Die Einsamkeit des deutschsprachigen Europarechts
Vor 50 Jahren waren FIDE-Treffen einflussreiche Veranstaltungen. Inhaltliche Diskussionen vor Ort und persönliche Kontakte zwischen den Teilnehmern prägten die Frühphase des EU-Rechts. In einer lesenswerten englischsprachigen Studie zeigte der französische Soziologe Antoine Vauchez, dass das Treffen der Internationalen Vereinigung für Europarecht im Jahr 1963 einen direkten Einfluss auf Inhalt und Deutung der wegweisenden EuGH-Urteile van Gend en Loos sowie Costa/ENEL hatte. Im Vergleich hierzu wird der diesjährige FIDE-Kongress vom 28. bis 31. Mai 2014 in Kopenhagen ein profaner Event sein. Der vormalige Ruhm ist verblichen und die Teilnahmegebühr von mehr als 500 EUR hält viele Wissenschaftler von der Teilnahme ab.
Dieser Beitrag geht auf einen Disput innerhalb des deutschen Teams zurück. Christoph Schönberger hatte mich gefragt, ob ich ihn beim deutschen Landesbericht zur Unionsbürgerschaft unterstützen würde. Ich akzeptierte ohne Zögern, und die Zusammenarbeit verlief unproblematisch. Wir lieferten unseren Bericht gerade noch rechtzeitig und die Generalberichterstatter waren zufrieden (es handelt sich um einen Bericht über innerstaatliche Entwicklungen, nicht um eine wissenschaftliche Bewertung).
Dennoch informierten uns die deutschen FIDE-Verantwortlichen, dass der Bericht nur als informelles Working Paper behandelt werden könne. Ihre Vorbehalte waren sprachpolitischer Natur: Deutsche Landesberichte seien in deutscher Sprache einzureichen. Englischsprachige Texte würden nicht akzeptiert. Da wir von Anfang an eine deutsche Version nachreichen wollten, lieferten wir diese alsbald. Das informelle englische Working Paper findet sich seither auf meiner Homepage.
Mir geht es mit diesem Beitrag nicht darum, die Meinungsverschiedenheit mit den deutschen FIDE-Verantwortlichen öffentlich fortzuführen. Ich schätze sie und achte ihren langjährigen Einsatz für das Europarecht – in Deutschland und international. Ich bin mir auch bewusst, dass die Sprachenfrage für FIDE ein sensibles Thema ist und dass die Befürworter der Mehrsprachigkeit unsere Unterstützung verdienen. Die Episode gibt mir jedoch den Anlass, ganz allgemein über die Sprachenfrage in der Europarechtswissenschaft nachzudenken. Mir wurde während der Auseinandersetzung nämlich bewusst, wie sehr das Thema meine eigene wissenschaftliche Identität prägt. Dieser Beitrag möchte eine öffentliche Debatte zu dieser Frage anstoßen.
Mehrsprachigkeit 1961 und heute
Die Zeiten wandeln sich und mit ihnen der soziale Kontext. Beim ersten FIDE-Kongress im Jahr 1961 war es eine nahe liegende Entscheidung, die Fédération Internationale pour le Droit Européen mit dem französische Akronym FIDE zu versehen. Französisch war die Sprache der Diplomatie und wichtigste Arbeitssprache der jungen EU-Kommission und auch des Gerichtshofs, der seine délibéré bis heute auf Französisch abhält. Unabhängig hiervon war die frühe EWG eine sprachlich vergleichsweise homogene Gemeinschaft mit lediglich vier Amtssprachen (Französisch, Deutsch, Italienisch, Niederländisch). Das Englische folgte 20 Jahre nach dem Schuman-Plan und die Schwelle von zehn Amtssprachen wurde erst im Jahr 1995 überschritten (heute sind es 24).
Man konnte damals von Experten des Gemeinschaftsrechts also durchaus erwarten, dass sie an transnationalen Debatten in den wichtigsten Arbeitssprachen teilnehmen konnten. Ein Beispiel: Pierre Pescatore veröffentlichte regelmäßig auf Französisch, Englisch und Deutsch (vermutlich gibt es auch Texte auf Niederländisch und Italienisch, die ich leider jedoch nicht verstehe). Gewiss spielte das Englische schon damals eine Rolle, und die Kommission unterstützte aktiv die Entstehung der Common Market Law Review lange vor dem britischen Beitritt. Wirklich dominant war jedoch keine Sprache. Ein FIDE-Bericht auf Deutsch konnte vermutlich von den meisten Teilnehmern verstanden werden, auch wenn die jeweiligen nationalen Fachdiskurse nur begrenzt vernetzt waren.
Heute ist die Situation anders. Einzelne Personen werden den Text natürlich lesen können, aber der Schritt hin zum Englischen als Sprache des wissenschaftlichen Austausches über das Europarecht ist wahrscheinlich unaufhaltsam. Wir können maximal einen reflexiven Diskurs in mehreren Sprachen erreichen, wie ihn dieser Blog mit dem offiziellen Ziel einer ‘forcierten Mehrsprachigkeit’ und beachtlichem Erfolg angeht. Dies ändert jedoch nichts daran, dass internationale Debatten heute auf Englisch stattfinden.
Nach meiner Beobachtung stützen zwei strukturelle Gründe diese Entwicklung: Erstens sollten wir die Ignoranz zahlreicher (angelsächsischer) Wissenschaftler beim Namen nennen, die keine Fremdsprachen beherrschen und systematisch nicht-englische Quellen ausblenden. Zweitens bewirkt Europas neue Vielsprachfähigkeit mit inzwischen 24 Amtssprachen schlicht weniger Überschneidungen. Die meisten EU-Experten beherrschen eine oder mehrere Fremdsprachen – allein die Überlappung ist gering. Bei den meisten Veranstaltungen sprechen einige kein Französisch, Deutsch, Spanisch, Polnisch oder Italienisch – während Englisch der gemeinsame Nenner ist. Eben dieser Trend verstärkte sich im Laufe der Jahre, weil viele sich am gemeinsamen Nenner ausrichten. Ebenso wie die historische Lingua Franca erstarkt das Englische aus sehr pragmatischen Gründen zur Sprache des internationalen Gedankenaustauschs.
Der Stellenwert des Europarechts Made in Germany
Koen Lenaerts, der Vize-Präsident des EuGH, mag ein Pierre Pescatore der Gegenwart sein; ein intelligenter und einflussreicher Wissenschaftler und Richter, der regelmäßig in verschiedenen Sprachen schreibt. Er ist einer von ganz wenigen international renommierten Autoren, der in der jüngeren Vergangenheit zur Zeitschrift Europarecht beitrug (zum Anwendungsbereich der Grundrechtecharta). Er bleibt jedoch die Ausnahme. Sehr wenige internationale Wissenschaftler legen Wert darauf, an der deutschsprachigen Debatte teilzuhaben – und auch umgekehrt wird diese nicht rezipiert. Wenn man die einflussreichen internationalen Zeitschriften zum Europarecht studiert, findet man beinahe nie einen Verweis auf Europarecht, Juristenzeitung, Der Staat, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht oder gar Die Öffentliche Verwaltung.
Dies bedeutet keineswegs, dass kein Interesse an der deutschen Perspektive bestünde. Im Gegenteil: Nach meiner Erfahrung drängen viele Teilnehmer nach mehr Informationen aus Mitteleuropa (man denke nur an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und den Erfolg des Verfassungsblogs und des German Law Journal). Bei der Rezeption der deutschen Sichtweise scheint die Sprache jedoch eine unüberwindbare Hürde zu sein. Dies wiederum ist kein deutsches Spezifikum. Veröffentlichungen auf Italienisch, Niederländisch und Spanisch erleiden dasselbe Schicksal, während kleinere Rechtskulturen teils schlicht nicht die Humanressourcen besitzen, um Spezialdiskurse zum Europarecht zu führen. Sogar das einst einflussreiche Französisch verlor seinen vormaligen Glanz. Europa mag eine Kommissarin für Mehrsprachigkeit besitzen (Androulla Vassiliou, ohne dass man von ihr viel gehört hätte), aber die transnationale Debatte ist monolingual.
Ich bin mir bewusst, dass die EU-Organe, insbesondere Kommission und EuGH, einen weitaus vielfältigeren Blickwinkel einnehmen und mehr Quellen konsultieren als die Fußnoten englischsprachiger Zeitschriften (tatsächlich dürften einige britische Kollegen unterschätzen, dass sie durch Ausblendung anderer Sprachen ein unvollständiges Bild von der supranationalen Wirklichkeit erhalten). Auch hat der Rückgang an Mehrsprachigkeit kulturelle Kosten und unterstützt die Dominanz angelsächsischer Methodik. Aus diesen Gründen sollten wir keineswegs nur auf das Englische setzen, sondern Mehrsprachigkeit am Leben halten und die Debatten aktiv verschränken.
Tatsächlich ist das Gesamtbild gar nicht so schlecht. Mein Lehrstuhl hat ein Ranking der Herkunftsländer (nach der institutionellen Anbindung, nicht der Staatsangehörigkeit) aller Autoren für vier prominente Europarechtszeitschriften im Jahr 2013 erstellt: Common Market Law Review, European Law Journal und European Constitutional Law Review und European Law Review. Diese rudimentäre empirische Auswertung zeigt, dass der Diskurs in diesen Zeitschriften keineswegs ein Gespräch unter Briten ist (einmal ganz abgesehen davon, dass die personale Zusammensetzung der britischen Europarechtswissenschaft ein europäischer Mikrokosmos ist). Auch wenn Briten mit Abstand die größte Autorengruppe bilden, so werden doch – mit Ausnahme der britischen European Law Review – rund 70 % aller Aufsätze in anderen Mitgliedstaaten geschrieben. Die Zeitschriften mögen einsprachig sein, aber ihr wissenschaftlicher Ausblick ist transnational und, in rechtlicher Hinsicht, multikulturell. Eben diese Debatte sollten deutsche Wissenschaftler durch noch mehr Beiträge aus Mitteleuropa bereichern.
Der umgekehrte Blickwinkel: dIe Irrelevanz internationaler Debatten
Meine bisherigen Überlegungen waren bewusst einseitig, weil sie sich auf den Einfluss deutschsprachiger Beiträge auf die transnationale Debatte konzentrierten. Daneben gibt es freilich den entgegengesetzten Blickwinkel, der ein anderes Fazit stützt. Wenn man deutschsprachige Veröffentlichungen zum Europarecht liest, findet man eine halbautonome Diskussion (dasselbe dürfte für Frankreich, Italien und Spanien gelten). Zahlreiche Autoren konsultieren einzig (oder überwiegend) deutschsprachige Quellen. Wir leben in einer Welt konzentrischer Kreise, und die Überschneidung zwischen nationaler und transnationaler Debatte ist geringer als wir denken. Dies sollten alle Akteure zum Anlass nehmen, um eine größere Begegnung der Teildiskurse zu erreichen.
Jenseits der Wissenschaft ist dieses Phänomen besonders ausgeprägt. Bei Praktikern unter Einschluss von Richtern ist die Bereitschaft zur Lektüre nicht-deutscher Texte gering. Unter Praktikern in Brüssel und Straßburg ist die Common Market Law Review die einflussreichste Zeitschrift, und dennoch findet man nahezu keine Verweise auf sie in deutschen Urteilen, obwohl diese prinzipiell sehr gerne Literaturquellen zitieren. Jeder, der einen Aufsatz auf Englisch publiziert, lernt, dass selbst viele deutsche Kollegen diesen nicht wahrnehmen. Es gibt zahlreiche Beiträge, die sich mit dem Europarecht befassen, und hierbei wenige oder überhaupt keine internationale Quellen zitieren.
Strukturell behindert diese Entkoppelung die Wirksamkeit sowohl der nationalen als auch der transnationalen Debatte. Ein EuGH-Urteil ist für sich genommen keine Garantie, dass das Europarecht tatsächlich angewandt wird; die europäische Perspektive muss in den nationalen Diskurs durchsickern. Umgekehrt besitzen nationale Diskussionen wenig Einfluss, wenn diese die Augen und Gedanken von Entscheidungsträgern und Wissenschaftlern nicht erreichen, die kein Deutsch sprechen. Auch aus diesem Grund ist die Vorlage des BVerfG an den EuGH in Sachen EZB-Anleihekäufe meines Erachtens ein so wichtiges Symbol. Sie signalisiert jedem Studenten, Wissenschaftler und Bürger, dass die deutsche Rechtsordnung nicht auf jede Frage eine Antwort hat.
Wie können wir die Situation verbessern? Erstens sollte die deutsche Rechtswissenschaft eine aktive Einbindung mit der internationalen Debatte anstreben. Diese Aufgabe ist im Bereich des Europa- und Völkerrechts besonders drängend, gilt in modifizierter Form aber ebenso für das nationale Recht. Die deutsche Kommentarliteratur ist ein großer Gewinn, der auch in Brüssel geschätzt wird. Sechs deutschsprachige Kommentare zum EU-Primärrecht, die vorwiegend von Wissenschaftlern geschrieben werden, sind jedoch (mehr als) genug. Insbesondere spezialisierte Europarechtler sollten diese Ressourcen besser für die aktive Teilnahme am transnationalen Diskurs nutzen – und dies durchaus aus langfristigem Eigeninteresse. Jeder Kollege im Öffentlichen Recht kann die Pflichtvorlesung zum Europarecht halten; es erfordert jedoch eine Spezialisierung, wenn man sich mit Gewicht in transnationale Dialoge einbringen will.
Zweitens müssen wir die nationalen und die europäischen Teil-Debatten verknüpfen. Mehrsprachige Publikationen mögen einen Mehraufwand bedeuten, aber sie sind ein Instrument, um die aktuelle Entkoppelung zu überwinden. Ich bin davon überzeugt, dass die deutsche Europarechtswissenschaft hierbei viel Gewichtiges beizutragen hat, zumal die internationale Diskussion vielfach hyper-spezialisiert ist und insofern vom breiteren Zugriff des deutschen Öffentlichen Rechts profitierte. Diesen Schritt sollten wir auch dann wagen, wenn zweisprachige Publikationen sehr viel mehr sind als ein Akt der Übersetzung. Sie setzen voraus, dass wir uns auf andere Rechtstraditionen und methodische Zugriffe einlassen und unsere Argumentation anpassen. Dies gilt auch für nichtdeutsche Europarechtler, die durch unsere Beiträge gezwungen werden, sich mit deutschen Traditionen und Sichtweisen auseinanderzusetzen. Aus diesem Grund sind Europäisierung und Internationalisierung sehr viel mehr als nur eine Sprachenfrage. Sie werden die nationalen Rechtskulturen in Europa schrittweise verbinden.
Endlich wird dieses Problem einmal auf den Punkt gebracht. Es ist, ob man es nun will oder nicht, ein Fakt, dass die transnationalen Diskurse zum Europarecht in erster Linie auf Englisch geführt werden. Der deutschsprachige und der englischsprachige Diskurs können von einer gegenseitigen Öffnung nur profitieren. Man darf für meine Begriffe aber nicht die “weichen Faktoren” unterschätzen, welche einer Zuwendung mehr zum Englischen hin entgegenstehen. Es ist nicht nur bequemer, in seiner Muttersprache zu schreiben. Soweit es den Autoren auch darum geht, Anerkennung für Ihre Gedanken zu erhalten, reicht es ihnen zumeist aus, ihre Gedanken in ihrer Muttersprache zu formulieren, da sie sich zumeist nur in der “Community” ihres Heimatlandes oder ihrer Sprachgemeinschaft bewegen. Ein Stück weit fehlt daher vielleicht auch ein Anreiz, sich der weiteren wissenschaftlichen Diskurse jenseits der Grenzen der Sprachregionen anzuschließen.
Autoren, welche aus Ländern kommen, deren Sprache außerhalb der Landesgrenzen so gut wie nicht von anderen Menschen beherrscht werden und die darüber hinaus nur sehr kleine wissenschaftliche Gemeinschaften bilden, haben wesentlich weniger Scheu, auf Englisch zu publizieren. Hinzu kommt, dass die Anforderungen zur Teilnahme am englischsprachigen Diskurs nicht zu unterschätzen sind. Entsprechend ist die Hemmschwelle auch hoch. Es müssten mehr Kurse “English legal writing” angeboten werden. Soweit ich das übersehen kann, besteht in dieser Hinsicht Nachholbedarf. Es wäre in jedem Fall eine gute Sache, wenn in dieser Frage eine Debatte entstehen würde.
Der Beitrag trifft den Punkt natürlich ins Schwarze. Aber witzig ist der Umstand schon, dass man für solche Statements den äh, Dingens (wie kann man es höflich umschreiben, wenn man das Wort “Hass” nicht verwenden möchte?) der Sprachunkundigen auf sich lenkt. Sollen die jetzt alle sagen: “Ach, danke Herr Thym, zum Glück können Sie ja an den internationalen Diskursen teilnehmen! Wir sind alt und dumm, haben damals nicht einmal Englisch passabel gelernt, aber jetzt sind Sie ja da und können die “deutsche” Zunft endlich ins 21. Jahrhundert befördern!”
My educated guess: this will happen. Not.
@AL: Es reicht ja schon, wenn sie das transnationale Engagement des Herrn Thym ernst nehmen und es ihm in der “deutschen” Zunft nicht zum Nachteil gereicht, wenn er statt des siebten Kommentars lieber ein paar Aufsätze in der CMLR veröffentlicht. So lange allerdings faktisch in vielen Berufungsverfahren noch immer nationale Selbstisolation prämiert wird, ist der Anreiz zum grenzüberschreitenden Dialog gering. Die halbautonome Fachdiskussion ist übrigens keineswegs ein Generationenproblem: Unter den Altvorderen des “deutschen” Europarechts gab und gibt es viele gewandte Mehrsprachler. Und auch die jüngeren können oft passabel Englisch, haben Fachsprachenzertifikate erworben oder einen LL.M. in Cambridge, Yale oder Michigan gemacht. Was aber nicht notwendig heisst, dass sie bereit sind, sich aktiv auf transnationale Dialoge einzulassen. Daniel Thym bringt es auf den Punkt: “zweisprachige Publikationen sind sehr viel mehr als ein Akt der Übersetzung. Sie setzen voraus, dass wir uns auf andere Rechtstraditionen und methodische Zugriffe einlassen und unsere Argumentation anpassen.” Und dabei überdenken. Nicht nur die nichtdeutschen, sondern gerade auch die deutschen Europarechtler sind in diesem Prozess gezwungen, sich mit deutschen Traditionen und Sichtweisen auseinanderzusetzen. Der Reflexionsgewinn, der dabei zu erzielen ist, ist die Mühe der Mehrsprachigkeit wert, finde ich. Dass man dabei in der Tag Hass (oder jedenfalls Gehässigkeit) auf sich zieht, finde ich mehr irritierend als witzig. Aber irgendwie gehört es auch zum Geschäft, vgl. https://staging.verfassungsblog.de/linguae-litterae-2/
@AK: Ich stimme Ihnen 100%ig zu und möchte Ihren Gedanken nochmals verallgemeinern: es wird nicht nur sprachliche “Selbstisolation” prämiert, sondern “Selbstisolation” wird I N S G E S A M T prämiert. Hierzu gibt es sogar eine Regel, deren (“offiziellen” inoffiziellen) Namen ich nicht nennen kann, ohne meine Anonymität zu gefährden, die aber lautet, dass jeder gut beraten ist, seine Texte so zu schreiben, dass die Leser 90 % der dort enthaltenen Gedanken schon einmal selbst gedacht haben (und die deshalb denken: “Mann, der Autor ist klug!”) zuzüglich 10 % Larifari-as you like it (der Teil wird dem Autor dann abgekauft, weil man ja schon weiß, was für ein kluger Bursche er ist).
Sie müssen den Namen der Regel nicht nennen, wir wissen auch so nach Ihren bisherigen Beiträgen, welche Regel gemeint sein wird. Den Namen sollte man aber in der Tat nicht nennen, sonst wären Sie wirklich recht schnell bar Ihrer Anonymität.
„Ist das Bemühen um Mehrsprachigkeit in der (Rechts-)Wissenschaft also nur noch ein aussichtsloses Rückzugsgefecht?“ (Linguae et Litterae: Sprachenpolitik in der (Rechts-) Wissenschaft).
Alexandra Kemmer entschied sich noch 2012, nach einer Antwort auf diese Frage zu suchen. Das „eherne Prinzip des `survival of the fittest`“ war ihr wohl damals nicht als Antwort genug
Ein Nachdenken (Sinnieren) über das „Verhältnis von Gedanke und Sprache“ hätte ihr die Symbolträchtigkeit der biblischen Erzählung vom Turmbau von Babel (Gen 11) offenbart. Denn die “babylonische Sprachverwirrung“ hätte es nicht als Erzählung in die Bibel gebracht, wenn als ihre Ursache lediglich „Vielsprachigkeit“ verstanden wurde.
Der Erzähler kannte das probate Rezept von Aufmerksamer Leser: “. . seine Texte so zu schreiben, dass die Leser 90 % der dort enthaltenen Gedanken schon einmal selbst gedacht haben . . .“
Denken ist Sprache. Mit Sprache kommen Gedanken und Gedachtes zum Ausdruck. Worte verbunden mit Worte und Zeichen bilden eine Aussage des Gedachten, von Gedanken, für denjenigen dann, wenn er mit der gleichen Art und Weise (der Kultur) des Denkens, der Sprache, diese Aussage liest oder hört. (Ein kleines Beispiel der Kultur eines Zeichens: bulgarisch bedeutet Kopfnicken – Nein!)
Doch die gleiche Kultur des Denkens, der Sprache, ist keine hinreichende Voraussetzung dafür, die Aussage auch verstehen zu können. ER versteht nicht deshalb. ER wird nicht bereits deshalb verstanden.
“Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen” (Goethes Faust)
„Sprachverwirrung“ ist nicht Folge von Vielsprachigkeit. Aussagen mit Worten, die darin als Begriffe („Vokabular) verwendet und gelesen oder gehört werden, obwohl sie beliebig zu verstehen sind, vom Aussagenden selbst sowie vom Lesenden oder Hörenden verschieden verstanden werden, ist die Kultur des Denkens, der Sprache, die als „Sprachverwirrung” bezeichnet werden kann.
Deshalb: Für die Wissenschaft weder “Rückzugsgefecht” noch “Anpassung”! Auseinandersetzung mit diesem „Vokabular“, mit dieser Kultur des Denkens, der Sprache! Sie kann keine „Einsamkeit“ sein.
Denn sonst bleibt ihr nur: „Lieber schön als wahr“ (Martin Walser)
Ich kann Daniel Thym aus vollem Herzen zustimmen. Gott-sei-Dank wird in Berufungsverfahren allerdings inzwischen auch auf die internationale Sichtbarkeit von KollegInnen geachtet, jedenfalls wenn europa- und völkerrechtliche Stellen besetzt werden sollen. Der siebte, achte oder neunte Kommentar zum AEUV spielt keine entscheidende Rolle mehr.
Wichtig wäre es, bereits in der Lehre anzusetzen. Wir haben an den Fachbereichen inzwischen recht gute fachsprachliche Ausbildungen, aber diese werden zu wenig mit der eigentlichen Lehre verknüpft. Wir sollten mehr Veranstaltungen auf Englisch anbieten, gerade auch um den zukünftigen PraktikerInnen die Scheu vor der englischen Fachsprache zu nehmen. Jedenfalls im Schwerpunktbereich sollte das möglich sein. Vielleicht eignet sich die große Europarechtsvorlesung hierfür (noch) nicht, aber auch dort kann man den ein oder anderen gezielten und didaktisch klug eingesetzten Literaturhinweis auf Englisch geben (und nicht nur die englischen Lehrbücher im Literaturverzeichnis erwähnen).
“Jenseits der Wissenschaft ist dieses Phänomen besonders ausgeprägt. Bei Praktikern unter Einschluss von Richtern ist die Bereitschaft zur Lektüre nicht-deutscher Texte gering. Unter Praktikern in Brüssel und Straßburg ist die Common Market Law Review die einflussreichste Zeitschrift, und dennoch findet man nahezu keine Verweise auf sie in deutschen Urteilen, obwohl diese prinzipiell sehr gerne Literaturquellen zitieren.”
Tatsächlich ist es so, dass wissenschaftliche Beiträge in der täglichen forensische Praxis schon mit Rücksicht auf die sehr begrenzten zeitlichen (vgl. Anzahl der Minuten pro Akte nach Pebbsy) und sachlichen (vgl. einerseits Bibliotheksbestände angesichts stetig schrumpfender Mittel und andererseits Inhalte etwa von Beck-Online, juris usw.) Ressourcen kaum noch von Bedeutung sind (von wissenschaftlicher Recherche und entsprechenden ZItaten kann nur ganz ausnahmsweise die Rede sein). Erst recht gilt das für fremdsprachige Beiträge und darunter auch für den Inhalt der CMLR. Wenn die dt. Rechtswissenschaft also durch ein Mehr an englischsprachigen Veröffentlichungen mehr Einfluss auf Unions-Ebene erreichen kann, wird sie – über die Ausbildung hinaus – nicht zugleich mehr Einfluss auf die tägliche Praxis der nat. Rechtsprechung nehmen können, wenn man nicht freie Ressourcen in überraschendem Umfang unterstellen will. Das mag zwar angesichts des oben beschriebenen ohnehin kaum noch vorhandenen Einflusses der Rechtswissenschaft auf die tägliche Praxis durchaus zu verschmerzen sein, ist aber jedenfalls Ausdruck einer zunehmenden Distanz, für die es vorläufig keine befriedigende Lösung zu geben scheint. Wenn man sich jedoch fragt, ob die Rechtswissenschaft auf mehr deutschsprachige Veröffentlichungen zugunsten englischsprachiger Beiträge verzichten sollte, muss man den Adressatenkreis im Augen behalten. Kurz: Worauf will die dt. Rechtswissenschaft mit ihren Veröffentlichungen Einfluss nehmen (ich setze voraus, dass es hier nicht nur um die Länge der Veröffentlichungsliste und um Berufungsaussichten geht)? Wer sowohl auf die tägliche Praxis der nat. Rspr. als auch auf die Diskussionen auf Unions-Ebene Einfluss nehmen möchte, muss sicher sowohl in dt. als auch in englischer Sprache (und evtl. in frz. Sprache, vgl. Arbeitssprache EuGH) veröffentlichen. Eine derartige Vielseitigkeit mag in Berufungsverfahren prämiert werden. Das ändert aber nichts an dem Sinn und Zweck auch deutschsprachiger Veröffentlichungen, soweit diese nämlich einen entsprechenden Adressatenkreis im Blick haben.
@Rensen: Es geht um Einfluss auf Diskurse und Wahrnehmung in Diskursen. Mit “Diskurs” meint man hier nicht Rechtsprechung der Landesgerichtsbarkeit in NRW. BTW: Ist es an OLGs mittlerweile schon so schlimm, wie Sie implizit andeuten? Und leicht OT: Wie hoch schätzen Sie den Prozentanteil Ihrer OLG Kollegen, die der englischen Sprache wenigstens mit passiver Lesekompetenz mächtig sind? Nach meinem Kenntnisstand werden solche “Spezielfähigkeiten” sogar extra in der Personalakte vermerkt, soweit vorhanden?
@AL: Interessant, dass Sie die Praxis nicht als Teil des Diskurses verstehen. Ich nehme das zur Kenntnis und kann in einem solchen Verständnis zugleich eine Ursache für eine zunehmende Distanz erkennen.
Ja, ich denke, dass jedenfalls die Lesefähigkeit verbreitet ist und dass das auch beförderungsrelevant ist, zumal wir englischsprachige Spruchkörper vorhalten. Allerdings darf ich nochmals darauf hinweisen, dass uns weder die entsprechende Lit. zur Verfügung steht, noch ein größerer zeitlicher Aufwand möglich ist. Wie schlimm es in NRW und anderenorts steht oder auch nicht steht, sollte in der Rechtswissenschaft bekannt sein, wenn sie sich denn mit der Praxis über die Ausbildung hinaus befasst. Statistiken und Äußerungen des DRB sind jedermann zugänglich.
@Rensen: No offense meant! Man kann auch den “Austausch” zwischen Theorie und Praxis als Diskurs bezeichnen, das wäre dann aber ein anderer Diskurs und nicht der, um den es hier gerade geht. Man sieht an den Kommentaren sehr gut, dass es (mindestens) zwei Strömungen gibt, von denen eine (wie ich finde: berechtigt) den Mehrwert des neunten AEUV Kommentares nicht erkennen kann.
Sie haben ab meine Frage nach dem Prozentanteil der Englischkenntnisse nicht wirklich beantwortet. Nach meinem Kenntnisstand gibt es eine englischsprachige KfH pro Landgericht im OLG Bezirk Köln und einen solchen Senat. Wieviele Ihrer Kollegen können einen CMLR Artikel lesen und verstehen? Diese Angabe findet man in der DRZ nicht.
@AL: 1. Ja, es gibt englischsprachige Spruchkörper, allerdings – soweit ich weiß – nahezu ohne Fälle.
2. Ich kann keinen Prozentsatz nennen, würde aber meinen, dass mind. 75% der OLG-Richter das hinbekommen werden, allerdings nur mit zeitlichem Mehraufwand.
@AL: Zur Ergänzung will ich noch hinzufügen, dass mir mehrsprachige Kommentare, die sowohl deutsch- als auch englischsprachige Leser erreichen und dementsprechend Rspr. und Lit. umfassend erschließen, durchaus anschaffenswert (Bibliothek & Datenbanken!!!) erscheinen. Allerdings bleibe ich dabei, dass es Aufgabe der Wissenschaft ist, den Spagat zwischen deutschsprachiger Rspr. und Wissenschaft und englisch- bzw. französischsprachiger Rspr. und Wissenschaft zu leisten und so den erforderlichen allseitigen Diskurs zu schaffen. Die von Ihnen festgestellte Mehrzahl von Diskursen kann kein Zustand sein, mit dem wir uns zufrieden geben dürfen, sollen Rechtswissenschaft (in ihrer dienenden Funktion) und Praxis funktionieren. Gegenwärtig reden die einen, während die anderen entscheiden. Neun deutschsprachige Werke braucht vielleicht nicht jeder und nutzt sicher kaum einer gleichzeitig. Ebensowenig machen aber Beiträge in Zeitschriften Sinn, die von der Praxis nicht zur Kenntnis genommen werden, weil die Quelle nicht zur Verfügung steht. Wie wäre es also mit einer mehrsprachigen Online-Zeitschrift bei Beck, Juris oder Jurion, die nicht nur dt. und europäische Wissenschaft zusammenführt, sondern auch Praxis und Wissenschaft?
@Hartmut Rensen: Ich sehe die “unterschiedlichen Diskurse” weniger als Abschottung – mehr als unterschiedlichen Anliegen geschuldet. Wenn (was selten genug vorkommt) “Theorie-/Wissenschaftsdiskurse” neue Ideen erproben, Szenarien durchspielen, hat das einen mehr experimentellen Charakter, der nicht davon profitieren würde, unmittelbar Rechtsprechungslinien zu verändern (das geht nur mit Ideen, die nicht wirklich neuartig sind). Die gut abgehangenen Modelle der Rechtsprechung sind deswegen nicht auf tagesaktuelle (modische) Trends anderer Diskurse angewiesen, sondern sollten ihre Stabilität und damit Vorhersehbarkeit auch als wichtige Vorzüge erkennen. Das schließt natürlich nicht aus (warum auch?), dass (ehemals) neue Ideen der Wissenschaft nach hinreichender Erprobung auch in die praktische Rechtsprechungstätigkeit einfließen. Aber zu dem Zeitpunkt, zu dem das richterlich vertretbar erscheint, sind das dann eben nicht mehr die Avantgarde Ideen, sondern die “bleeding Edge” Diskurse haben dann schon wieder neue Säue gefunden, die durch neue Dörfer getrieben werden.
Wie dem auch sei, Neues ist ohnehin selten. Und Innovotion entsteht natürlich nicht allein durch englischsprachige Publikationsformen, man kann auch in fremden Sprachen unglaubliche Banalitäten formulieren. Es wäre einer separaten Diskussion würdig, sich einmal über das Konzept der Innovation im juristischen Zusammenhang auszutauschen…
@AL: Naturgemäß gehen Sie davon aus, dass auch Rechtswissenschaft zu Innovation führt, die die Rspr. gewöhnlich nachvollzieht oder nicht, während ich davon ausgehe, dass die Rechtswissenschaft gar nicht soviel Phantasie haben kann wie das wirkliche Leben Sachverhalte zu bieten hat und dass deshalb Innovation nur sehr selten in der Rechtswissenschaft entsteht, sondern gewöhnlich im Zusammenwirken von primärer Rechtsprechung und sekundär kommentierender, besprechender Rechtswissenschaft. Vermutlich können wir beide Bsple. für unsere Positionen anführen. Sicher müssten wir aber zuvor den Begriff der Innovation in der Rechtswissenschaft klären… Nur führt das alles hier nicht weiter, sondern lässt das Faktum unberührt, dass die dt. Rechtswissenschaft den Spagat zwischen Nähe zur dt. Praxis einerseits und Einfluss auf europäischer Ebene andererseits mit den nur einmal vorhandenen Mitteln bewältigen muss – ob es sich um einen oder mehrere Diskurse handelt, ist letztlich bedeutungslos. Dazu kann man seine Ressourcen weg vom 7. oder 9. Kommentar in dt. Sprache und hin zu englischsprachigen Veröffentlichungen lenken. Das wird aber “die Flanke zu anderen Seite hin noch mehr als ohnehin schon aufreißen”. Das Problem lässt sich dementsprechend nur mittels einer umfassenden Ausrichtung der Medien (mehrsprachiges Online-Produkt mit Unterstützung eines europaweit wichtigen Marktteilnehmers) lösen und nicht etwa mit englischsprachigen Beiträgen in Produkten, denen national kaum eine Bedeutung zukommt. Gegenwärtig kann Herr Thym jedenfalls nicht seine Ressourcen für Veröffentlichungen in der CMLR aufwenden und zugleich auf die dt. Praxis Einfluss nehmen. Auch ist es vollkommen illusorisch, eine Veränderung der Praxis durch Maßnahmen der Juristenausbildung in ausreichend kurzer Zeit zu bewirken oder trotz knapper werdender finanzieller, personeller und sachlicher Mittel auf eine weitere Öffnung der Praxis gegenüber englischsprachigen Publikationen wissenschaftzlicher Art hinzuwirken. Nein, die dt. Rechtswissenschaft muss sich schon etwas Neues einfallen lassen, um einerseits mehr Einfluss zu nehmen und den noch vorhandenen Rest von Einfluss auf der anderen Seite nicht zu verlieren.
Ein kleiner Einwurf zur spannenden Diskussion: Wie verhalten sich die Gerichte zur Ausdifferenzierung der “Praxis”? Verlangt die neue Vielfalt der Rechtsquellen und Spruchkörpern nicht auch von deutschen Richtern eine Neuorientierung – ganz unabhängig vom Verhältnis zur Wissenschaft?
Ein Beispiel: Dublin-Überstellungen von Asylbewerbern beschäftigen derzeit viele Verwaltungsgerichte. Die zentralen Urteile kommen aus Luxemburg und Straßburg (letztere nicht einmal mit deutscher Übersetzung). Wer diese Entwicklungen verstehen will, muss auch als Richter die Perspektive der Kolleg/innen in anderen Rechtsordnungen, Sprachräumen und Diskurszusammenhängen verstehen lernen. Das gilt für das vertikale Verhältnis zu EGMR/EuGH nicht anders für den horizontalen Austausch mit Kollegen aus Frankreich, Polen, Großbritannien, etc. Dies wird nicht jeder Richter leisten können, wohl jedoch diejenigen mit inhaltlicher Neugier und der Hoffnung auf eine erfolgreiche Karriere. Bei diesem Unterfangen dürften die meisten meiner Anmerkungen (die nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erheben) sinngemäß von den Richterkollegen erfahren werden.
@Daniel Thym: Hervorragendes Beispiel. @Hartmut Rensen: In solchen Konstellationen sieht man, dass kaum die Rechtsprechung aufgerufen ist, systematische Komplexitätsreduktion zu betreiben, die dann von der Wissenschaft nur noch nachvollzogen werden muss. Dafür reicht die Zeit nicht einmal bei Bundesgerichten. Aber umgekehrt kann es nicht heißen, dass jeder Mehrebenen-Geistesblitz sofort in die richterliche Praxis implantiert werden kann. Hier helfen zwei “lose gekoppelte” Diskurse wahrscheinlich allen mehr?
[…] This article is a reply to Daniel Thym’s post on the “Solitude of European Law made in Germany“. […]
@T: Zur Ausdifferenzierung der Praxis (nat. Gericht, EuGH, EGMR) verhalten wir uns insofern selten, als solche Probleme nur sehr selten auftauchen. Wenn das doch einmal der Fall ist, muss die Zeit tatsächlich aufgewendet werden, und zwar zunächst vom Berichterstatter. Wie die Verwaltungsgerichte das machen, weiß ich nicht. In der ordentlichen Gerichtsbarkeit kann man verschiedene Umgehensweisen beobachten: Während zT klassische Instrumente (Darlegungslast, Substaiierungspflichten) mit dem Ergebnis gebrtuacht werden, dass die Probleme umgangen werden können, versuchen andere Spruchkörper die nicht nur aus sprachlichen Gründen zeitaufwändigere Auseinandersetzung mit EuGH- und EGMR-Rspr. zu leisten. Klärung tritt insofern allerdings oft erst durch eine entsprechende BGH-Entscheidung ein. Später findet man in den Urteilen der nat. Gerichte dann nur noch das BGH-ZItat und den maßgebenden abstrakten Rechtssatz des BGH.
@AL: Ich sehe das ganz anders. Systematische Komplexitätsreduktion im Sinne von Innovation findet durch die Rspr. statt, indem nämlich jeweils am Fall abstrakte Rechtssätze gebildet und im Rechtszug geklärt werden (vgl. Funktion des BGH, wie sie etwa in § 543 Abs. 2 ZPO zum Ausdruck kommt). Die Rechtswissenschaft beleuchtet anschließend die Systemkonkordanz kritisch bzw. passt Systeme an. Am gegebenen Bspl.: Wie gelangen Fälle nach Luxemburg oder Straßburg? Insbes. wenn man die erste und die zweite Instanz einbezieht, gehen Entscheidungen wissenschaftlichen Stellungnahmen und Versuchen der Komplexitätsreduktion gewöhnlich voran. Woder sonst sollte die Rechtswissenschaft auch ihr Fallmaterial beziehen? Allerdings driften wir mehr und mehr ab …
@Hartmut Rensen: Ich stimme Ihnen gewiss zu, dass Rechtsprechung Komplexität reduziert. Was ich mit “systematische (immer ein schlechtes Wort…) Komplexitätsreduktion” meinte, ist der Versuch, einmal wirklich die endemische Ausdifferenzierung der Praxis und die Proliferation der Rechtsquellen in den Griff zu bekommen: Also nicht wieder neue Kirschen auf die alte Torte stecken, sondern die Backstube neu denken. D A S könnte die Wissenschaft mal versuchen, im Alltagsgeschäft der Justiz sehe ich dafür keinen Raum.
@AL: Bloß müsste die “neue Backstube” dann wiederum der mehrsprachigen Praxis – EuGH und EGMR einerseits sowie nat. Gerichte andererseits – nahgebracht werden, und da sind wir wieder am Ausgangspunkt der Diskussion. In dem Beitrag zweier finnischer Autoren wird der notwendige Spagat der Rechtswissenschaft zwischen “nat. Schrebergärten” (vgl. auch endemische Ausdifferenzierung) und “internat. Reiseflughöhe” (vgl. den Beitrag den beiden finnischen Autoren zu den damit verbundenen Gefahren) übrigens ebenfalls besprochen.
@Hartmut Rensen: Ich sehe das größere Problem darin, die neue Backstube zu designen. Wenn das geschafft ist, finden sich eifrige Leute, die das dann in der Welt bekannt machen.
(Wie der bescheidene Wittgenstein im Vorwort seiner Doktorarbeit schrieb: “Wenn diese Arbeit einen Wert hat, so besteht er in Zweierlei. Erstens darin, dass in ihr Gedanken ausgedrückt sind, und dieser Wert wird umso größer sein, je besser die Gedanken ausgedrückt sind. – Hier bin ich mir bewusst, weit hinter dem Möglichen zurückgeblieben zu sein. Einfach darum, weil meine Kraft zur Bewältigung der Aufgabe zu gering ist. – Mögen andere kommen und es besser machen. Dagegen scheint mir die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben.”)
In der Tat eine spannende Debatte, die Daniel da angestoßen hat. Die vermeintlich fehlende Mehrsprachigkeit scheint mir aber kaum das Problem zu sein. Wenn man in Auswahlkommissionen beim DAAD LL.M.-Stipendiaten auswählt, die teilweise dann schon ihr drittes Auslandsjahr anstreben, dann bekommt man einen Eindruck vom Potential für die Zukunft. In Passau halten wir im Übrigen zahlreiche Schwerpunktvorlesungen im Völker- und Europarecht (nicht, nicht die Einführung) auf Englisch… das eigentliche Problem liegt nach meinem Eindruck daher eher in den begrenzten zeitlichen Ressourcen, die aus einem “sowohl als auch” schnell ein “entweder oder” machen, sowie in der in Deutschland kaum in vergleichbarer Weise möglichen fachlichen Spezialisierung (dt. = Verengung), die im Ausland gepflegt wird. Kein renommierter internationaler Europarechtler wird regelmäßig eine Große Übung im Öffentlichen Recht halten oder Vorlesungen im Verwaltungsrecht… die meisten sind selbst innerhalb des Europarechts auf Teildisziplinen spezialisiert, genauso wie im Völkerrecht ja auch. Nur der deutsche Volljurist glaubt immer noch, er könne alles. Dass dabei qualitativ leider manchmal nichts herauskommt, was Diskurse überhaupt voranbringt (und wäre es auch in alle Sprachen der Welt übersetzt), ist der Preis für mangelnde Spezialisierung, die allein noch die nötige fachliche Tiefe erlaubt.