Der Wille des Volkes
Zur aktuellen russischen Verfassungsreform
Die sogenannte Verfassungsreform in Russland geht weit über die bloße Amtszeitverlängerung Putins hinaus. Sie stärkt die präsidentielle Macht und schreibt die Verfassungspraxis und die zentralen Rechtfertigungstopoi Putins als Aufträge an die Regierung in der Verfassung fest. Während die russische Verfassung von 1993 im Hinblick auf Freiheitsrechte und Gewaltenteilung zuletzt weitgehend nur auf dem Papier existierte, wird dieses Papier nun an die Realität angepasst.
Pandemie und Verfassungsreform
In zahlreichen Staaten der Welt erfahren Freiheitsrechte gegenwärtig Beschränkungen, die mit der COVID 19-Pandemie gerechtfertigt werden. Die höchst problematische russische Verfassungsreform begann schon vor dem akuten Auftreten der Pandemie, wurde dadurch aber zunächst massiv begünstigt. Aus Gesundheitsschutzgründen konnten Demonstrationen nicht stattfinden. Außerdem wurde das zu diesem Thema von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats angeforderte Gutachten der Venedig-Kommission nicht veröffentlicht, nachdem die März-Sitzung der Kommission aufgrund der Pandemie nicht stattfand. Zwar kann man argumentieren, dass das Gutachten kaum Neues gebracht hätte, da es nur auf die Frage zielte, wie die Verfassungsänderung im Hinblick auf das Verhältnis zum Völkerrecht zu bewerten ist. Diese Frage war jedoch bereits mit dem Gutachten vom 15.3.2016 kritisiert worden, auch wenn die Bedingungen für die Umsetzung von Entscheidungen internationaler Gerichte damals noch nicht ausdrücklich in der Verfassung niedergelegt waren, wie dies nun vorgesehen ist. Gleichwohl wäre die in dem erneuten Gutachten der Venedig-Kommission zu erwartende Kritik eine wesentliche Grundlage für eine Stellungnahme des Europarats gewesen, der bisher, wie seine Mitgliedsstaaten, zu den massiven Problemen der russischen Verfassungsreform schweigt.
Tatsächlich verlief der Reformprozess extrem schnell und undurchsichtig. Politisch hatten sich die Intentionen allerdings längst abgezeichnet. Es war deutlich, dass die Verfassungsreform darauf zielte, Putins Macht über die zwei von der Verfassung vorgesehenen Amtszeiten zu verlängern. Die Ansprache Putins an die Föderalversammlung vom 15.1.2020 hatte zunächst suggeriert, dass der Staatsrat mit zusätzlicher Macht ausgestattet würde, um Putin mit dem Staatsratsvorsitz eine neue wichtige Funktion zu schaffen. Doch Putin hatte dies bald selbst wieder ausgeschlossen.
Das „Zeroing“
Vorgeschlagen wurde letztlich eine Ausnahmeregelung zur Amtszeitbeschränkung, die die Zählung der Amtszeiten für bisherige Präsidenten auf null setzt. Das ermöglicht Putin, bis in das Jahr 2036 Präsident zu bleiben. Nachdem Putin immer wieder betont hatte, an der Amtszeitbeschränkung des Präsidenten festhalten zu wollen und diese grundsätzlich durch die aktuelle Reform auch noch gestärkt wird (Streichung von „in Folge“, so dass insgesamt nur noch zwei Amtszeiten möglich sind), ist das sog. „Zeroing“ eine wenig elegante Form der Machtsicherung. Vor allem ist der Änderung die russische Verfassung entgegenzuhalten. Das russische Verfassungsgericht hatte in einer Entscheidung im Jahr 2002 aus dem Prinzip der republikanischen Regierungsform die Notwendigkeit von demokratischem Wechsel und personeller Erneuerung, von Gewaltenteilung in temporaler Hinsicht abgeleitet. In diese Richtung gehen auch zahlreiche Gutachten der Venedig-Kommission zu präsidentiellen Amtszeitbeschränkungen. Der Bericht aus dem Jahr 2018 betont eindringlich die Gefahr des Amtsmissbrauchs bei fehlender Amtszeitbeschränkung. Sie ist notwendig, um die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte, insbesondere das subjektive Recht auf Wahlen, das auch die russische Verfassung kennt, zu schützen.
Wie zu erwarten war, hat das russische Verfassungsgericht die Verfassungsreform aber gleichwohl am 16.3.2020 bestätigt. Das Verfassungsgericht stützt seine Argumentation auf die überragende Bedeutung der Volksherrschaft, die dem Volk das Recht gibt, in freien Wahlen die Person zu wählen, die es für das Amt des Staatsoberhaupts als „am würdigsten“ erachte. Das Prinzip des demokratischen Rechtsstaats müsse mit dem Prinzip der Volksherrschaft in Ausgleich gebracht werden. Das Verfassungsgericht beruft sich dabei auf eine zentrale Säule der russischen bzw. sowjetischen Verfassungstradition, nach der die Macht des Volkes wesentlich für die Herrschaftslegitimation ist und die Verfassung den jeweiligen Volkswillen nur abbildet. Gerade angesichts der mächtigen Argumente gegen die faktische Aufhebung der Amtszeitbeschränkung stellt es die Entscheidung in die sowjetische Tradition der identitären Demokratie.
Gewaltenteilung
Des Weiteren stützt sich das Verfassungsgericht auf die Behauptung, die Reform diene dazu, die Gewaltenteilung zu stärken. Dies erscheint schon insofern höchst erstaunlich, als gerade das Verfassungsgericht selbst an Unabhängigkeit verliert, auch wenn es nun „höchstes Gericht“ ist. Die Zahl der Richter wird verringert, außerdem können Verfassungsrichter wie andere Richter künftig auf Vorschlag des Präsidenten von der Föderalversammlung u.a. dann entlassen werden, wenn sie eine Handlung begehen, „die die Ehre und Würde eines Richters verletzt“ – eine extrem missbrauchsanfällige Norm.
Auch ansonsten wertet die Verfassungsreform das Präsidentenamts massiv auf, während sie die Gewaltenteilung schwächt. Dazu wird der Text der Verfassung vielfach an die Verfassungswirklichkeit angepasst. So ist der Präsident nunmehr ausdrücklich „Spitze“ der Exekutive. Dieser Praxis konnte bisher ein insofern nicht eindeutiger Verfassungstext entgegengehalten werden. Die lokale Selbstverwaltung wird mit den Organen der staatlichen Gewalt in ein einheitliches System der „öffentlichen Gewalt“ eingegliedert. Hinzu kommt ein zusätzliches Vetorecht des Präsidenten für ein Gesetz, das das Verfassungsgericht in präventiver Kontrolle für verfassungswidrig erklärt hat. Die Minister werden nun nicht mehr auf Vorschlag des Ministerpräsidenten vom Präsidenten ernannt, sondern werden nach Genehmigung der vom Ministerpräsidenten „vorgelegten“ Kandidaturen durch die Duma vom Präsidenten ernannt und können vom Präsidenten direkt entlassen werden. Kommt es nicht zur Einigung, kann die Duma – wie bisher – vom Präsidenten aufgelöst werden. Für die wichtigsten Minister erfolgt die Ernennung nach unbestimmt gefassten „Konsultationen“ mit dem Föderationsrat.
Ein substantieller Machtgewinn für die Duma ist nicht ersichtlich, auch wenn die Ernennung des Ministerpräsidenten durch den Präsidenten nicht mehr „in Übereinstimmung“, sondern „nach Genehmigung“ durch die Duma erfolgt. Höchst verwunderlich erscheint ein neu eingefügter Artikel, nach dem das Parlament „das Recht der parlamentarischen Kontrolle“ erhalten soll, um Anfragen an die Regierung zu stellen.
Souveränität
Wesentliches Leitmotiv der Verfassungsreform ist auch die Stärkung der Souveränität: u.a. im Verhältnis zum Völkerrecht, aber auch durch zahlreiche Vorschriften, die Voraussetzungen für den Zugang zu Staatsämtern wie den ständigen Wohnsitz in Russland schaffen, um die „patriotische“ Grundhaltung der Staatsdiener zu sichern.
Als deutliche Absage an eine Lösung im Hinblick auf die völkerrechtswidrig annektierte Krim ist die neue Norm zu verstehen, die es verbietet, einen Teil des staatlichen Territoriums zu entäußern. Nach der russischen Verfassung ist die Krim Teil des russischen Staatsgebiets.
Ideologie
Das gewählte Verfassungsänderungsverfahren erlaubt es nicht, die grundlegenden Kapitel der Verfassung zu den Verfassungsprinzipien und den Grundrechten zu verändern. Das hat dazu geführt, dass eine Reihe von freiheits- und diskriminierungsrechtlich problematischen Inhalten nun in den Teil über den Staatsaufbau aufgenommen wurden, der durch einfaches Verfahren abänderbar ist. Dadurch zerfällt die Verfassung in zwei Teile: einen jelzinschen Grundsatzteil und einen neuen putinschen Staatsaufbau. Die Kompetenzvorschriften sind nun durchzogen von konservativen oder „patriotischen“ Werten wie dem Verweis auf Gott, der Definition der Ehe als Bund von Mann und Frau sowie dem Schutz der „historischen Wahrheit“. In den Kompetenzen der Regierung finden sich umfangreiche Kataloge von wohlklingenden Staatszielen wie der sozialen Sicherung und dem wirtschaftlichen Aufschwung. Dieses Vorgehen zerstört nicht nur die Systematik der Verfassung, sondern ihren pluralistischen, freiheitlichen und völkerrechtsfreundlichen Geist. Die neuen Teile sind offenbar als Konkretisierung des allgemeinen Grundsatzteils zu verstehen, überschreiben ihn aber vielfach, wie im Hinblick auf die Gewaltenteilung. Die ideologischen Vorschriften dienen offensichtlich dazu, Zustimmung zur Reform zu erzeugen, können aber auch als Schranken für Freiheitsrechte und Diskriminierungsverbote dienen.
Verfahren
Die ursprünglich für den 22.4.2020 terminierte Volksabstimmung wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Gerade angesichts der hohen Bedeutung des Volkswillens im Verfassungsänderungsverfahren stellt sich nun die Frage, wie das Verfahren abgeschlossen werden kann, wenn aufgrund der Pandemie eine Volksabstimmung auch weiterhin nicht durchführbar wäre. Nach dem eigens für die Verfassungsänderung geschaffenen Gesetz treten die Änderungen erst nach einer positiven Entscheidung des Verfassungsgerichts am Tag der öffentlichen Verkündung des Ergebnisses der Volksabstimmung in Kraft, wenn mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen für die Verfassungsänderung abgegeben wurden. Damit geht das aktuelle Verfahren über die Bestimmungen des Art. 136 der Verfassung hinaus, der lediglich die Zustimmung der Duma und des Föderationsrats vorsieht. Auch das Verfassungsgericht stützt seine Rechtfertigung des Zeroing auf die Volksabstimmung, obwohl die Verfassung diese nicht vorsieht. Angesichts fallender Zustimmungswerte zur Reform verdeutlicht sich das Risiko, das die Legitimation durch den „Volkswillen“ mit sich bringt. Insofern ist der Ausgang aktuell wieder mit Unsicherheiten behaftet, möglicherweise bilden sich gar neue Handlungsspielräume.
Das Ende der liberalen Verfassungsinterpretation
Mit der Verfassungsreform verliert die Rede von dem „Fassaden“- oder „Scheinkonstitutionalismus“ ihre Bedeutung. Den Konstitutionalisten unter den russischen Rechtswissenschaftlern und Praktikern, die der Verfassungswirklichkeit bisher überzeugend eine liberale Verfassungsinterpretation entgegenstellen konnten, raubt die Reform die Argumentationsgrundlage. Auch wenn heute schwer abzusehen ist, was die Pandemie für Russland und das Putin-Regime langfristig bedeutet, der Geist der Verfassung von 1993 wäre durch die Reform erloschen.