08 July 2014

Der unendliche Raum der Geselligkeit

Wir haben alle das Recht, uns „in einem das Zusammenleben erleichternden Raum der Geselligkeit zu bewegen“. So hat es die Große Kammer des EGMR am vergangenen Dienstag entschieden und daraus die Zulässigkeit des französischen „Burka-Verbots“ abgeleitet (zu der eigenwilligen Argumentation des Gerichts ist schon viel Kluges geschrieben worden, insbesondere hier, hier und hier).

Ein Raum der Geselligkeit, in dem ich meinem Gegenüber ins Gesicht schauen kann – das klingt erst einmal schön, zumal in Zeiten der Fußballweltmeisterschaft, in denen sich Menschen allerorten zu großen Geselligkeitsgelagen zusammenfinden. Fragt sich nur, wo dieser Raum beginnt und – vor allem – wo er endet.

Eine Grenze hat der EuGH in seinem Google-Urteil aufgezeigt: Es gibt keinen Anspruch auf ein ganzheitliches Bild von jedermann. Vielmehr kann der Einzelne verlangen, dass das Profil, welches die Google-Namenssuche von ihm zeichnet, korrigiert wird. Sein Persönlichkeitsrecht gibt ihm die Hoheit darüber, wie er in der Öffentlichkeit erscheinen möchte – sein wahres Gesicht muss er nicht zeigen.

Eine andere Grenze hat jüngst der BGH gezogen. Am vergangenen Dienstag – und somit am selben Tag wie der EGMR in Sachen Burka – entschied der VI. Zivilsenat, dass ein Arzt, der Opfer einer negativen Bewertung in einem Internetportal geworden war, vom Portalbetreiber nicht verlangen kann, die Identität des Nutzers preiszugeben. Zwar ist der Betreiber verpflichtet, den Eintrag zu löschen, der Urheber darf aber anonym bleiben. So steht es im Telemediengesetz, das ausdrücklich vorschreibt, die Nutzung von Internetdiensten anonym oder pseudonym – also unter Nutzung eines Decknamens – zu ermöglichen (§ 13 VI TMG). Im Internet haben die Nutzer also das Recht, ihre Identität zu verschleiern oder zumindest ein wenig rosiger erscheinen zu lassen.

Im analogen öffentlichen Raum gilt hingegen: Der Bürger hat Gesicht zu zeigen.Technische Vorkehrungen, die den Einzelnen im öffentlichen Raum nicht als unterscheidbare Person in Erscheinung treten lassen (so Johan Schloemann in der Süddeutschen Zeitung), verhindern dies – und stehen dem citoyen folglich nicht gut zu Gesicht. Sie mögen zwar, das gestand auch der EGMR zu, Ausdruck einer kulturellen Identität sein – was im Übrigen am ehesten die religiöse Verschleierung für sich in Anspruch nehmen dürfte, nicht hingegen profane Formen der Vermummung und schon gar nicht die Nutzung von Phantasienamen im Internet. Um aber die „Mindestvoraussetzungen gesellschaftlichen Zusammenlebens“ zu schaffen, darf der Staat seine Bürger vor der Konfrontation mit eben dieser Identität schützen. Kurzum: Im Raum der Geselligkeit hat jeder einen Anspruch darauf zu wissen, mit wem er es zu tun hat – hinter dem Recht, dem anderen ins Gesicht zu sehen, verbirgt sich der Anspruch auf Identifizierbarkeit. Im Sinne des vivre ensemble wird das Recht auf Selbstbestimmung, auf Selbstdarstellung im öffentlichen Raum damit ausgesetzt – wer die Privatheit seines Eigenheims verlässt, der begibt sich auf die Agora, und hat seinen Mitmenschen im Sinne des idéal de fraternité zu begegnen – offen und stets zu Kommunikation bereit. Wer sich dem entzieht, wer sein Gesicht verschleiert, nicht alles offenlegt, nicht ständig kommuniziert und partizipiert, der macht sich verdächtig – denn der gute citoyen hat nichts zu verbergen.

Und diese Logik macht dann auch an der virtuellen Grenze nicht halt – ganz im Gegenteil: zwar mag es erlaubt sein, sich anonym im Netz zu bewegen, wenn man es tut – noch dazu systematisch – hat man aber neuerdings die NSA am Hals. Auch das Internet scheint also keinen Rückzug vor dem omnipräsenten Transparenz- und Geselligkeitswahn zu bieten.

Sicher: Die Demokratie ist für ihr Funktionieren darauf angewiesen, dass ihre Bürger_innen sich beteiligen, dass es Menschen gibt, die Gesicht zeigen und bereit sind, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen. Insofern hat Johan Schloemann recht – ganz ohne vivre ensemble geht es nicht. Aber in der Demokratie kann eben niemand zu Partizipation gezwungen werden, die Demokratie kann nur Angebote machen – ob und wie der Einzelne sie wahrnimmt, entscheidet er selbst.

Das Dogma vom Raum der Geselligkeit macht aber genau das Gegenteil: Es verpflichtet allweil zu kommunikativer Offenheit und Teilnahme am vivre ensemble. Und stellt dabei noch klare Regeln auf: Verhüllte oder pseudonyme Partizipation ist unerwünscht, Non-Kommunikation und Verweigerung scheiden als Formen der Beteiligung von vornherein aus – sie passen nicht zu den Mindestvoraussetzungen gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Wer diese Voraussetzungen festlegt? Die jeweilige Mehrheit, schließlich sind wir alle Demokraten. Eine demokratische Gesellschaft aber zeichnet sich nicht allein durch die Mehrheitsregel aus, sondern auch durch den Schutz von Minderheiten. In ihr besteht gerade kein Anspruch darauf, nicht mit Verhaltensweisen, Meinungen und Lebensformen konfrontiert zu werden, die nicht gefallen, stören oder gar schockieren (so auch die EGMR-Richterinnen Nußberger und Jäderblom in ihrem Sondervotum). Es gibt, wie es das BVerfG in seiner Fraport-Entscheidung so schön formuliert, kein Recht auf eine „Wohlfühlatmosphäre“ im öffentlichen Raum, auf ein „vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt“ – weder auf der Konsummeile eines Flughafens noch in einem wild um sich greifenden, omnipräsenten Raum der Geselligkeit und schon gar nicht, wenn das Elend sich zunächst einmal nur in den Köpfen der Betrachter abspielt – und damit in erster Linie Ausdruck von Befremden gegenüber Lebensentwürfen ist, die von dem der Mehrheitsgesellschaft abweichen.

Mit dem wohlklingenden, ja poetisch anmutenden Raum der Geselligkeit hält folglich ein Gesellschaftskonzept Einzug, das jede Form von Privatheit im öffentlichen Raum negiert und der Mehrheitsgesellschaft erlaubt, es sich im eigenen Lebensstil gemütlich zu machen – unendlich und unheimlich.

Dieser Artikel ist im Rahmen des Seminars “Einführung ins rechtswissenschaftliche Bloggen” an der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden.


One Comment

  1. Peter Camenzind Fri 15 Aug 2014 at 18:19 - Reply

    Was der EuGMR als “einen das Zusammenleben erleichternden Raum der Geselligkeit” bezeichnet, fällt in Deutschland m.E. unter etwas wie “negative Religiosfreiheit” o.ä.
    In Deutschland nimmt man eher an, dass die negative (Religions-)Freiheit im Konflikt mit anderen (Grund-)Rechten grundsätzlich (durch beiderseitiges Nachgeben) in Ausgleich zu bringen ist.
    Dass ausschließlich die negative (Religions-)Freiheit andere (Grund-)Rechte im Konflikt überwiegen soll, scheint hier dagegen eher weniger bekannt.
    Vor diesem Hintergund (deutscher Grundrechtsdogmatik) könnte die “Burka-Rspr.” des EuGMR also nicht ganz unproblematisch erscheinen.

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08 July 2014

Living together in an infinite space of socialisation

The European Court of Human Rights (ECtHR) recently decided, that we all have the right to live in a “space of socialisation which makes living together easier“. Thus stated by the ECtHR in the case of S.A.S. v. France whereby it found that the French „Burqa ban“ does not violate the European Convention on Human Rights (ECHR).

Imagine a space of socialisation with the “possibility of open interpersonal relationships“ – doesn’t that sound wonderful? It might do so at first sight. But on closer inspection, it suddenly becomes a space of full disclosure and rather terrifying, especially since it is entirely unclear where this space begins and where it ends.

One line has already been drawn by the European Court of Justice (ECJ) in its judgement on the right to be forgotten: individuals have a right to control their data and can ask Google to delete personal information from search results. Meaning that no one is obliged to a full and frank disclosure on the internet.

Another limit has recently been set by the German Federal Court of Justice (FCoJ) in its judgement concerning the demand against an online review platform to disclose the identity of its users. It stated that there is no such duty, quite the contrary: the relevant legislation forces the operators to provide anonymous or pseudonymous options. Thus, on the internet the individual has the right to hide his/her identity or to polish it a little. On the internet, it seem, you can be, or pretend to be anybody you want.

The opposite seems to be true in the real world. The ECtHR rules that, in public space, every individual has to show his or her face because “the face plays an important role in social interaction“. Thus, provisions that do not allow the distinction of an individual do not suit the citoyen. Although the ECtHR admits that such provisions might be “the expression of a cultural identity“ (which might be true for the burqa but surely not for profane forms of mummery or the use of a pseudonym), it is willing to accept that citizens must be protected from confronting identities “perceived as strange by many of those who observe it“.

With the creation of a space of socialisation where everybody knows who walks the streets, the right of self-determination as well as the right to respect for private life is effectively suspended. As soon as we leave the privacy of our homes, we enter the Agora and have to meet our fellow citizens in the spirit of fraternity. Withdrawal, veiling and non-participation are considered suspicious behaviour, as any good citizen has nothing to hide and nothing to conceal. Ironically, this logic also applies to the internet. Though it might be legal to remain anonymous while browsing the web, whoever does so runs the risk of being observed by the NSA. Thus, in reality, even the internet doesn’t provide protection against the omnipresent space of socialisation.

It is certainly true that democracy depends on the active contribution of the citizens and on people willing to take responsibility for each other and for society as a whole. To this effect, at least a little living togetheris required. But democracy cannot and should not force citizens to participate. It can only create such choices. In the ECtHR’s space of socialisation,however, citizens are not only forced to communicate and participate, but there also seem to be clear rules of how to participate: veiled or pseudonymous participation aren’t welcome as they do not adhere to the “minimum requirements of life in society“.

Those requirements are left to be defined by the respective majority. Democracy, however, isn’t only about majority rule. It is also about protecting minorities and enabling diversity. In a democratic society “there is no right not to be shocked or provoked by different models of cultural or religious identity“ (see the partly dissenting opinion of judges Nußberger and Jäderblom). There is no right to a “feel-good-atmosphere“. (see the judgement of the German Federal Constitutional Court in the case of the Frankfurt Airport). And society is more than a space reserved exclusively for the preferences of the mainstream.

Thus, behind the space of socialisation and far-fetched ideas of living together hides a view of society which allows majorities to define the public space … infinitely. Beware!

 

 


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