Die EZB vor dem Bundesverfassungsgericht, Teil 1
Es ist wieder Sommer in Karlsruhe, und wieder wird über Europa verhandelt vor dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts, über EZB, ESM, Fiskalpakt und die Frage, ob wir vor lauter Eurorettung unsere Demokratie kaputt machen. Zwar scheint mir die Erwartung der Öffentlichkeit an den Ratschluss der acht Richterinnen und Richter nicht mehr ganz so fiebrig zu sein wie im letzten Jahr. Aber dennoch war mir nicht danach zumute zu widersprechen, als Peter Gauweilers Prozessvertreter Dietrich Murswiek sein Eingangsstatement heute morgen mit den Worten begann, es handle sich bei dieser Verhandlung um einen „historischen Moment“ und bei dem bevorstehenden Urteil um das „bedeutsamste seit Jahrzehnten und für Jahrzehnte“. Wenngleich ich nicht sicher bin, ob wir aus dem gleichen Grunde zu diesem Urteil kommen.
Wenn ich mich nicht irre, ist der Zweite Senat gerade dabei, dem Bundesverfassungsgericht eine umfassende Auffangkompetenz auf den Leib zu schneidern, alles, was auf supranationaler Ebene irgendwo entschieden oder auch nur getan wird und wogegen es woanders keinen individuellen Rechtsschutz gibt, in Karlsruhe zu überprüfen. Das wäre eine echte Revolution.
Im Mittelpunkt des heutigen ersten Verhandlungstags stand die Europäische Zentralbank: Hat die EZB mit ihrer Ankündigung, wackelnden Euroländern durch notfalls unbegrenzten Ankauf ihrer Anleihen Luft zu verschaffen, das Maß des ihr rechtlich Erlaubten überschritten? Damit diese Frage das Verfassungsgericht überhaupt erst erreicht, müssen die Klagen dagegen erst einmal zulässig sein.
Das ist schon mal ein Problem, und zwar kein geringes. Die EZB hat schließlich noch gar nichts rechtlich Belastbares beschlossen, sondern lediglich angekündigt, dies tun zu wollen, sobald es nötig wird. Der Prozessvertreter der Bundesregierung Ulrich Häde erklärte, es gebe gar keinen zulässigen Beschwerdegegenstand. Der Senatsvorsitzende Andreas Voßkuhle gab indessen zu erkennen, dass er die Ankündigung als Realakt sieht, ähnlich wie eine Verbraucherwarnung der Regierung, die auch keine Rechtsqualität hat und trotzdem Grundrechte verletzen kann. Häde gab dagegen zu bedenken, dass anders als bei Verbraucherwarnungen ein rechtsverbindlicher Beschluss der EZB noch gefällt werden würde, bevor es zum Anleihenkauf kommt. (EZB-Direktoriumsmitglied Jörg Asmussen bestätigte das später.)
Christoph Möllers, Vertreter des Bundestages, versuchte eine andere Verteidigungslinie zu etablieren: Dass sich die EZB-Ankündigung auch ohne rechtsverbindlichen Beschluss massive Wirkungen nach sich gezogen hat, sei nicht zu bezweifeln – die Frage sei aber, worauf. Wenn die Regierung eine Verbraucherwarnung veröffentlicht, liege der Eingriff der individuellen Freiheitssphäre des betroffenen Unternehmens auf der Hand. Dem betroffenen Individuum sei es „relativ wurscht“, ob auf seinem Grundrecht rechtlich oder bloß faktisch herumgetrampelt wird. Aber hier?
Das Grundrecht, auf das sich die Verfassungsbeschwerdeführer stützen, ist bekanntlich Art. 38 GG – ihr Recht, ihre Mitwirkungs an der demokratischen Selbstbestimmung des deutschen Volkes nicht entleert zu sehen. Das war schon 1993, als sich das BVerfG auf diese Weise den Zugriff auf den Maastricht-Vertrag sicherte, eine kühne prozessuale Konstruktion, aber bitte.
Jetzt aber auch so etwas wie eine EZB-Ankündigung ausreichen zu lassen, um eine beschwerdefähigen Eingriff in Art. 38 GG anzunehmen, ist ein viel weitergehender Schritt. Und zumindest Voßkuhle und Berichterstatter Peter M. Huber scheinen entschlossen, diesen Schritt zu gehen. Huber betonte dabei vor allem, dass womöglich vor dem EuGH für individuelle Kläger kein Rechtsschutz zu erlangen sein könnte.
Häde unternahm den Versuch, das Ruder herumzuwerfen, indem er auf die Bundesbankpraxis der 70er Jahre verwies: Damals habe die Bundesbank ebenfalls Anleihen gekauft. Wer dagegen vor ein Verwaltungsgericht gezogen wäre, der wäre „krachend an der Klagebefugnis gescheitert“. Häde gab Murswiek insoweit Recht, als „wir hier wirklich einen historischen Moment haben: Es gilt innezuhalten und zu fragen, ob das die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts sein kann, eine Art Popularklage gegen Akte aus Europa unahängig von der individuellen Betroffenheit zuzulassen“.
Immerhin gab es auf der Richterbank auch kritische Stimmen dazu, vor allem von Gertrude Lübbe-Wolff, die sich wohl, wenn nicht alles täuscht, zum Abschluss ihrer Richterkarriere noch zu einem ihrer berühmten Sondervoten aufschwingen wird. Sie fragte sich, ob „das ganze nicht doch ein bisschen in die Richtung des Unterfangens geht, der Elbe zu befehlen, sie soll nicht über die Ufer treten, statt deutschen Staatsorganen zu befehlen, höhere Ufer zu bauen.“ Das Grundgesetz lege in die Hände des Bundesverfassungsgerichts die Aufgabe, Grundrechtsträger gegen Übergriffe der deutschen öffentlichen Gewalt zu schützen, nicht der europäischen – zumal hier auch ein Konflikt mit dem Ersten Senat drohe, der dies ebenfalls anders sehe.
Auch Richter Michael Gerhardt scheint noch Zweifel zu haben. Er fragte, ob es für einen „vorbeugenden Rechtsschutz“ womöglich noch zu früh sei, wenn die Details dessen, was die EZB tut, mangels Beschluss noch gar nicht bekannt sind.
Huber und Voßkuhle und auch Herbert Landau ließen klar erkennen, in welche Richtung sie denken: Aus ihrer Sicht geht es um die Frage, dass die Bürger im Mehrebenensystem Kontrollverluste erleiden, die kompensiert werden müssen – und zwar dadurch, dass sie ihr Recht auf Demokratie in Karlsruhe einklagen können.
Martin Nettesheim, ebenfalls Vertreter des Bundestags, versuchte vergeblich, mit einer meiner Meinung nach sehr treffenden Unterscheidung zu der Funktion von Art. 38 GG zu punkten: Gehe es dabei um die Ermöglichung von Demokratie, den Bürgern einen Möglichkeitsraum für Demokratie zu sichern? Oder gehe es dabei darum, demokratische Prozesse inhaltlich zu kontrollieren? Den Klägern, so Nettesheim, gehe es erkennbar um Letzteres: Sie strebten an, das Bundesverfassungsgericht als „obersten Vernunftrichter, als obersten Behüter“ zu etablieren und den Bundestag zu einer Art apolitischer Verwaltungsbehörde, die nur noch dazu da ist, die Kompetenzmäßigkeit aller möglichen europäischen Handlungen zu kontrollieren. Und was die EZB betrifft, so sei es im Sinne der Ermöglichung von Demokratie womöglich sogar das kleinere Übel, wenn er in einer akuten Krisensituation informell handle, anstatt formell und damit unrevidierbar Kompetenzen auf die europäische Ebene zu verlagern.
Das schien aber nicht zu verfangen. Landau deutete Nettesheims Position so, dass sie darauf hinauslaufe, einen „Teil der demokratischen Selbstzbestimmung völlig entschädigungslos entfallen“ zu lassen. In der „alten Bundesrepublik“ habe der Bürger klare politische Gestaltungsmöglichkeiten gehabt. In der EU dagegen – „solange wir keinen Bundesstaat haben“ – sei davon keine Rede mehr. Voßkuhle stieß in das gleiche Horn: Es müsse auch im Mehrebenensystem eine Möglichkeit für die Bürger geben, sich zu wehren, wenn „andere gemeinsame Sache machen, die nicht dem Gemeinwohl entspricht“. Die EZB sei gerade wegen ihrer Unabhängigkeit eine „sehr schöne Organisation“ für die Mächtigen, Entscheidungen herbeizuführen, die gegen demokratische Kontrolle nahezu immun sei – „für alle Beteiligten fast perfekt, bis auf diejenigen, die die Zeche zahlen müssen“.
Das will er offenbar über Art. 38 aufgefangen sehen.
Nun bin ich bei der Diagnose gar nicht unbedingt anderer Meinung. Nur bei der Therapie habe ich meine Zweifel. So sehr ich das Bundesverfassungsgericht und seine Art, an schwierigste verfassungspolitische Probleme heranzugehen, liebe – ob das die richtige Methode ist, künftig den Deutschen das Gefühl zu geben, dass auch in einer globalisierten und europäisierten Welt demokratietheoretisch alles so ist wie in Landaus „alter Bundesrepublik“, das erscheint mir doch sehr zweifelhaft. Das Recht kann nicht alles determinieren, schon gar nicht das Verfassungsrecht, und schon überhaupt gar nicht in Europa, wo der deutsche Legalismus fast überall als, nun ja, eben sehr deutsch gesehen wird.
Erstaunlich fand ich, dass zwar immerfort von einer Institution die Rede war, die Unabhängigkeit von politischer Einflussnahme genießt und daher um so strenger gehalten sein muss, ihre rechtlichen Kompetenzgrundlagen nicht zu überdehnen. Aber damit war immer nur die EZB gemeint. Nie das Bundesverfassungsgericht selbst.
Teil 2 des Verhandlungsberichts folgt morgen.
Anschauliche Beschreibung und für mich eine feinsinnige Kommentierung! Auch die Rolle und Funktion des Bundesverfassungsgerichts wird kritisch reflektiert, zumindest angedeutet. Danke! Allerdings verraten Sie uns nicht, welche Therapie Sie empfehlen. Ich bin neugierig.
>>Voßkuhle stieß in das gleiche Horn: Es müsse auch im Mehrebenensystem eine Möglichkeit für die Bürger geben, sich zu wehren, wenn „andere gemeinsame Sache machen, die nicht dem Gemeinwohl entspricht“. Die EZB sei gerade wegen ihrer Unabhängigkeit eine „sehr schöne Organisation“ für die Mächtigen, Entscheidungen herbeizuführen, die gegen demokratische Kontrolle nahezu immun sei – „für alle Beteiligten fast perfekt, bis auf diejenigen, die die Zeche zahlen müssen“.
Das klingt ja geradezu wie die französischen Forderungen nach einem gouvernement économique… Erstaunlich, dass das Verfassungsgericht jahrzehntelang die Unabhängigkeit der Bundesbank geduldet hat! Aber das war ja wohl die “alte Bundesrepublik”, wo die Welt noch in Ordnung war.
Unterdessen würde mich doch sehr interessieren, ob das “Gemeinwohl”, auf das Herr Voßkuhle die EZB verpflichten will, ein national-deutsches oder ein gesamteuropäisches ist. Und ob man, falls Letzteres der Fall sein sollte, die ganze Sache nicht vielleicht doch besser den gemeinsamen supranationalen Institutionen überlassen und diesen Fall dem EuGH vorlegen sollte.
[…] https://staging.verfassungsblog.de/de/die-ezb-vor-dem-bundesverfassungsgericht-teil-1/#comment-89895 […]
Wenn ich unterstelle, dass sich die von Präs. Voßkuhle und BE Huber angeführte Fraktion sowohl in der Zulässigkeitsfrage als auch in der Frage eines Eingriffs in Art. 38 GG durchsetzen wird, so fragt sich doch, wie denn die Grenzziehung aussehen könnte und wie die Kontrolle durch das BVerfG. Gab es dazu ebenfalls Andeutungen der Beteiligten?