16 September 2015

Der Umbau der europäischen Sozialbürgerschaft: Anmerkungen zum Urteil des EuGH in der Rechtssache Alimanovic

 

Die Unionsbürgerschaft verspricht eine gleiche Bürgerschaft auf der Basis wechselseitiger sozialer Inklusion. Ihre solidarische Dimension ist jedoch aktuell umstritten (hier und hier). Im Kern geht es um die Frage, unter welchen Bedingungen Unionsbürger*innen Anspruch auf gleichberechtigten Bezug von beitragsunabhängigen Sozialleistungen haben, also darum, wer wem wieviel Solidarität schuldet. Nachdem der EuGH bereits entschieden hat, dass ein Ausschluss zulässig ist, wenn die Einreise „allein mit dem Ziel“ erfolgt, Sozialleistungen zu beziehen (Rs. C-333/13, Dano), folgt nun der nächste Schritt: In der Rs. Alimanovic (C-67/14) hat der EuGH gestern entschieden, dass die Mitgliedstaaten Sozialleistungen sogar gegenüber arbeitssuchenden Unionsbürger*innen verweigern dürfen. Dies hat gravierende Auswirkungen auf die solidarische und inklusive Dimension der Unionsbürgerschaft. Es wirft die Frage auf, ob die unionsbürgerschaftliche Freizügigkeit zu einem Privileg gut situierter Unionsbürger wird.

Arbeitssuche schützt vor Ausschluss nicht – Die Rechtssache Alimanovic

In der Rechtssache Alimanovic ging es um die schwedische Staatsangehörige Nazifa Alimanovic und ihre vier Kinder. Frau Alimanovic und ihre älteste Tochter waren seit Juni 2010 jeweils kurzzeitig in Deutschland erwerbstätig. Seit Mai 2011 waren sie arbeitslos und bezogen zunächst Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II (auch bekannt als „Hartz IV“ oder ALG II), bevor das zuständige Jobcenter die Bewilligung aufhob. Nachdem das SG Berlin die Leistungsverweigerung durch das Jobcenter für rechtswidrig befunden hatte, wurde der Fall vor dem Bundessozialgericht verhandelt. Unstreitig war, dass die Kläger sich zum Zeitpunkt der Aufhebung der Bewilligung nicht mehr auf ein Aufenthaltsrecht als Erwerbstätige berufen konnten, jedoch als Arbeitssuchende freizügigkeitsberechtigt waren. Das Bundessozialgericht legte dem EuGH daher die Fragen vor, ob der automatische Leistungsausschluss arbeitssuchender Unionsbürger*innen nach dem 2. Sozialgesetzbuch (§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II) mit dem Gleichbehandlungsansprüchen aus der Verordnung (EG) Nr. 883/2004, dem Primärrecht und der Unionsbürgerrichtlinie vereinbar sei. Aus Sicht des Bundessozialgerichts dient die Grundsicherung nach dem SGB II neben der Existenzsicherung auch dazu, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern. Deshalb fragte es sich insbesondere, ob ein automatischer Ausschluss mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit vereinbar sei (dazu: Farahat, NZS 2014, S. 490).

Der EuGH hat nun entschieden, dass die Mitgliedstaaten Unionsbürger*innen auch dann von beitragsunabhängigen Sozialleistungen ausschließen dürfen, wenn sie arbeitssuchend sind und aufgrund der Arbeitssuche ein Aufenthaltsrecht haben (Rn. 56 f.). Dies gelte selbst dann, wenn die Leistungen auch der Erleichterung der Arbeitssuche dienten (Rn. 43). Während eines Zeitraums von sechs Monaten nach der letzten Beschäftigung sei eine sozialrechtliche Gleichbehandlung geboten (Rn. 53). Danach könnten aufgrund von Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie jegliche Sozialleistungen durch die Mitgliedstaaten verweigert werden (Rn. 58). Lediglich die Ausweisung der Unionsbürger*in sei weiterhin ausgeschlossen, solange diese*r aktiv und nicht völlig aussichtslos Arbeit suche (Rn. 56).

Damit knüpft der EuGH an seine jüngste Rechtsprechung in den Fällen Dano und Brey (C-140/12) an. Erneut stellt er klar, dass jede existenzsichernde, öffentliche Unterstützungsleistung unter den Begriff der „Sozialhilfe“ in Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie zu subsumieren sei (Rn. 44). Ausgenommen seien lediglich Leistungen, deren überwiegender Zweck darin bestehe, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern. Allein der Umstand, dass auch die Arbeitsmarktintegration bezweckt werde, reiche aber nicht aus, um die Qualifikation als „Sozialhilfe“ entfallen zu lassen. Während die Möglichkeit des automatischen Leistungsausschlusses im Fall Dano aber nur Unionsbürger*innen traf, die von ihrer Freizügigkeit „allein mit dem Ziel“ Gebrauch machten, in einem anderen Mitgliedstaat Sozialleistungen zu beziehen, ging es in Alimanovic um Unionsbürger*innen, die mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit suchten. Immerhin hatten Frau Alimanovic und ihre Tochter ja auch immer wieder in Deutschland gearbeitet. Der EuGH erweitert so nochmals die Möglichkeiten, Unionsbürger*innen vom Sozialleistungsbezug auszuschließen. Dies verändert neuerlich und nachteilig die Konzeption der Unionsbürgerschaft als inklusive und identifikationsstiftende Bürgerschaft.

Problematische Kopplung von Aufenthaltsrecht und sozialer Gleichbehandlung

Schon im Urteil Dano deutete sich an, was der EuGH nunmehr explizit vollzieht: Der sozialrechtliche Gleichbehandlungsanspruch, der sich aus der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ergibt, steht unter dem Vorbehalt eines Aufenthaltsrechts aus Art. 7 der Unionsbürgerrichtlinie. Das setzt voraus, dass die betreffende Person keine Sozialleistungen bezieht. Ein Aufenthaltsrecht für nicht erwerbstätige Personen sieht die Unionsbürgerrichtlinie nämlich nur unter der Voraussetzung vor, dass die Unionsbürger*in über ausreichende Existenzmittel und Krankenversicherungsschutz verfügt. Diese Voraussetzung würde nach Ansicht des EuGH leerlaufen, wenn der sozialrechtliche Gleichbehandlungsanspruch nicht an das Aufenthaltsrecht geknüpft würde (Rn. 50; so bereits im Urteil Dano, Rn. 79).

Die Verknüpfung sozialrechtlicher Gleichbehandlung ignoriert nicht nur die Eigenlogik und historische Kompromissbildung im koordinierenden EU-Sozialrecht. Sie schwächt zugleich die Bedeutung primär- und sekundärrechtlicher Aufenthaltsrechte jenseits der Unionsbürgerrichtlinie, in dem sie die sozialrechtliche Gleichbehandlung allein an das Aufenthaltsrecht aus der Unionsbürgerrichtlinie knüpft. Der EuGH geht in seiner gestrigen Entscheidung nämlich davon aus, dass kein anderes Aufenthaltsrecht (z.B. aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Art. 45 AEUV) einen sozialrechtlichen Gleichbehandlungsanspruch begründet. Das steht in Spannung zur früheren Rechtsprechung des Gerichtshofs, die stets anerkannt hatte, dass sich ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht aus verschiedenen primär- und sekundärrechtlichen Bestimmungen ergeben kann (zuletzt: Urteil Dias, Rn. 48). Sozialrechtliche Gleichbehandlung folgt inzwischen nur noch aus einem Aufenthaltsrecht aus Art. 7 der Unionsbürgerrichtlinie. Zwar gilt wegen Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Unionsbürgerrichtlinie weiterhin, dass die Mitgliedstaaten Arbeitssuchende auch dann nicht ausweisen dürfen, wenn sie im Aufenthaltsstaat noch nicht gearbeitet haben oder länger als sechs Monate arbeitslos sind. Ein Aufenthaltsrecht steht ihnen also zu. Allerdings dürfen ihnen in diesem Fall jegliche Sozialleistungen im Aufenthaltsstaat verweigert werden (Urteil Alimanovic, Rn. 57 f.). Es liegt auf der Hand, dass diese Lösung die Gefahr einer dauerhaften sozialen Exklusion im Aufenthalts-Mitgliedstaat produziert. Unionsrechtlich ist es nun nämlich möglich, dass Unionsbürger*innen in ihrem Aufenthalts-Mitgliedstaat zwar nicht ausgewiesen werden dürfen, allerdings keinen Anspruch auf soziale Inklusion haben.

Diese Lücke wird in Deutschland künftig verfassungsrechtlich zu schließen sein. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz bereits klargestellt, dass „migrationspolitische Erwägungen […] von vorneherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das […] Existenzminimum rechtfertigen“ können. Vor diesem Hintergrund erscheint es unwahrscheinlich, dass sich der automatische Leistungsausschluss arbeitssuchender Unionsbürger*innen mit dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum vereinbaren lässt. Zu denken ist etwa an einen Anspruch auf Leistungen analog AsylbLG oder aber die Finanzierung einer „Rückreise“ in den Anwendungsbereich eines Leistungsanspruchs.

“Transparenz” statt Solidarität: Widersprüche zur Arbeitnehmerfreizügigkeit

Die Kopplung von Aufenthaltsrecht und sozialrechtlichem Gleichbehandlungsanspruch ist zudem problematisch, weil sie die Verschränkung von Unionsbürgerfreizügigkeit und Arbeitnehmerfreizügigkeit missachtet. Bisher hatte der EuGH bei Leistungen, die zumindest auch der Erleichterung des Zugangs zum Arbeitsmarkt dienten, stets die besondere Bedeutung der Freizügigkeit für die Verwirklichung des Binnenmarktes betont. Weil arbeitssuchende Unionsbürger*innen auch von der primärrechtlichen Arbeitnehmerfreizügigkeit profitieren, durften arbeitsmarktbezogene Sozialleistungen davon abhängig gemacht werden, dass eine „tatsächliche Verbindung“ zum Arbeitsmarkt besteht (Urteil Vatsouras und Koupatantze). Ob eine solche Verbindung besteht, war regelmäßig im Einzelfall zu prüfen, so dass ein automatischer Ausschluss untersagt war.

Dieses Kriterium hat im Fall Alimanovic auch Generalanwalt Wathelet seinen Schlussanträgen zugrunde gelegt. Seiner Ansicht nach ist der automatische Leistungsausschluss im deutschen Recht unionsrechtswidrig, weil er keinerlei Raum für eine individuelle Prüfung der „tatsächlichen Verbindung“ zum Aufenthaltsstaat im Einzelfall lässt. Eine solche Prüfung hält der Generalanwalt aber zumindest dann für erforderlich, wenn die Unionbürger*in zuvor bereits in den Arbeitsmarkt integriert war (Schlussanträge, Rn. 107 ff.). Der EuGH hebelt dieses Argument nun dadurch aus, dass er zwar grundsätzlich das Erfordernis anerkennt, die „Umstände des Betreffenden“ zu berücksichtigen. Eine individuelle Prüfung im Einzelfall hält er jedoch hier für entbehrlich, weil dies bereits durch das abgestufte System der Erwerbstätigeneigenschaft in der Unionsbürgerrichtlinie gewährleistet sei. Die klaren Regelungen, wann die Erwerbstätigeneigenschaft und damit der sozialrechtliche Gleichbehandlungsanspruch verloren gehen, ermöglichten „es den Betroffenen, ihre Rechte und Pflichten eindeutig zu erfassen“. Sie würden daher zu einem „erhöhten Maß an Rechtssicherheit und Transparenz“ beitragen und seien folglich verhältnismäßig (Rn. 61). Der EuGH ist offenbar der Auffassung, transparente Rechte und Pflichten könnten ein individuelles Prüfungsverfahren ersetzen. Und nicht nur das: Er setzt die möglichen Interessen der Betroffenen kurzer Hand mit Transparenz und Rechtssicherheit gleich. Ganz so, als habe es seine eigene Rechtsprechung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit nie gegeben. Bislang zählten zu den Bedürfnissen der Betroffenen nämlich vor allem die familiären, sozialen und wirtschaftlichen Bindungen zum Aufenthaltsstaat.

Transnationale soziale Rechte als Gebot der Stunde

Das gestrige Urteil birgt die Gefahr, in hohem Maße desintegrativ zu wirken und die soziale Exklusion der ärmsten Unionsbürger*innen auf Dauer zu stellen. Damit rüttelt es an der Grundidee der Unionsbürgerschaft als „grundlegendem Status“ aller Unionsbürger*innen, die inklusiv und vor allem identifikationsstiftend wirken sollte. Zur Verwirklichung der inklusiven Dimension sieht das koordinierende Sozialrecht den ad hoc-Einbezug von Unionsbürger*innen in die Sozialsysteme des Aufenthaltsstaates vor. Damit verwirklicht die Unionsbürgerschaft eine konkrete Form transnationaler Solidarität unter Unionsbürgern. Die wechselseitige Pflicht zur finanziellen Unterstützung dient dem gemeinsamen Ziel, die europäische Einigung zu einer geteilten sozialen Erfahrung zu machen und ökonomisch zum Vorteil aller zu gestalten. Identifikation mit dem politischen Projekt der europäischen Integration kann die Unionsbürgerschaft nur leisten, wenn sie kein Privileg gut ausgebildeter und wohlhabender Unionsbürger*innen ist. Gerade weil die Unionsbürgerschaft keine „soziale Imagination“ bleiben darf, müssen auch faktisch alle Unionsbürger*innen von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen können. Inklusiv wirkt die Unionsbürgerschaft nicht zuletzt durch den progressiven Ausbau subjektiver Teilhaberechte. Wenn dagegen einer Unionsbürger*innen, die seit fünf Jahren in Deutschland leben, hier gearbeitet haben und deren Kinder in Deutschland zur Schule gehen jegliche Sozialleistungen verweigert werden dürfen, wird die Idee innereuropäischer Mobilität ad absurdum geführt. Erfolg verspricht die europäische Integration zudem nur, wenn sie nicht zur dauerhaften Exklusion verarmter Bevölkerungsschichten führt. Denn deren Notlage würde nicht nur die unions-interne soziale Ungleichheit verschärfen, sondern auch politischer Instabilität Vorschub leisten. Soziale Teilhaberechte für zeitweise ökonomisch inaktive Unionsbürger*innen sind also keineswegs ein Luftschloss optimistischer Gutmenschen, sondern das politische Gebot der Stunde für eine politisch erfolgreiche Fortsetzung der europäischen Integration.


3 Comments

  1. Peter Camenzind Wed 16 Sep 2015 at 19:26 - Reply

    Könnte es sein, dass (mittelose) Nicht-EU-Bürger nun de facto teils mehr Niederlassungswahl(freiheit) zukommen kann, als (mittelosen) EU-Bürgern, d.h. also (mittelose) EU-Bürgern de facto gegenüber (mittelosen) Nicht-Eu-Bürgern benachteiligt sein können, und würde dies der europäischen Idee entsprechen?

  2. Anna Nym Wed 16 Sep 2015 at 20:52 - Reply

    @Peter: Nein, die Gefahr besteht nicht. Die mittellosen EU-Bürger, von denen Sie sprechen, müssen lediglich in Deutschland als Asylbewerber anerkannt werden, dann stehen nicht besser und nicht schlechter als die Nicht-EU-Bürger, von denen Sie sprechen.

  3. Rachel Sun 9 Oct 2016 at 18:25 - Reply

    Ich schreibe momentan eine juristisches Essay zu dem Thema. Woher haben Sie Ihre Quellen?
    Vielen Dank!

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