale Schwäche des Völkerrechts, seine mangelnde Durchsetzbarkeit, mit einem System der individuellen Verantwortlichkeit und Strafbarkeit kompensieren. Es hat über 50 Jahre der Entwürfe und Verhandlungen zwischen den Staaten gebraucht, um endlich im 21. Jahrhundert über ein Instrumentarium zu verfügen, welches die schwersten Verbrechen ahnden und ihre Täter zur Verantwortung ziehen kann. Die bisherigen Ergebnisse des Gerichtshofes haben die hohen Erwartungen nicht erfüllen können. Es hat etliche Verfahren mit einigen wenigen Verurteilungen afrikanischer Kriegsverbrecher gegeben. Die großen Kriege der westlichen Staaten sind bisher von den Untersuchungen der Staatsanwaltschaft verschont geblieben. Erste Versuche, dieses Defizit zu beseitigen, sind vorerst gescheitert, wovon einige Beispiele im Folgenden handeln.

1.

Am 27. September dieses Jahres ersuchte Chefankläger Khan die Vorverfahrenskammer des Gerichtshofs um das Mandat, die Untersuchungen in der „Angelegenheit Islamische Republik Afghanistan“, wieder aufnehmen zu können.((Statement of the Prosecutor of the International Criminal Court, Karim A. A. Khan QC, following the application for an expedited order under article 18(2) seeking authorisation to resume investigations in the Situation in Afghanistan, OTPNewsDesk@icc-cpi.int.)) Diese Untersuchungen haben eine lange Geschichte und gehen bis ins Jahr 2016 zurück. Damals, am 15. November 2016, veröffentlichte die ehemalige Chefanklägerin Fatou Bensouda in Den Haag einen umfangreichen Bericht über schwere Kriegsverbrechen, die Angehörige der afghanischen Armee, Taliban-Kämpfer und deren Verbündete, aber auch US-Soldaten und CIA-Agenten in Afghanistan begangen haben sollen. So seien die Taliban höchstwahrscheinlich für den Tod von etwa 17.000 Zivilisten in den Jahren 2007 bis Ende 2015 bei Angriffen auf Schulen, Krankenhäuser und Moscheen verantwortlich. Aber auch die US-Streitkräfte hätten die Folterung und Misshandlung von mindestens 61 Gefangenen zu verantworten. Desgleichen hätten CIA-Agenten mindestens 27 Gefangene gefoltert, und zwar nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Gefängnissen in Polen, Rumänien und Litauen. Die Vorwürfe reichen bis ins Jahr 2014.

2019 hatten die Richter die Einleitung formeller Untersuchungen noch abgelehnt. Am 5. März 2020 gab aber die Berufungskammer des IStGH schließlich grünes Licht für weitere Untersuchungen in der Zeit seit dem 1. Juli 2002. Am 26. März 2020 beantragte die afghanische Regierung jedoch, gestützt auf Art. 18 Abs. 2 RSt, die Untersuchungen nationalen afghanischen Behörden zu übertragen. Nach dieser Vorschrift kann ein Staat binnen eines Monats nach Eingang eines derartigen Berichts zur Anklageerhebung den Gerichtshof davon in Kenntnis setzen, dass er selbst wegen der in Artikel 5 bezeichneten Verbrechen (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Aggression) ermittelt oder ermittelt hat. Die Anklagebehörde stellt dann ihre Ermittlungen ein, wenn nicht die Vorverfahrenskammer auf Antrag der Behörde, diese zu den Ermittlungen ermächtigt (Art. 17 RSt).

Obwohl die Anklagebehörde in Den Haag der Regierung in Afghanistan bis zu ihrem Ende am 15. August 2021 (Flucht des Regierungschefs Ashraf Afghani) eine konstruktive Zusammenarbeit attestierte, änderte sich die Situation schlagartig mit der Übernahme der Macht durch die Taliban. Khan sah nicht mehr die Voraussetzungen für eine solche ernstgemeinte und effektive Untersuchung durch die neuen Machthaber als gegeben. Er entschied auf Grund der begrenzten Ressourcen seiner Behörde angesichts des Umfangs und der Schwere der Verbrechen, seine Untersuchungen auf die Verbrechen der Taliban und den „Islamischen Staat – Provinz Khorasan“ (IS-K) zu konzentrieren. Er bezog sich dabei insbesondere auf den jüngsten Anschlag vom 26. August 2021 in der Nähe des Internationalen Flughafens, den der IS-K für sich reklamierte. Der IS-K stelle eine globale Bedrohung für den internationalen Frieden und die Sicherheit dar. Die US-Regierung begrüßte umgehend die Entscheidung, da damit die Untersuchungen gegen US-Militär und CIA faktisch auf Eis gelegt wurden. Sie hatte schon im April 2021 die Sanktionen von US-Präsident Trump gegen Khans Vorgängerin und weitere Mitglieder der Anklagebehörde aufgehoben.

2.

Auf gleicher juristischer Grundlage hatte die damalige Chefanklägerin Fatou Bensouda am 9. März 2020 die vorläufige Untersuchung wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen durch britische Soldaten im Irak eingestellt. Die Vorwürfe lauten Folter, Mord und Misshandlung vor allem in dem Gefängnis von Abu Ghraib. Die Untersuchungen waren schon einmal am 9. Februar 2006 eingestellt und am 3. Mai 2014 auf Grund neuer Informationen im Zeitraum 2003 -2006 wieder eröffnet worden. Die Anklagebehörde gab den zuständigen Verfolgungsbehörden im Vereinigten Königreich den Persilschein: Auf Grund der Auswertung aller zur Verfügung stehenden Informationen „komme sie nicht zu dem Ergebnis, dass die Behörden des Vereinigten Königreiches unwillig gewesen wären, die notwendigen Untersuchungen und/oder Verfolgungsmaßnahmen (Art. 17 Abs. 1a RSt) durchzuführen, oder dass die Entscheidungen, in den besonderen Fällen nicht zu verfolgen, auf der Unwilligkeit beruht, wirklich zu verfolgen (Art. 17 Abs. 1b RSt).“((ICC, The Office of the Prosecutor, Situation in Iraq/UK The Final Report, Zif. 502, https://www.icc-cpi.int/itemsDocuments/201209-opt-final-report-iraq-uk-eng.pdf)) Human Rights Watch (HRW) allerdings kritisierte die Entscheidung der Anklägerin. Die britische Regierung habe “wiederholt nur sehr wenig Interesse an derUntersuchung und Verfolgung der im Ausland von britischen Truppen begangenen Gräueltaten gezeigt”.

Kann dem Staat weder mangelnder Willen noch Unvermögen nachgewiesen werden, die Strafverfolgung selbst ernsthaft durchzuführen, ist nach Art. 17 RSt ein Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof nicht zulässig. Damit ist zwar eine erneute Eröffnung des Verfahrens gem. Art. 15 RSt möglich, wenn neue Informationen und Beweismittel in der Sache auftauchen,  aber angesichts der bestehenden politischen Machtverhältnisse höchst unwahrscheinlich. Nun ist die Akte wohl endgültig geschlossen worden.

3.

2015 war die damalige Chefanklägerin Fatou Bensouda von der palästinensischen Regierung aufgefordert worden, die Kriegsverbrechen im Gaza-Krieg von 2014 zu untersuchen. Es dauerte fünf Jahre, bis der IStGH am 5. Februar 2021 seine Zuständigkeit für den israelisch-palästinensischen Konflikt erklärte.((ICC Pre-Trial Chamber I, Situation in the State of Palestine, ICC-01/18-143 05-02-2021 1/60 EC PT.)) Nach palästinensischen Angaben waren damals 2251 Palästinenserinnen und Palästinenser und 73 Israelis umgekommen.

Palästina hatte 2015 seinen Beitritt zum IStGH erklärt, und war vom Gericht wie vom Generalsekretär der UNO akzeptiert worden. Das war ein gewaltiger Erfolg in seinem Bestreben, als Staat auch von der UNO anerkannt zu werden. 122 Staaten hatten das schon zuvor getan. Für die Mitgliedschaft im IStGH reichte es aus, dass die Generalversammlung Palästina den Status eines „Beobachterstaates“ erteilt hatte, die Anerkennung eines „Mitgliedstaates“ aber noch vorenthalten hat. Diese Statusdifferenz spielte nun auch bei der Entscheidung des IStGH eine Rolle. Während Richter Perrin de Brichambaut (Frankreich) und Richterin Alapini-Gansou (Benin) den Beobachterstatus für die Gerichtszuständigkeit ausreichen lassen, hat der Vorsitzende Richter Péter Kovács (Ungarn) in einem ausführlichen Minderheitsvotum eine Gegenposition bezogen und die Zuständigkeit in Frage gestellt. Ein hochpolitischer Dissens. Das wird auch daran deutlich, dass 43 Staaten, juristische Organisationen und einzelne Juristen eine sog. amicus curiae (Freund des Gerichts)-Stellungnahme eingereicht hatten, um die Argumentation einer der beiden Parteien zu unterstützen – die Bundesregierung auf Seiten Israels. Kovacs wollte Ost-Jerusalem und das gesamte C-Gebiet im Westjordanland aus der Zuständigkeit des Gerichthofes herausnehmen. Die Mehrheit des Gerichts hat jedoch die Zuständigkeit nicht nur für den Krieg von 2014, sondern auch für die Erschießung von 180 Menschen, vorwiegend Demonstrantinnen und Demonstranten, während der Gedenkmärsche 2018 in Gaza und die Siedlungspolitik im Westjordanland und Ost-Jerusalem erklärt. Die Ermittlungen sollen sich sowohl gegen Kriegsverbrechen der Israelis wie der Hamas im Gazastreifen richten.

Da die Amtsperiode von Fatou Bensouda in diesem Frühjahr endete, muss nun ihr Nachfolger Karim Khan die Ermittlungen bis zur Eröffnung eines Hauptverfahrens übernehmen. Der politische Druck, dies hinauszuzögern und im Sande verlaufen zu lassen, wird immens sein. Netanjahus Reaktion, „ein Skandal, sturer Antisemitismus“, kam nicht überraschend, er hatte schon unmittelbar nach der Entscheidung, alle diplomatischen Kanäle genutzt, die USA, die Bundesregierung und die Staaten der EU hinter seine Strategie zu bekommen, das Verfahrens zu blockieren. Außenminister Gabi Ashkenasi meinte, dass der Strafgerichtshof „das Völkerrecht verzerrt und diese Institution zu einem politischen Instrument der antiisraelischen Propaganda macht“. Die neue Regierung vertritt in dieser Frage keine andere Position. Khan könnte nun mit der gleichen Begründung der Überlastung der Anklagebehörde wie im Afghanistan-Verfahren oder des Vertrauens in die Bereitschaft und Fähigkeit der israelischen Justiz, ernsthafte Ermittlungen und Strafverfolgung durchzuführen, wie im Irak-Verfahren, seine Untersuchungen nur auf die möglichen Kriegsverbrechen der Hamas konzentrieren und die israelische Seite in den Akten belassen.

4.

Über den Umgang der großen Mächte mit der internationalen Justiz sollte man sich keine Illusionen machen. Die ehemalige Chefanklägerin in den beiden Sondertribunalen zu Ex-Jugoslawien und Ruanda, Carla del Ponte, hat sich in ihrem jüngsten Buch „Ich bin keine Heldin – Mein langer Kampf für Gerechtigkeit“ (Frankfurt a.M. 2021) dazu deutlich geäußert. Als Chefanklägerin im Jugoslawien-Tribunal musste del Ponte sehr schnell die Grenzen ihrer Befugnisse erkennen. Unter der Überschrift „In der Sackgasse: Ermittlungen gegen die NATO nicht möglich“ (S. 65) schildert sie, dass sie eindeutigen Nachweisen von mehreren Kriegsverbrechen nicht nachgehen konnte: „Natürlich leitete ich Untersuchungen ein. Oder besser gesagt: Ich hatte es vor, denn ich wurde an den Ermittlungen gehindert. Als ich in Brüssel die Unterlagen anforderte, kooperierte die NATO nicht… Dann hieß es plötzlich, die Dokumente seien leider vernichtet worden. Eine offensichtliche Lüge: Die NATO archiviert alles, und für die Unterlagen gibt es auch bestimmte Aufbewahrungsfristen. Damit waren mir die Ermittlungen unmöglich gemacht.“ (S. 66, 67) Desgleichen waren ihr im Ruanda-Tribunal die Hände gebunden, bei 13 Massakern der Tutsi, für die es starke Beweise gab, weiter zu ermitteln. In 93 Verfahren war es zuvor gelungen, 62 Hutu für ihre Verbrechen zu verurteilen. Als del Ponte nun auch die Verbrechen der Tutsi untersuchen wollte, standen dem höhere politische Interessen entgegen. „Um es ganz deutlich auszudrücken: Wir konnten nicht gegen die Tutsi ermitteln, weil uns die von Tutsi dominierte Regierung mit ihrem Präsidenten Kagame, einem General der FPR zu ihren schlimmsten Zeiten, systematisch daran hinderte – aber vor allem, weil die USA und Großbritannien die Ruander in ihrer Verweigerung unterstützten“ (S. 84, 85).

Das Fazit aus dieser gemischten Bilanz kann nur sein, den Gerichtshof und seine Anwaltschaft stärker vor dem Einfluss und den Erpressungsversuchen der mächtigsten Staaten zu schützen. Dabei handelt es sich nicht nur um offene Drohungen, mit denen der ehemalige US-Präsident Trump die Untersuchungen von Fatou Bensouda in den USA unterbunden hat. Es sind auch jene unsichtbaren Beziehungen hinter den Kulissen, die zur Ohnmacht der Justiz führen, aber lange Zeit im Nebel der Vermutung verborgen bleiben. Werden sie nach langer Zeit aufgedeckt, haben sie nur noch historische Bedeutung, wenn nicht die Unabhängigkeit des Gerichtshofes nachhaltig gestärkt wird. Dafür gibt es allerdings derzeit keine Anzeichen. Viel eher wachsen die Befürchtungen, dass sich der neue Chefankläger beim IStGH auch in den jetzt anstehenden Untersuchungen gegen Israel nicht wird durchsetzen können.


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