Die Fastenpredigt des Verfassungsrichters
Buchrezension für Deutschlandradio Kultur
Udo Di Fabio: “Wachsende Wirtschaft und Steuernder Staat”, Berlin University Press, Berlin 2010, 225 Seiten
Fünf Jahre ist es her, dass Udo Di Fabio ein berühmter Mann wurde: 2005 veröffentlichte der Staatsrechtsprofessor und Verfassungsrichter sein Buch “Die Kultur der Freiheit”. Darin forderte er die Deutschen derart unverbrämt zur Rückkehr zu Nation und Seitenscheitel, zu Fleiß und Vaterlandsliebe, zu Kirchgang und Kinderkriegen auf, dass der Kritik über so viel Mut zur Reaktion der Atem stockte. Das Buch wurde ein Bestseller.
Seitdem ist viel passiert. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Welt erschüttert. Ein Scheitern der europäischen Einigung ist denkbar geworden – im gleichen Moment, da sie unverzichtbarer scheint denn je. Auf Di Fabio scheint sich all dies dämpfend ausgewirkt zu haben: Statt einer Kampfschrift, wie sein Werk von 2005 eine war, hält uns der Jurist in seinem jüngsten Buch eine Fastenpredigt.
Die Wirtschaft, so Di Fabios Ausgangsthese, ist unser Schicksal: Alles hängt von ihrem Wachstum ab, insbesondere auch ihr scheinbarer Antipode, der Sozialstaat.
Eine kräftig wachsende Wirtschaft löst vielleicht nicht alle Probleme, aber sie lässt fast alles als lösbar erscheinen, weil Finanztransfers ohne Opfer des Einschnitts schon aus den Zuwächsen vorgenommen werden können. Der Staat lenkt insofern mit der Wachstumswirtschaft eine schnittige Yacht, die stets im Wind liegen muss, immer in voller Fahrt. Die Politik gibt die Richtung mit einer leichten Bewegung am Steuerruder vor, indem sie Zuwächse hin und her schiebt, Impulse gibt und Anreize ebenso wie Grenzen setzt, den privaten Akteuren öffentliche Zwecke implementiert.
Das Bild mit der Yacht ist mit Bedacht gewählt: Es suggeriert Sorglosigkeit, Luxus, Unernst. Wachstum, so Di Fabio, verwöhnt und verführt, den Sinn für Proportion über Bord zu werfen. Wenn alles in den Dienst des Wirtschaftswachstums gestellt wird, dann, so Di Fabio, kann die Wirtschaft irgendwann gar nicht mehr anders als aufhören zu wachsen: Dann wird in den Schulen und Hochschulen nicht mehr genug gelernt. Dann fliegen den Banken ihre Finanzinstrumente und Staaten ihre Schulden um die Ohren und mit ihnen ihre Fähigkeit, die Konjunktur zu steuern.
Was also tun? Nicht sauertöpfische Askese, nicht Abkehr und Verzicht empfiehlt Di Fabio, dieser Jünger des Soziologen Niklas Luhmanns und Virtuose in der Anwendung von dessen systemtheoretischen Handwerkszeug. Meisterhaft rekonstruiert er, welche Freiheits- und Wohlstandsgewinne die Ausdifferenzierung des heutigen globalen Wirtschafts- und Finanzsystems über die Jahrhunderte ermöglichte. Di Fabio ist aber auch gläubiger Katholik. Diese Entwicklung einer ausdifferenzierten, weltlichen Gesellschaft kann man nicht zurücknehmen, schreibt er.
… aber man kann kritisch auf sie reagieren, und zwar mit der Vermittlung souveränen Umgangs, aber mehr noch mit dem kulturellen Gegenentwurf eines anderen, leiseren, unmittelbareren und “besseren” Lebens.
Womit wir beim Thema Kirche und Kinderkriegen wären, beim Programm seines ersten Buches, und sich der Kreis schließt. Eigentlich. Zwei Dinge fallen jedoch auf: Zum einen fehlt der kämpferische Anklagetonfall, mit dem Di Fabio in seinem ersten Buch das Lotterleben seiner liberaleren Zeitgenossen anprangerte. An seiner Lobpreisung der Sekundärtugenden Anstand, Fleiß und Ordentlichkeit, an seiner Idyllisierung der fünfziger Jahre mit ihrem Bildungs- und Leistungsdrang hat er zwar nichts zurückzunehmen. Aber dem Verdacht, er habe damit Reaktionäres im Sinn, tritt er ausdrücklich entgegen:
Locker sind wir alle, befreit aus allerlei Konventionen und altväterlicher Sitte. Das war eine unvermeidliche Entwicklung, es war auch keine des Verfalls, wenn etwas Neues und dem Alten Überlegenes entsteht.
Zum anderen, und das ist noch bemerkenswerter, fehlt im Kanon der Werte, auf die wir uns rückbesinnen sollen, diesmal fast völlig die Nation. Dass die Deutschen Deutsche sind, spielt in Di Fabios jüngstem Buch kaum eine Rolle. Und das, obwohl Europa und der schrumpfende Spielraum für nationale Selbstbestimmung darin großen Raum einnehmen. Ob das mit der öffentlichen Schelte für das euroskeptische Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu tun hat, das Di Fabio 2009 mitverfasste?
Gelungen ist das Buch vor allem als analytische Leistung. Die Menge der Fäden, die der Verfassungsjurist zu einem kohärenten Bild zusammenwebt – vom Bildungssystem bis zur internationalen Finanzmarktsteuerung -, ist enorm, und das Ergebnis beeindruckend. Dass keine handfeste Handlungsempfehlung dabei herauskommt außer der, Maß zu halten und anständig zu bleiben, ist eher Vorzug als Makel des Buches.
Denn lieber eine kluge Fastenpredigt als eine törichte Kampfschrift.