17 October 2014

„Der verfassungsgebende Prozess in Ruanda war sehr wichtig für die nationale Versöhnung“

Im Jahre 2003 hat sich Ruanda eine neue Verfassung gegeben. Was war der Hauptgrund hinter der neuen Verfassung und welche politischen Prozesse gingen ihr voraus?

Ruanda hatte eine alte Verfassung seit ihrer Unabhängigkeit im Jahre 1961, die über die Zeit mehrfach geändert worden war. Diese Verfassung war nicht besonders modern. Angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen, die während des Genozids 1994 begangen wurden, bestand in der Bevölkerung der Wunsch nach einer neuen Verfassung, die in ihrer politischen Anlage von der Gesamtbevölkerung akzeptiert werden konnte. Es gab ein Bedürfnis nach einer demokratischen Verfassung mit integrierender Funktion, die rechtsstaatliche Institutionen, insbesondere eine unabhängige Justiz und die Gewaltenteilung, schützt. In der Verfassung von 2003 findet sich neben einem umfassenden Menschenrechtskatalog auch ein Abschnitt zur Demokratie und demokratischen Prozessen sowie zur Gewaltenteilung und zu den Rechten des Parlaments. Das vorrangige Ziel war vor allem ein umfassender Menschenrechtsschutz, ein Novum in Ruanda.

Sind also Gewaltenteilung und unabhängige Justiz Ihrer Meinung nach die wichtigsten Elemente, um Menschenrechtsschutz zu gewährleisten?

Ja, aber neben einer unabhängigen Justiz war vor allem ein umfassendes System wechselseitiger Kontrolle und klarer Kompetenzabgrenzungen (checks and balances) die wirkliche Innovation. Einige der menschenrechtlichen Bestimmungen gab es bereits in der alten Verfassung, wie zum Beispiel den Gleichheitsgrundsatz. Aber diese Rechte hatten nur geringe Bedeutung; sie wurden nicht beachtet und es gab keine Mechanismen, die ihre Umsetzung gesichert hätten. Solche Umsetzungsmechanismen gibt es jetzt in der neuen Verfassung, etwa im Bereich der Geschlechtergerechtigkeit: Geschlechtergerechtigkeit wird nicht einfach als Prinzip in der Verfassung verkündet, sondern die Verfassung sieht auch eine Gender-Monitoring_Stelle als Einrichtung des öffentlichen Rechts vor. Die Verfassung hat außerdem die Nationale Menschenrechtskomission ins Leben gerufen. Das sind nur zwei Beispiele, wie der Respekt für und die Umsetzung von Menschenrechten institutionell abgesichert werden. Eine weitere wichtige Bestimmung betrifft die Regierungsbildung. Die Regierungspartei darf maximal die Hälfte der Mitglieder im Kabinett (Ministerrat) stellen. Ruanda war zuvor ein Ein-Parteien-Staat. Die neue Verfassung hat die Tür zu politischem Pluralismus geöffnet.

Der Abschnitt zu Menschenrechten beginnt mit Artikel 10, nach dem die menschliche Person heilig und unverletzlich ist. Zeigt sich hier ein gewandeltes Verständnis von Menschenrechten?

Artikel 10 markiert eine klare Abkehr von den Gräueltaten, die 1994 begangen wurden. In der Verfassung finden sich verschiedene Bestimmungen, etwa die Präambel, die sich unmittelbar auf den Genozid beziehen und die sich klar gegen die Ideologie richten, die hinter dem Genozid steht, Bestimmungen, die die Verjährung von Genozidverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hemmen. All das bedeutet einen Neuanfang, eine klare Abkehr davon, Genozid und andere schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit ungestraft zu lassen.

Sie waren Teil der vorbereitenden Kommission, die einen Entwurf für die neue Verfassung vorlegte. Wie arbeitete diese Kommission?

Ich war kein Vollmitglied der Kommission, aber ich habe als Rechtsberater mit der Kommission gearbeitet. In der Kommission saßen Juristen, Politiker und andere Vertreter verschiedener Bevölkerungsgruppen – es handelte sich nicht um eine reine Rechtsexpertenveranstaltung. Es ging darum, eine möglichst integrative Verfassung zu gestalten, mit einem Text, in der sich die Bevölkerung wiederfinden konnte. Die Beratungen dauerten mehrere Jahre an: die Kommission traf und beriet sich mit verschiedenen Gruppen in der Bevölkerung, etwa mit Vertretern der Wissenschaft, der Kirchen, der Nichtregierungsorganisationen. All diese Gruppen waren eingeladen, Vorschläge während des Beratungsprozesses zu unterbreiten. Zu einzelnen Fragen wurde das Einverständnis dieser Vertreter explizit eingefordert. Nachdem ein erster Entwurf erstellt war, organisierte die Kommission öffentliche Treffen in einzelnen Gemeinden, in denen die lokale Bevölkerung dazu eingeladen war, verschiedene Teile der Verfassung zu diskutieren. 2003 wurde die Verfassung schließlich per Referendum angenommen.

Die Verfassung enthält sehr ausführliche Bestimmungen zu der Rolle des Obersten Gerichtshofs – der Gerichtshof ist nicht nur letztinstanzliches Gericht, sondern ist auch für die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit zuständig. Inwieweit war die Rolle des Obersten Gerichtshofs Gegenstand der öffentlichen Debatte, bevor die Verfassung angenommen wurde?

Die Rolle der Justiz wurde recht ausführlich diskutiert, denn das Justizwesen wurde sehr grundlegend verändert. Nachdem die Verfassung in Kraft getreten war, wurde die gesamte Judikative umfassend reformiert. Unter der alten Verfassung hatte Ruanda ein dem französischen System ähnliches Kassationssystem. Das Kassationsgericht war zwar oberstes Gericht, konnte aber nicht in materiellen Rechtsfragen entscheiden. Seine Rolle war auf die Überprüfung von Prozessrecht beschränkt und konnte allenfalls Fälle an die unteren Instanzen zurückverweisen. Daraus ergaben sich viele Probleme, vor allem mit Blick auf die Dauer der Verfahren, die oft endlos schienen, weil viele Fälle zwischen verschiedenen Obergerichten und dem Kassationsgericht hin und her geschickt wurden. Es gab also eine bewusste Entscheidung, die Struktur der Judikative zu ändern und ein oberstes Gericht einzuführen, das nicht nur auf prozessrechtliche Fragen beschränkt ist, sondern auch über Tatsachen entscheiden und so Rechtsstreitigkeiten endgültig beilegen kann. Das gesamte Prozessrecht hat sich mit der neuen Verfassung vollständig gewandelt.

Die verfassungsrechtlichen Überprüfungsmöglichkeiten sind ebenfalls neu. Unter dem alten System gab es ausschließlich eine Überprüfung a priori, also vor der Verabschiedung eines Gesetzes. Heute kann die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes nur a posteriori überprüft werden, also nachdem das Gesetz in Kraft getreten ist, und jede betroffene Einzelperson kann die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes überprüfen lassen. Es gibt auch eine konkrete Normenkontrolle: befindet ein Untergericht, dass es einen Fall nur dann entscheiden kann, wenn über die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Grundlage entschieden wurde, wird das Verfahren ausgesetzt und dem Obersten Gericht zur Entscheidung über die verfassungsrechtliche Frage vorgelegt. Dieses Verfahren wurde, soweit ich weiß, der südafrikanischen Verfassung entnommen, die während des Beratungsprozesses eine von verschiedenen Beispiel-Verfassungen war. Es wurden eine Reihe von Verfassungen in den Prozess einbezogen, aber die südafrikanische Verfassung spielte eine Schlüsselrolle, weil es sich sowohl um eine afrikanische als auch um eine recht neue und moderne Verfassung handelt. Vor allem im Bereich der Grundrechte spielte die südafrikanische Verfassung eine überragende Rolle, weil sie einen sehr zeitgemäßen Grundrechtekatalog enthält, der ähnlich wie in Ruanda darauf abzielt, Diskriminierungsproblemen und Menschenrechtsverletzungen aus Südafrikas jüngerer Vergangenheit zu begegnen. Die ruandische Verfassung von 2003 zielt ebenfalls darauf ab, sicherzustellen, dass Menschenrechtsverletzungen der Art, wie sie Ruandas Vergangenheit zeichnen, nicht mehr toleriert werden.

Welche Rolle spielte der verfassungsgebende Prozess im Rahmen umfangreicherer Bestrebungen nach Übergangsjustiz in Ihrem Land?

Ich glaube, dieser Prozess war sehr wichtig. Der gesamte Ablauf – die Verfassung zu entwerfen, sie dann zu diskutieren und schließlich per Referendum anzunehmen – war sehr wichtig für die Versöhnung und den Aufbau staatlicher Strukturen. In der Verfassung finden sich Bestimmungen zur Streitbeilegung durch Dialog, zur Gewaltenteilung, zur Dezentralisierung, Gacaca-Gerichten, Abunzi Mediationskomitees (Artikel 159), zur Beteiligung von Frauen und jungen Menschen in öffentlichen Angelegenheiten usw. All diese Bestimmungen zielen darauf ab, Inklusion, Verantwortlichkeit und Konfliktvermeidung durch friedliche Streitbeilegung zu fördern. Die Verfassung ist ein starkes Symbol und zugleich Grundlage für sämtliche Gesetze und Aktivitäten, die die Versöhnung fördern. Die Kommission zur nationalen Einheit und Versöhnung in Ruanda ist vielleicht das beste Beispiel, wie die Verfassung die Themen Versöhnung und Aufbau staatlicher Strukturen aufnimmt. Die Kommission wurde durch die Verfassung geschaffen, genau wie die Nationale Menschenrechtskommission und der Nationale Rat des Dialogs (Inama y’Igihugu y’Umushyikirano). Die Verfassung hatte einen spürbaren Einfluss auf den Versöhnungsprozess in meinem Land und ist die Basis für soziale Integration und nationale Erneuerung. Das Ergebnis lässt sich sehen: Ruanda hat es nicht nur geschafft, nach dem Genozid aus dem Abgrund emporzusteigen, sondern wächst schneller als die meisten afrikanischen Staaten.

Fragen und Übersetzung aus dem Englischen von Hannah Birkenkötter


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17 October 2014

“Adopting a new constitution was crucial for national reconciliation”

In 2003, Rwanda adopted a new constitution. What was the main reason behind adopting a new constitution and what political processes preceded its adoption?

Rwanda had had an old constitution since its independence in 1961, which had been changed over time. The previous constitution was not very modern. Given the massive abuse of human rights that took place in 1994 during the genocide, people felt the need for a new constitution that included a political disposition acceptable to all the people. There was a need for a constitution that would be inclusive, democratic and that would ensure institutions to protect the rule of law, especially the separation of powers and an independent judiciary. The 2003 constitution includes a chapter on human rights, a chapter on democracy and democratic processes as well as the separation of powers and parliamentary rights. The purpose of the new constitution was to incorporate a new political disposition that would protect human rights, which was a novelty in Rwanda.

Would you say that the most important feature was the principle of separation of powers and an independent judiciary, to ensure that human rights would be respected?

Yes, but beyond an independent judiciary, a comprehensive set of checks and balances was the real innovation. Some of the human rights provisions were already present in the old constitution, like the principle of equality. But they did not mean anything; they weren’t observed, and there were no processes that would have guaranteed their implementation. In the new constitution, you have provisions ensuring the implementation of these rights. For instance, the new constitution does not only proclaim the principle of gender equality, but also created the Gender Monitoring Office as a public institution. Similarly, the National Human Rights Commission was also created by the constitution. These are just two examples of ensuring institutionally that human rights are respected and implemented. Another important provision relates to the government. The Cabinet (Council of Ministers) cannot be formed by more than 50 % of the ruling party. Previously, Rwanda was essentially a one-party state. The new constitution ensures political pluralism.

The chapter on human rights starts off with Article 10, proclaiming that the human person is sacred and inviolable. To what extent is this provision also an expression of a new understanding of human rights?

It marks a clear departure from the atrocities that happened in 1994. You will find several provisions in the Constitution, including the preamble, that refer directly to the genocide and that commit to never allowing genocide to happen again, that stand against a genocidal ideology, that provide for the crimes of genocide and crimes against humanity to be imprescriptible. This marks a new beginning that clearly marks a departure from impunity for the genocide and other serious crimes against humanity.

You were also part of the preparatory commission that drafted the new constitution. How did the commission work?

I was not a member of the Commission but came in at some point as a legal consultant. The commission itself comprised lawyers, politicians and other representatives – it was not an exclusive matter for lawyers, because the endeavor was designed as an inclusive one, where people could see themselves reflected in the text of the new constitution. The consultative process spanned several years: the commission would meet and consult with different groups, such as academia, members of churches, members of non-governmental organizations, they were all invited to make submissions to the preparatory commissions. Sometimes, their agreement was also sought on some specific questions. After a draft had been produced, the commission organized meetings in various communities, where local people were invited to discuss various parts of the constitution. And ultimately, the constitution was adopted through a referendum in 2003.

The constitution contains quite extensive provisions on the role of the Supreme Court – the Court does not only act as the highest instance, but also has the power to rule on the constitutionality of laws. To what extent was the role of the Supreme Court subject of debate before the constitution was adopted?

There was quite a bit of discussion on the role of the judiciary, because the system changed quite radically. After the Constitution entered into force, the judiciary was thoroughly reformed. Before the new constitution was adopted, Rwanda had the French system of cassation. The cour de cassation was the highest court, but it did not decide cases on the merits. It was confined to procedural matters and then had the possibility to send the case back to lower instances. This created many problems, most notably lengthy proceedings that seemed never-ending, with many cases being sent back and forth between different courts of appeal and the cour de cassation. So there was a deliberate act to change the structure of the judiciary and to create a Supreme Court that could decide not only on legal matters or procedure, but also on facts and dispose of cases finally on the merits. The current system is a complete departure from the old system in terms of procedure.

The constitutionality review is also new. Under the old system, there was only the possibility of an a priori review, i.e. a review before the draft was enacted into law. Nowadays, the constitutionality of a law can only be reviewed a posteriori, in other words, after it has been enacted, and every individual that has a personal interest can put forward that challenge. If a lower instance court finds itself in a situation where it cannot decide the case unless there is a ruling on the constitutionality of the law, proceedings are suspended and the matter is referred to the Supreme Court to determine the constitutional issue. This procedure was, I believe, borrowed from the South African constitution which served as one of the models in the drafting process. Many countries’ constitutions were consulted in the drafting process, but the South African constitution played a key role, because it was both an African constitution and a recent and modern one. The South African constitution played a paramount role especially for the provisions on fundamental rights because of its very contemporary Bill of Rights that was aimed at addressing problems of discrimination and abuse of rights in South Africa’s recent past in a way similar to Rwanda. The Rwanda Constitution of 2003 also aimed at ensuring that the abuses of rights that characterized its past would not be tolerated.

To what extent did the constitutional process play into the greater context of transitional justice in your country?

I believe it played a very important role. The entire process of drafting a constitution, of debating it and then ultimately adopting it through a referendum, played an important role in reconciliation and nation-building. You find in the constitution provisions on the resolution of conflicts through dialogue, on power sharing, greater decentralization, Gacaca Courts, Abunzi Mediation Committees (Article 159), on promotion of involvement of women and youth in public affairs etc. These provisions are all intended to foster inclusion, accountability and avoidance of conflict through the resolution of conflict through peaceful means. The Constitution is a strong symbol, but also the foundation of all the laws and activities that foster reconciliation. The National Unity and Reconciliation Commission in Rwanda is maybe the best example of constitutional preoccupation with reconciliation and nation-building. It is a constitutional creature and so are the National Human Rights Commission and the National Dialogue Council (Inama y’Igihugu y’Umushyikirano). The constitution has had a very concrete impact on the reconciliation process in my country and has been a foundation for social integration and national renewal. As a result, Rwanda has not only risen from the abyss after the Genocide but is growing faster than most states in Africa.

Questions by Hannah Birkenkötter. German Translation: here


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  1. […] und Übersetzung aus dem Englischen von Hannah […]

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