Die EU rüstet auf: Außengrenzschutz der nächsten Generation
Sichtbare Risse durchziehen einen dogmatischen Grundpfeiler des europäischen Außengrenzschutzes. Als Teil eines umfassenden Legislativpakets schlägt die Europäische Kommission vor, notfalls auch ohne oder gegen den Willen des betroffenen europäischen Küstenstaates EU-Grenzschutzoperationen durchzuführen. Der erwartete Aufschrei potentiell betroffener Staaten zum Erhalt ihrer domaine reservé in Sachen souveräner Grenzsicherung ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Sieht man von ihrer politischen Sprengkraft ab, fragt sich dennoch, wie die Kommissionsvision eines wahrhaft europäischen Grenzschutzes mit geteilten Verantwortlichkeiten rechtlich zu bewerten ist.
Ein in jüngerer Zeit beispielloser Anstieg der Flüchtlingsströme zuerst über die östliche Mittelmeerroute und seit Herbst diesen Jahres über die Westbalkanroute überforderte die südlichen und südöstlichen EU-Staaten mit Schengen-Außengrenzen derart, dass die Grenzüberwachung und geregelte Grenzkontrollen nach dem Schengener Grenzkodex (SGK) und der Eurodac-Verordnung (VO VO (EG) 562/2006) nicht mehr stattfanden. Darin sind u.a. Einreiseverweigerungen für irreguläre Migranten ohne Gesuche nach internationalem Schutz und – als Funktionsvoraussetzung des Dublin-Systems – die vollständige Erfassung der Fingerabdrücke schutzsuchender Menschen aus Drittstaaten in der Eurodac-Datenbank vorgeschrieben.
Als Folge dysfunktionaler Außengrenzen reaktivierten zahlreiche Schengen-Binnenstaaten ihre grundsätzlich abgeschafften (Art. 20 SGK) Binnengrenzkontrollen, um dem drohenden Migrationskontrollverlust entgegen zu treten. Das war und ist ihnen unter den strengen Voraussetzungen der Art. 23, 25 I, 26 SGK als ultima ratio auf begrenzte Zeit durchaus möglich. Doch die der Dublin III-Verordnung zugrunde liegende Wunschvorstellung eines immer flüchtlingsfreieren Kerneuropas ließ sich faktisch schon nicht mehr aufrechterhalten. Der Ausnahmezustand wurde durch die Annahme zahlreicher Ersatzzuständigkeiten im Dublin-System (menschenrechtlich begründetes Überstellungsverbot und Residualzuständigkeit nach Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO) dem nicht unumstrittenen großzügigen Gebrauch der (zuständigkeitsbegründenden) Ermessensklausel (hier besprochen) zum Regelfall. Ein nach außen löchriger Schengen-Raum gefährdete die Personenfreizügigkeit im Inneren und unterminierte die im Dublin-System angelegte und von Art. 79 AEUV unionspolitisch geforderte „in allen Phasen wirksame Steuerung der Migrationsströme (…) sowie die Verhütung und verstärkte Bekämpfung von illegaler Einwanderung“.
Mit einem effektiven, und das meint notfalls unional verordneten Außengrenzschutz, so die Prämisse der aktuellen Kommissionsvorschläge, erübrigen sich diese Dominoeffekte im Raum ohne Binnengrenzen.
Status quo des Außengrenzschutzes
Das Grenzmanagement, bestehend aus Grenzkontrollen und Grenzüberwachung, liegt bisher noch fest in mitgliedstaatlicher Hand (Art. 1 II Frontex-VO). Gleichzeitig werden Außengrenzstaaten von der EU und anderen Mitgliedstaaten unterstützt, da und insoweit die Außengrenzstaaten einen gemeinsamen Raum ohne Binnengrenzen erst ermöglichen. Dafür steht Frontex, eine 2005 gegründete EU-Agentur ohne operationelle Befugnisse, dafür aber mit zahlreichen Koordinierungs- und Unterstützungsfunktionen. Sie zeugt vom souveränitätssensiblen Kompromisscharakter des status quo im Außengrenzschutz. Dazu gehört auch die Unabhängigkeit der Agentur von den EU-Organen. Jene üben keine tätigkeitsbezogenen Aufsichts- oder Weisungsrechte aus, sondern einzig mittelbare finanzielle Kontrolle des selbstverwalteten Agenturbudgets. Mangels tatsächlicher Eingriffsbefugnisse ist bisher nicht ersichtlich, wie auf EU-Ebene mit Ausnahme des zahnlosen Bürgerbeauftragten Rechtsschutz gegen Frontex selbst gewährt werden kann. Gleichzeitig nahm die Bedeutung von Frontex durch zahlreiche Veränderungen und Ergänzungen der Gründungsverordnung kontinuierlich zu, etwa durch die Möglichkeit, über Soforteinsätze Europäischer Grenzschutzteams mitzuentscheiden (RABIT-VO 2007) oder das Grenzüberwachungssystem EUROSUR zu betreiben (EUROSUR-VO 2013).
Die Mitgliedstaaten können selbstständig, d.h. im Verbund oder alleine Grenzschutzoperationen durchführen (als Beispiel dient die letzten Herbst ausgelaufene italienische Operation Mare nostrum), solange dies den Europäischen Grenzschutz nicht unterminiert. Daneben gibt es von Frontex koordinierte Einsätze in Form von Gemeinsamen Aktionen, Pilotprojekten und Soforteinsätzen, in denen aus mitgliedstaatlichen Grenzschützern zusammengestellte Teams unter der Leitung des Einsatzmitgliedstaates operieren. Der Einfluss der Grenzschutzagentur ist dabei beträchtlich: Sie betreibt die Risikoanalyse im Vorfeld, besitzt ein Vorschlagsrecht für Einsätze, erstellt den detaillierten Einsatzplan in Abstimmung mit dem Einsatzmitgliedstaat, begleitet den Einsatz durch einen Koordinierungsbeamten und kann ihn bei schwerwiegenden Rechtsverstößen abbrechen. Die Kosten solcher Einsätze werden – und darin liegt ein weiteres den Souveränitätsverlust kompensierendes Zückerli – von Frontex übernommen.
Ausnahme vom Souveränitätsvorbehalt
Der Kommissionsentwurf einer „Verordnung über einen europäischen Grenz- und Küstenschutz“ spricht nun die Sprache fortschreitender Supranationalisierung. Der Grenz- und Küstenschutz soll fortan im Zusammenwirken der mitgliedstaatlichen Grenzschutzbehörden und einer neuen „Europäische Agentur für Grenz- und Küstenschutz“ ausgeübt werden (Art. 3 des Entwurfs). Stand das französische Akronym „Frontex“ noch für die „Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit (…)“, ist die Neubenennung paradigmatisch. Selbst entgegen dem Willen des Küstenmitgliedstaates soll die Agentur Operationen auf dessen Hoheitsgebiet durchführen, wenn der Staat in außergewöhnlichen Belastungssituationen seinen unionsrechtlichen Verpflichtungen zur Grenzsicherung nicht nachkommt.
Die Agentur befasst sich zukünftig also selbst mit dem Grenzschutz. Neben die ursprüngliche Unterstützungsfunktion treten Überwachungs- und Reservefunktionen. Wann die Reservefunktion eingreift, es zu einer „emergency intervention“ kommt, entscheidet dem Kommissionsvorschlag zufolge – die Kommission. Mittels eines Durchführungsbeschlusses wird der unwillige oder unfähige Mitgliedstaat zur Kooperation mit der den Einsatz koordinierenden Agentur gezwungen (Art. 5 Abs. 3, Art. 18). Ob diese organkompetenzielle Besitzstandsmehrung der Kommission das letzte Wort ist, mag bezweifelt werden. Man erinnert sich an das – auch aus anderen Gründen bemerkenswerte – und in der Sache gar nicht so unähnliche Gesetzgebungsverfahren zu einem einheitlichen Bankenabwicklungsmechanismus. Damals sollte eine Bankenabwicklung durch den als unabhängige Agentur konzipierten Abwicklungsausschuss nur nach Zustimmung der Kommission erfolgen. Daraus wurde am Ende ein abgeschwächtes und mit dem Rat geteiltes Recht, Einwände geltend zu machen. Auch hier eine denkbare, aber letztendlich die Emanzipation einer technokratischen Grenzschutzagentur befördernde Option.
Kapazitätsaufbau statt Mangelwirtschaft
Die nationalen Grenzschutzbehörden taten sich im Herbst dieses Jahres schwer, den Personalforderungen von Frontex (erst hier, dann hier und wieder hier) nachzukommen. Fehlende personelle und technische Ausstattung der Agentur identifiziert die Kommission als Hauptursache für die mangelnde Außengrenzsicherung und langt in die Vollen: Die Agentur soll von z.Zt. etwas über 300 auf 1000 EU-Bedienstete in den nächsten fünf Jahren wachsen.
Gleichzeitig soll eine schnelle Eingreiftruppe von 1500 Grenzschützern Frontex innerhalb von drei Tagen von den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden. Zu einem gemeinsamen Ausrüstungspool tragen sowohl die Mitgliedstaaten als auch die neue Agentur bei. Dies ist nichts Neues, obschon Frontex wohl aus (Folge)kostengründen davon keinen Gebrauch gemacht hatte. Das Budget der Agentur soll dazu von den veranschlagten 143 Millionen Euro für das Jahr 2015 auf 322 Millionen Euro im Jahre 2020 wachsen. Dies würde das Frontex-Budget des ersten operativen Jahres 2006 mehr als verfünfzehnfachen und die Agentur zur finanzstärksten Regulierungsgsagentur der Lissabonner EU werden lassen.
Verbesserungen im Grundrechtsschutz
Bei der Frontex-Gründung war der institutionelle Grundrechtsschutz im menschenrechtlich hoch sensiblen Außengrenzmanagement noch übersehen worden. Dieser schlicht unhaltbare Zustand änderte sich mit der Neufassung der Frontex-VO im Jahre 2011 u.a. durch das Konsultationsforum für Grundrechtsfragen, einem Grundrechtsbeauftragten und der agenturinternen Grundrechtsstrategie nebst Verhaltenskodizes (Art. 2a, 26a Frontex-VO). Dieses Setting soll grundsätzlich bestehen bleiben, ohne dabei den aus dem Kommissionsvorschlag klingenden Innovationscharakter zu haben.
Eine tatsächliche Verbesserung könnte hingegen der agenturinterne Beschwerdemechanismus (Art. 72) sein, den auch der Europäische Bürgerbeauftragte und das Europäische Parlament für Frontex fordern. In den Reaktionsmöglichkeiten auf registrierte, d.h. zulässige Beschwerden zeigt sich die ganze Schwierigkeit des europäischen Grenzschutzkonstruktes. Die Agentur koordiniert die Einsätze, in denen der Einsatzmitgliedstaat die Befehlsgewalt ausübt. Die teilnehmenden Grenzschützer unterliegen der Strafgerichtsbarkeit des Einsatzmitgliedstaates und der Disziplinargewalt ihres Herkunftsmitgliedstaates. Zulässige Beschwerden werden vom Grundrechtsbeauftragten daher an den Exekutivdirektor sowie den zuständigen Staat weitergeleitet. Agenturbasierte Investigations- oder Sanktionsmöglichkeiten bestehen nicht, vielmehr sollen die Herkunftsstaaten „angemessene Folgemaßnahmen“ ergreifen und diese der Agentur mitteilen.Handelt es sich freilich um eine Beschwerde gegen einen Agentur-Bediensteten, ist Frontex selbst dafür zuständig.
Offen lässt der Verordnungsentwurf, ob und wenn ja, wie die Agentur Folgemaßnahmen der Herkunftsstaaten beaufsichtigen wird. Auch die Verantwortlichkeit des kommandoführenden Einsatzmitgliedstaates für das Fehlverhalten von Grenzschützern aus anderen Mitgliedstaaten wird durch eine Weiterleitung an den Herkunftsstaat nicht gestärkt. Ob die Begrenzung auf „directly affected“, d.h. unmittelbar betroffene Beschwerdeführer im Sinne des gleichlautenden Kriteriums des Art. 263 Abs. 4 AEUV formelle wie materielle Unmittelbarkeit umfasst, liegt nahe. Dies und die Effektivität des vorgeschlagenen Kontrollmechanismus kann daher erst nach näherer Ausgestaltung durch die Agentur bewertet werden.
Fragen an die nächste Generation
Was sich hinter den „Außendienstmitarbeitern“ der neuen Agentur verbirgt, lässt der Vorschlag offen. Aus einigen Referenzen im Entwurf ergibt sich, dass anders als bisher die Agentur die Europäischen Grenzschutzteams mit eigenen Mitarbeitern operativ verstärken können soll. Die grundsätzliche Zuordnungsmöglichkeit zu einem Herkunftsmitgliedstaat würde damit aufgehoben mit der Folge, dass die Agentur durch ihre Bediensteten (europäische?!) Hoheitsgewalt ausübt. Betrifft dies Fälle des erzwungenen Einsatzes (s.o.), wird die Agentur für Fehlverhalten ihrer Bediensteten unmittelbar zur Verantwortung zu ziehen und über Individualnichtigkeits- und Schadensersatzklagen vor dem Gerichtshof der Europäischen Union nachzudenken sein. Gleichzeitig wird damit für Rechtsschutzsuchende die ohnehin schon undurchschaubar komplexe Wirklichkeit der Außengrenzschutzsicherung um eine weitere Facette komplexer. Immerhin steht bei Maßnahmen von Frontex-Bediensteten dann nicht nur Frontex drauf (auf der Armbinde), sondern ist auch drin.
Ob eine unionale Reservefunktion im Außengrenzschutz eine kompetenzmäßige Ausübung der auf die Union übertragenen Hoheitsgewalt darstellt, lässt sich angesichts des weiten Wortlauts der Kompetenztitel (Personenkontrollen beim Überschreiten der Außengrenzen, Einführung eines integrierten Grenzschutzsystems, illegale Einwanderung und Aufenthalt) und der unionsgerichtlichen „Prüfdichte“ des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips kaum bezweifeln. Fraglich erschiene allenfalls, ob gerade einer unabhängigen Agentur diese Befugnisse übertragen werden dürfen. Die einschlägige Meroni/ESMA-Rspr. des EuGH lässt Befugnisübertragungen auf Agenturen zu, die das institutionelle Gleichgewicht der Organe unberührt lassen, der Agentur keine freie Ermessensausübung ermöglichen und die Tätigkeiten einer Rechtskontrolle durch den EuGH unterwerfen. Durch die Anbindung an die Kommissionsentscheidung und die im Verordnungsentwurf normierten (engen) Voraussetzungen für das unionale Tätigwerden erfüllt die Agentur zumindest das Kriterium der Ermessensbindung.
Soweit der Einsatz supranationaler EU-Grenzschützer eine besondere Eingriffsintensität besitzt, verlangt – analog zu der grundgesetzlichen Legitimationsanforderungen an Bundeswehreinsätze – das Primärrecht einen europäischen Parlamentsvorbehalt? In Hinblick auf das reine Außengrenzmanagement nach dem SGK lautet die Antwort wohl nein. Doch wie stünde es bei Kampfeinsätzen gegen organisierte Schmuggler und Menschenhändler? Auch in diesem Bereich sollen nach dem Kommissionsvorschlag Gemeinsame Aktionen und Soforteinsätze stattfinden. Ebenso fraglich ist, wie trennscharf dann noch zwischen dem europäisierten Grenzmanagement und der intergouvernementalen GASP (vgl. den derzeitigen EUNAVOR MED-Einsatz der Bundeswehr) unterschieden werden kann.
Zweifel ergeben sich schließlich an der Sinnhaftigkeit solcher aufoktroyierten Einsätze. Zum einen bleibt offen, welche Befehlsgewalt der Einsatzmitgliedstaat wider Willen im Rahmen der Operation ausübt, und wo bzw. in welchem Ausmaß Befugnisse auf die Agentur übergehen. Dass in besonderen Stresssituationen auf ein Organisationskonstrukt zurückgegriffen wird, das besonders effektiv sein muss, das aber im routinemäßigen Grenzmanagement nicht zum Einsatz kommt, erscheint bedenklich.
Erstes Fazit
Hinter der Rhetorik des großen Wurfes (im Gegensatz zu der bisher verfolgten Salamitaktik) kommen im Kommissionsvorschlag tatsächlich einige Neuerungen zum Vorschein. Letztendlich führt die Kommissionsvision allerdings zu einer Vertiefung der hybriden Grenzschutzstruktur, statt (endlich) den Weg eines konsequenten einheitlichen supranationalen Grenzschutzes einzuschlagen. Ob sich die EU-gesteuerten Notfallinterventionen als praktikabel erweisen, mag man bezweifeln. Insofern der vielbemängelten „organisierten Verantwortungslosigkeit“ im Außengrenzschutz durch den neuen Beschwerdemechanismus und Rechtsschutz vor dem Gerichtshof abgeholfen wird, ist der Reformvorschlag zu begrüßen. Was der anstehende gesetzgeberische Trilog mit Rat und Parlament daraus macht, bleibt abzuwarten.