21 May 2020

Die Demokratie muss immun bleiben

Zum Wahlrecht in der Pandemie

In allen Bereichen des öffentlichen Lebens wurden in den vergangenen Wochen Hygienekonzepte für eine „neue Realität” mit der Corona-Epidemie entwickelt. Das gilt auch für die Verfassungsorgane. So tagte der Deutsche Bundestag in der vergangenen Woche zum wiederholten Mal im Corona-Modus: mit markierten Abständen zwischen den Abgeordneten, aber ansonsten ziemlich normal. Am Rednerpult wird längst wieder kräftig gegenseitig ausgeteilt. So warfen sich die Parteivertreter in einer Aktuellen Stunde zum Wahlrecht gegenseitig vor, nur den eigenen Vorteil zu suchen und eine Lösung drängender Probleme zu blockieren. Schon seit Jahren wird darüber gestritten, wie ein von Wahlmathematikern befürchteter Anstieg der Abgeordnetenzahl durch das komplexe System von Überhang- und Ausgleichsmandaten verhindert werden kann. Hinzu kommt jetzt noch die Frage, wie ein Hygieneplan für die Wahlvorbereitung und -durchführung aussehen könnte.

Online-Wahlen in der Krise?

Während die Corona-Krise beispielsweise die Hochschullehre binnen Wochen um Jahre in die digitale Zukunft katapultiert hat, ist eine ähnliche Entwicklung im Wahlrecht bisher nicht absehbar. In seiner Wahlprüfungsentscheidung zum Einsatz von Wahlgeräten in Wahllokalen hat das Bundesverfassungsgericht hohe Hürden dafür aufgestellt, Kugelschreiber und Papier durch Bits und Bytes zu ersetzen. Aus dem Demokratieprinzip leitet das Gericht den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl her. Dieser soll das Wahlverfahren transparent machen, damit Manipulation ausgeschlossen oder korrigiert und unberechtigter Verdacht widerlegt werden kann (BVerfGE 123, 39 [69]). Dies schließt zwar den Einsatz von technischen Hilfsmitteln bei der Stimmabgabe nicht aus. Der Wähler muss aber nachvollziehen können, ob seine Stimme mindestens als Grundlage für eine spätere Nachzählung unverfälscht erfasst wird (BVerfGE 123, 39 [72]). Deswegen muss eine digitale Stimmabgabe stets mit einem analogen Rettungsboot ausgestattet werden, indem etwa jede digitale Stimme in einem „Papierprotokoll“ ausgedruckt und in einer Urne gesammelt wird, um später eine analoge Nachzählung vornehmen zu können (BVerfGE 123, 39 [73]).

Diese strengen Anforderungen sind nicht etwa technikfeindlich oder überholt, sondern stellen das Vertrauen in die demokratische Legitimation des Bundestages sicher. Zweifel an der korrekten Ermittlung des Wahlergebnisses sind Gift für die Demokratie. Derzeit ist nicht absehbar, wie ein Online-Voting sicherstellen könnte, dass jedwede Zweifel an der korrekten Ermittlung des Wahlergebnisses unkompliziert und vollständig ausgeräumt werden könnten. Dies zeigt etwa das Beispiel Estland, wo seit 15 Jahren e-Votings über das Internet praktiziert werden. Studien legen erhebliche Sicherheitslücken nahe (Springall et al. 2014). Angesichts der generellen Fehler- und Manipulationsanfälligkeit digitaler Systeme überzeugt der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts, es erst gar nicht auf die technische Integrität von Wahlsystemen ankommen zu lassen.

Rechtzeitige Anpassungen im Wahlrecht erforderlich

Presseberichten zufolge erwägt die Große Koalition, die nächste Bundestagswahl als reine Briefwahl auszugestalten. Grundsätzlich ist es richtig, dass der Bundestag bereits jetzt Voraussetzungen für eine coronafeste Bundestagswahl im Herbst 2021 schafft und sich nicht einfach darauf verlässt, dass die Pandemie bis dahin durch einen Impfstoff erfolgreich bekämpft werden kann. Aus gutem Grund sollen nach den einschlägigen Empfehlungen des Europarats Änderungen am Wahlrecht möglichst nicht später als ein Jahr vor dem Wahltermin erlassen werden (Code of Good Practice in Electoral Matters der Venedig-Kommission des Europarts, unter II.2.b). Kurzfristige Änderungen am Wahlmodus geraten leicht in den Verdacht, dass es sich um Manipulationsversuche der Regierungsseite handeln könnte. Dies zeigte sich zuletzt bei der Anfang Mai angesetzten Präsidentenwahl in Polen, die zunächst kurzfristig in eine reine Briefwahl umgewandelt werden sollte, nach massiven Protesten aber schließlich verschoben wurde.

Verschiebung der Bundestagswahlen keine Option

Anders als bei der polnischen Präsidentschaftswahl dürfte eine Verschiebung der Bundestagswahlen indes keine Option sein. Während in Polen nur wenige Wochen Vorlaufzeit zwischen dem Pandemieausbruch und dem Wahltermin lagen, hat Deutschland anderthalb Jahre Zeit, sich auf die Bundestagswahlen vorzubereiten. Außerdem ist eine Wahlverschiebung in einer Pandemielage in Deutschland, anders als nach polnischem Recht (dazu Matczak auf dem Verfassungsblog), schlicht nicht vorgesehen. Vielmehr hat die Neuwahl spätestens achtundvierzig Monate (also vier Jahre) nach dem ersten Zusammentritt des Bundestages zu erfolgen (Art. 39 Abs. 1 S. 3 Hs. 2 GG).

Nur im Verteidigungsfall sieht das Grundgesetz eine automatische Verlängerung der Wahlperiode des Bundestages vor, die dann sechs Monate nach Beendigung des Verteidigungsfalls endet (Art. 115h Abs. 1 S. 1 GG). Vergleichbare Regelungen für zivile Notlagen fehlen. Ähnlich wie im Hinblick auf den Gemeinsamen Ausschuss (dazu Möllers auf dem Verfassungsblog) zeigt sich auch hier, dass die Notstandsregelungen des Grundgesetzes bisher vor allem den äußeren Notstand im Blick haben, der bislang glücklicherweise reine Theorie geblieben ist. Vielleicht bewahrt uns aber gerade dieses Fehlen an Notstandsregelungen davor, aus der zweifellos ernsten Situation gleich einen Verfassungsnotstand zu machen: Bisher konnte die Parlamentsorganisation mit minimalinvasiven Maßnahmen wie dem Pairing-Verfahren aufrechterhalten werden, ohne dass massive Eingriffe in die Staatsorganisation wie die Aktivierung eines Notparlaments notwendig geworden wären (so schon Friehe auf dem Verfassungsblog).

Briefwahl als minimalinvasives Instrument für eine coronafeste Bundestagswahl?

Im Vergleich zu einer – allenfalls im Wege der Grundgesetzänderung zulässigen – Verschiebung von Wahlen könnte deren Ausgestaltung als reine Briefwahl ebenfalls zu den probaten minimalinvasiven Corona-Anpassungen im Bereich der Staatsorganisation zählen. Immerhin gehört die optionale Briefwahl zum Normalbetrieb einer Bundestagswahl. Seit den Bundestagswahlen 2009 kann jeder Wahlberechtigte auf Antrag per Briefwahl wählen, ohne dass dafür noch besondere Gründe glaubhaft gemacht werden müssten (§ 25 Abs. 1 BWO). Diese Öffnung wurde vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich gebilligt (für die Europawahl BVerfGE 134, 25 [Rn. 14 ff.]).

Minimalinvasiv wäre eine coronabedingte alleinige Briefwahl aber nur im Verhältnis zu anderen Alternativen. Generell gilt ein verfassungsrechtliches Leitbild der Urnenwahl. Die Ausweitung der Briefwahl wurde vom Bundesverfassungsgericht demgegenüber nur deswegen gebilligt, weil „ein erheblicher Anstieg der Briefwahlbeteiligung durch den Wegfall der Glaubhaftmachung von Antragsgründen (…) nicht zu befürchten“ (BVerfGE 134, 25 [Rn. 16]) sei. Die Briefwahl beeinträchtigt gleich mehrere Wahlrechtsgrundsätze. Insbesondere kann die geheime und damit auch die freie Wahl nicht in gleicher Weise garantiert werden wie bei der Urnenwahl. Diese Einschränkungen rechtfertigen sich für die fakultative Urnenwahl im Hinblick auf den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl in ihrem positiven Effekt für eine breite Wahlbeteiligung.

Für eine coronabedingte Ausgestaltung der kommenden Bundestagswahl als alleinige Briefwahl entfiele allerdings dieses Argument. Insgesamt wäre ein Rückgang der Wahlbeteiligung zu befürchten, weil die unkomplizierte Wahlmöglichkeit am Wahltag für Spontanwähler entfiele. Dafür würden schon bestehende Konflikte mit dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl deutlich verschärft. Denn auch bei der Briefwahl sind öffentliche Kontrollmöglichkeiten im Vergleich zur Urnenwahl stark zurückgefahren. So wird eine unabhängige Wahlbeobachtung erheblich erschwert, da eingegangene Wahlbriefe über Wochen ohne ununterbrochene Kontrollmöglichkeit in den Rathäusern aufbewahrt werden. Wenn auch die gefestigten demokratischen Verhältnisse in Deutschland keine massenhafte Manipulation befürchten lassen, so ist doch das Risiko für vereinzelte Manipulationen erhöht. Vor allem schadet schon die bloße Einschränkung öffentlicher Kontrolle und die erhöhte Manipulationsanfälligkeit dem öffentlichen Vertrauen in die Wahl und damit deren legitimationsstiftender Kraft.

Deswegen muss sich selbst diese minimalinvasive Variante eines Corona-Wahlrechts daran messen lassen, ob sie angesichts der epidemischen Lage zwingend erforderlich ist. Daran bestehen nach derzeitigem Stand erhebliche Zweifel: Zum einen kann bereits nach geltender Rechtslage jeder Wähler, der sich keinem Infektionsrisiko im Wahllokal aussetzen will, voraussetzungslos eine Briefwahl beantragen. Zum anderen ist nicht ersichtlich, worin sich das Infektionsrisiko bei der Urnenwahl wesentlich von anderen Situationen des täglichen Alltags unterscheiden soll, die derzeit unter Corona-Bedingungen stattfinden. Die kurzen Begegnungen zwischen Wahlhelfern und Wählern bei Entgegennahme der Wahlunterlagen ähneln der Begegnung zwischen Kunde und Kassierer an der Supermarktkasse. Entsprechend könnten im Wahllokal Infektionsrisiken mit Maskenpflicht und Plexiglasscheibe begegnet werden; auch beim Abstandhalten in einer etwaigen Schlange dürften die meisten Wahlberechtigten inzwischen hinreichend geübt sein.

Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer reinen Briefwahl hängt danach von der konkreten epidemischen Lage ab und kann sich durch neue Erkenntnisse über Übertragungswege oder eine neue Infektionsdynamik kurzfristig ändern. Deswegen sollte ein Briefwahl-Modus nicht schon kraft Gesetzes für die nächste Wahl festgeschrieben werden, sondern davon abhängig gemacht werden, dass er situationsabhängig aktiviert wird. Um Vorwürfe einer politisch motivierten Entscheidung in die ein oder andere Richtung zu vermeiden, könnte beispielsweise vorgesehen werden, dass das Bundesverfassungsgericht auf Antrag des Bundeswahlleiters eine epidemische Lage feststellt, die die Durchführung der Bundestagswahl als reine Briefwahl erforderlich macht.

Democracy matters

Gerade in Zeiten vieldiskutierter massiver (aber größtenteils gerechtfertigter) Grundrechtseingriffe muss die Systemrelevanz demokratischer Verfahren immer wieder betont werden. Das Funktionieren dieser Verfahren ist – neben der unabhängigen gerichtlichen Kontrolle – der entscheidende Unterschied zwischen einem demokratisch verfassten Gemeinwesen, das sich von einem grundrechtsignoranten Virus zu schwerwiegenden Freiheitsbeschränkungen gezwungen sieht, und autoritären Regimen, die sich um die Rechte ihrer Bürger ohnehin nicht scheren.

Nach dieser Richtschnur müssen auch Eingriffe in der Wahlvorbereitungsphase auf ein Minimum reduziert werden. Anders als bei der Urnenwahl sind die Kontakte im Rahmen der Wahlvorbereitung nicht flüchtig. Die erforderlichen Wahlparteitage in Form von Mitglieder- bzw. besonderen Vertreterversammlungen (§§ 21, 27 Abs. 5 BWG) finden normalerweise über mehrere Stunden in beengten Verhältnissen statt; ältere Jahrgänge sind meist überproportional vertreten.

Die im Bundeswahlgesetz vorgesehenen Wahlparteitage sollen dabei eine hohe Legitimation der Kandidatenaufstellung garantieren. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine demokratische Wahl erstrecken sich schon auf die Wahlvorbereitung einschließlich der Kandidatenaufstellung. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass die Auswahl der Kandidaten weder rechtlich noch faktisch den Führungsgremien einer Partei zur alleinigen Entscheidung überlassen werden darf (BVerfGE 47, 253 [282]). Die Übertragung der Kandidatenaufstellung auf die Parteivorstände kann nicht einmal ausnahmsweise eine Option sein. Denn auch innerhalb der Parteien muss sich die demokratische Willensbildung von unten nach oben und nicht von oben nach unten vollziehen.

Wie in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ist eine gewisse situative Kreativität gefragt, um Wahlparteitage so zu gestalten, dass die Infektionsrisiken minimiert werden: Abstand halten, möglichst große Räume wählen, lüften, Mund- und Nasenschutz tragen; bei gutem Wetter können solche Versammlungen im Freien stattfinden.

Denkbar ist überdies, dass der Gesetzgeber eine Kombination aus digitaler Wahlversammlung und parteiinterner Briefwahl als Alternative zum Wahlparteitag zulässt. So könnte das Recht der Kandidaten, sich und ihr Programm in angemessener Zeit vorzustellen (§ 21 Abs. 3  S. 3 BWG), auf eine Vorstellung im Rahmen einer Vor-Versammlung per Videokonferenz beschränkt werden. Dies würde die eigentliche Versammlung verkürzen. Sie könnte sogar durch eine Briefwahl der Mitglieder bzw. Delegierten ersetzt werden. Auch auf Parteiebene unzulässig sind dagegen nach dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl Online-Votings.

Soweit kleinere Parteien nur zur Wahl zugelassen werden, wenn sie ausreichend Unterstützerunterschriften vorlegen (§§ 20 Abs. 2 S. 2, 27 Abs. 1 S. 2 a.E. i.V.m. § 18 Abs. 2 BWG), kann es bei fortgeltenden Abstandsregelungen situationsbedingt von Verfassungs wegen geboten sein, diese Bestimmungen für die kommende Bundestagswahl auszusetzen (zur teilweisen Aussetzung aufgrund der besonderen Situation bei der Bundestagswahl 1990 BVerfGE 82, 353 [365 ff.], Volltext hier).

Wahlkampf im Jahr 2021…

Noch ist nicht absehbar, wie der Wahlkampf 2021 aussehen wird. Es gibt begründete Hoffnung, dass uns ein Impfstoff bis dahin zurück ins normale Leben entlässt und dann im Wahlkampf ganz ohne Masken über die Bewältigung der Krisenfolgen gestritten werden kann. Zumindest für die Kommunalwahl in NRW im September und die Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz im März 2021 stellt sich neben den wahlrechtlichen Fragen im engeren Sinne aber die Frage, wie Wahlkampf in Corona-Zeiten funktionieren kann. Bei all diesen Fragen gilt: Die Demokratie muss ihre Immunität gegen das Virus bewahren. Vorsorge für den Fall des Falles ist vernünftig – nicht zwingend erforderliches Herumdoktern am Wahlverfahren sollte vermieden werden.


2 Comments

  1. mq86mq Thu 21 May 2020 at 15:36 - Reply

    Das Bundeswahlgesetz kennt für zivile Notlagen die Nachwahlen. Das ist halt für lokal und zeitlich beschränkte Probleme mit der Durchführbarkeit designt, aber grundsätzlich auch auf eine Pandemie anwendbar. Die Wahlperiode dauert seit 1976 immer so lange, bis ein neu gewählter Bundestag zusammentritt (Art. 115h GG ist nie an dieses neue Konzept angepasst worden). Das Problem dabei ist bloß, dass dann Art. 39 Abs. 2 GG gedehnt werden muss, der an sich Zusammentritt des neuen Bundestags binnen 30 Tagen nach dem Tag der Hauptwahl fordert. Das Bundeswahlgesetz sieht auch bei lokaler Nachwahl nicht vor, dass ein abschließendes (Teil-)Wahlergebnis vor deren Durchführung festgestellt wird, und vorher kann auch niemand die Mitgliedschaft im Bundestag erwerben.

  2. Vonfernseher Thu 21 May 2020 at 22:54 - Reply

    Für die Bundestagswahl wäre es doch auch schon hinreichend, wenn man mehr amtliche Stellen, an denen eine Vorauswahl angeboten wird, einrichtete. Außer einer möglichen Sabotage der Zustellung der Briefwahlunterlagen, sähe ich da keine großen Unterschiede zur Urnenwahl am Wahltag.

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