Der NSU vor dem EGMR: Letzte Hoffnung auf Aufklärung?
Bereits vor der Urteilsverkündung im NSU-Prozess stand fest, dass die Nebenkläger*innen im Prozess nicht erhalten haben, was Angela Merkel ihnen 2012 versprochen hatte: “Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.”
Auch die Untersuchungsausschüsse im Bundestag und in diversen Landtagen konnten nicht den gesamten Komplex ausleuchten. Besonders schwer wiegen fehlende Informationen über „Helfershelfer und Hintermänner“, sowie über die Rolle des Verfassungsschutzes. Die Bundesanwaltschaft legte sich früh auf eine „Drei-Täter-Theorie“ fest, trotz starker Indizien für einen größeren Unterstützerkreis. Die Auswahl der Opfer deutet auf Lokalkenntnis hin, die Mundlos, Bönhardt und Zschäpe nicht hatten. Auch die sog. 10.000er-Liste, die zahlreiche weitere Anschlagsziele enthielt, hätte nur schwer ohne lokale Unterstützung erstellt werden können. Obwohl der Verfassungsschutz über ein Netzwerk von Informanten in nächster Umgebung des NSU verfügte, wurden Versuche, dessen Rolle und mögliche Fehler aufzuklären, abgeblockt. Zeugenvernehmungen wurden verhindert und Akten gesperrt, wenn nicht sogar vernichtet.
Nebenkläger*innen und ihre Anwält*innen haben angekündigt, keinen Schlussstrich nach dem Urteil in München ziehen zu wollen. Man sei bereit, bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu gehen. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, der zunächst über den BGH und das BVerfG führt. Trotzdem lohnt die Überlegung, wie der EGMR zur Aufklärung des NSU-Komplexes beitragen kann.
Grundsätze des EGMR
Der EGMR stellt strenge Anforderungen an Ermittlungen in Mordsachen. Dabei ist es gleichgültig, ob der Staat in die Tat verwickelt ist oder nicht. Bereits wenn Raum für den Verdacht bleibt, dass eine Person absichtlich getötet wurde, muss der Staat eine effektive, offizielle Ermittlung durchführen. Diese Ermittlungspflicht ist eine Verhaltens- und keine Ergebnispflicht. Allein die Tatsache, dass bestimmte Tatsachen nicht aufgeklärt werden konnten, führt daher noch nicht zu einem Verstoß. Stattdessen müssen Unzulänglichkeiten in den Ermittlungen benannt werden. Was genau als Unzulänglichkeit gilt, hängt vom Einzelfall ab. Beim NSU-Komplex sprechen mehrere Faktoren für eine besonders umfangreiche Ermittlungspflicht: Die übergeordnete Bedeutung der Mordserie, die große Gefahr die von den Tätern ausging und nicht zuletzt die rassistischen Motive. Aufgrund der gesellschaftspolitischen Tragweite rassistischer Taten, verlangt der EGMR hier nämlich besonders rigorose Ermittlungen. Grundsätzlich kann jede Unzulänglichkeit zu einem Konventionsverstoß führen, die die Aufklärung der Tathintergründe und die Identifizierung der Verantwortlichen beeinträchtigen kann. Aus diesem Standard destilliert der EGMR konkrete Anforderungen, die auch für Deutschlands Umgang mit dem NSU interessant sein können.
Aufdeckung des möglichen Unterstützernetzwerkes
Zunächst müssen Ermittlungen in Fällen absichtlicher Tötung zur strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen führen können. Angesichts der Tatsache, dass solche Ermittlungen auch der Prävention zukünftiger Taten dienen sollen, wäre es widersinnig, nur die direkten Täter als Verantwortliche zu sehen. Dies bestätigt der EGMR in McCann v. UK – wenn auch in einem anderen rechtlichen Kontext – wenn er in Fällen tödlicher Gewalt besonderen Wert nicht nur auf die Identifizierung der Personen legt, die die Tat ausführen, sondern auch auf die Aufklärung weiterer Umstände, sowie die Planung und Kontrolle der Tat. Damit besteht die Pflicht, nicht nur diejenigen Personen zu verfolgen, die den Mord vor Ort begehen, sondern auch „Helfershelfer und Hintermänner“. Eine vorzeitige Verengung der Ermittlungen auf wenige Verdächtige, obwohl Indizien dafür existieren, dass weitere Personen in die Tat involviert waren, lässt sich mit dieser Anforderung kaum vereinbaren.
Es lässt sich auch nur schwer argumentieren, dass die Indizien zu schwach seien, um Ermittlungen zu rechtfertigen. Im Fall Kaya v. Turkey stellte der EGMR klar, dass Behörden selbst Hinweisen nachgehen müssten, die sich nur auf Hörensagen stützten, solange sich dadurch neue Spuren zu weiteren Verantwortlichen ergeben könnten.
Aufdeckung der Rolle des Verfassungsschutzes
Eine Ermittlung muss auch der möglichen Verwicklung staatlicher Stellen nachgehen. Dem steht entgegen, wenn Staatsbedienstete nicht befragt wurden und der Zugang zu Akten verwehrt wurde. Beides ist im NSU-Komplex geschehen. Natürlich hat der Staat ein Geheimhaltungsinteresse, gerade an Dokumenten und Personal des Verfassungsschutzes. Dieses erkennt der EGMR auch an. Material muss nicht veröffentlicht werden, wenn dadurch Rechte Dritter oder weitere Ermittlungen beeinträchtigt werden. Dagegen steht aber das große und legitime öffentliche Interesse an einer Aufklärung. Außerdem wurden viele Informationen über V-Leute bereits durch die Presse öffentlich, sodass der Schutz ihrer Identität häufig überflüssig geworden ist. Zumindest die teilweise Veröffentlichung von Berichten oder die Schwärzung sensibler Stellen sollte dementsprechend möglich sein. Genauso wäre die Vernehmung potentiell relevanter V-Leute unter Schutzvorkehrungen möglich gewesen. Letztlich formuliert der EGMR einen recht klaren Test, wann eine Ermittlung ausreichend transparent ist: Es müssten genügend Informationen veröffentlicht werden, um ausreichende öffentliche Kontrolle herzustellen, Verantwortlichkeit zu sichern, das öffentliche Vertrauen in die Gesetzestreue der Behörden zu stärken und jeden Eindruck zu verhindern, dass die Behörden illegale Handlungen toleriert hätten. Es muss bezweifelt werden, dass das Verhalten der Behörden im NSU-Komplex diesem Anspruch gerecht wird, denn zumindest der Verdacht, dass Verfassungsschützer illegale Handlungen tolerierten, ist mitnichten ausgeräumt.
Zusätzliche Probleme dürfte die Vernichtung von Akten durch den Verfassungsschutz bereiten, verlangt der EGMR doch die Sicherung aller relevanten Beweise für eine Tat. In Satik and Others v. Turkey heißt es eindeutig, dass der Verlust wichtiger Dokumente eine äußerst schwerwiegende Unzulänglichkeit der Ermittlung darstellt.
Was der EGMR anordnen könnte
Was passiert, wenn der EGMR tatsächlich urteilen sollte, dass Deutschlands Ermittlungen im NSU-Komplex unzureichend waren? Hier gibt es keine zwingende Rechtsfolge. Der EGMR kann sich auf ein deklaratorisches Urteil beschränken, dass die Fehler der Ermittlungen lediglich feststellt ohne Wirkung für die Zukunft haben. Er kann zusätzlich den Angehörigen Schadensersatz zusprechen. Spannend wird es, wenn der EGMR den Staat auffordert, Ermittlungen wiederaufzunehmen. In diesem Fall übernimmt das Ministerkomitee des Europarates die Überwachung der Umsetzung des Urteils. Zum Teil macht der EGMR für diese erneuten Ermittlungen recht detaillierte Vorgaben. So urteilte er im Fall Ataykaya v. Turkey, dass die Ermittlungen auf hochrangige Polizisten ausgedehnt werden müssten. Es besteht also tatsächlich die Möglichkeit, dass die Angehörigen der NSU-Opfer eine neue Ermittlung unter internationaler Kontrolle erwirken, die sich gezielt mit bisher negierten Aspekten des NSU-Komplexes auseinanderzusetzen hat.
Fazit
Der EGMR stellt hohe Anforderungen an Mordermittlungen, gerade wenn ein rassistischer Hintergrund vorliegt. Natürlich bleibt abzuwarten, was die weiteren Ermittlungsverfahren und das Strukturverfahren im NSU-Komplex ergeben. Nach heutigem Stand könnten die Nebenkläger*innen aber gut begründen, warum Deutschlands Ermittlungen im NSU-Komplex gegen die EMRK verstoßen haben. Allerdings ist der EGMR – gerade im internationalen Vergleich – ein eher zurückhaltendes Gericht. Er könnte sich auf die Feststellung zurückziehen, dass die Ermittlungspflicht eine reine Verhaltenspflicht sei und Deutschland alles Mögliche getan habe, um den NSU-Komplex aufzuklären. Selbst wenn der EGMR aber Unzulänglichkeiten der Ermittlungen feststellen würde, ist es keineswegs ausgemacht, dass er so weit gehen würde, Deutschland zu erneuten Ermittlungen unter Aufsicht des Ministerkomitees zu verurteilen.
“Nach heutigem Stand könnten die Nebenkläger*innen aber gut begründen, warum Deutschlands Ermittlungen im NSU-Komplex gegen die EMRK verstoßen haben.”
Solche Aussagen, ohne selbst auch nur eine einzige Seite der bisherigen Ermittlungsakten gesehen zu haben und ohne zu wissen, was für Ermittlungsverfahren derzeit noch laufen, sind doch einfach nur Humbug.
Die gleiche Argumentation habe ich in zwei Artikeln von 2016 für den Verfassungsblog und die HRRS vertreten:
https://staging.verfassungsblog.de/skandal-ohne-oeffentlichen-aufschrei-verfassungsschutz-hat-im-nsu-komplex-vorsaetzlich-akten-vernichtet/
https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/16-03/index.php?sz=8