Die fragwürdige Autonomie von Karlsruhe
Zum Sterbehilfe-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020
Das „Urteil über Leben und Tod“, das der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts am Mittwoch, den 26. Februar 2020 sprach, ist ein „Paukenschlag“ und eine „fundamentale Wende im Denken über die Beendigung des Lebens“. Es geht deutlich über die Bestimmungen des Bundesverwaltungsgerichts hinaus, das im Frühjahr 2017 schwer und unheilbar Kranken „in einer extremen Notlage“ einen Anspruch auf die Bereitstellung einer tödlichen Substanz zugestanden hatte (BVerwG 3 C 19.15).
Der Applaus, der den Senatssaal nach Verlesung des Urteils erfüllte, hallt derzeit in vielen medialen Reaktionen laut nach. Von einem „Hochamt der Autonomie“, ja einem „Befreiungsschlag“ ist hier die Rede, der als „Ausdruck einer grundsätzlichen Liberalität“ zu verstehen sei. Mit der „Betonung der individuellen Freiheit“ habe Karlsruhe die Verhältnisse „geradegerückt“. Das Gericht habe dem Staat „die Herrschaft über den Tod [spektakulär] entwunden“ und „dem Individuum zurückgegeben.“
Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Richterinnen und Richter gerade den Schlüsselbegriff der Autonomie substanziell verengen. Maßgebliche Dimensionen der Autonomie bleiben verdeckt oder werden nicht ausreichend gewürdigt: ihr allen Handlungen vorausliegender normativer Status, ihre Unveräußerlichkeit, schließlich ihre stets prekäre Umsetzung im sozialen Gefüge. Vor dem Hintergrund einer anspruchsvoll gedachten Autonomie lässt sich ein allgemeines Recht auf Selbsttötung inklusive der Freiheit zur Assistenz nicht als deren Ausdruck interpretieren. Karlsruhe scheitert mit seinem Verständnis an dem Prinzip, das es vorgibt, zur Geltung zu bringen.
Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben – Herleitung und Inhalt
Das Bundesverfassungsgericht leitet das Recht auf selbstbestimmtes Sterben aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG her (Rdnr. 202ff. des Urteils). Es weist zunächst die innere Zusammengehörigkeit der beiden Garantien nach: Die freie Entfaltung der Persönlichkeit liegt in der Würde des Menschen als unbedingtes Schutz- und Achtungsgut begründet. Die Achtung vor der Würde des Menschen umfasse insbesondere die „Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität“, die nur dann gelinge, wenn „der Mensch über sich nach eigenen Maßstäben verfügen kann und nicht in Lebensformen gedrängt wird, die in unauflösbarem Widerspruch zum eigenen Selbstbild und Selbstverständnis stehen“ (207).
Der Anspruch erstreckt sich auf sämtliche Lebensbereiche, so auch auf die Gestaltung des Lebensendes, den persönlichen Umgang mit Tod und Sterben. Daher sei ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts anzuerkennen. Es beschränke sich nicht auf Menschen, die unter einer schweren oder unheilbaren Krankheit leiden. Die Knüpfung des Schutzbereichs an bestimmte materielle Kriterien sei „dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes fremd“ (210). Vielmehr stehe jeder Bürgerin und jedem Bürger, unabhängig der Lebenssituation, ein solches Recht zu.
Inhaltlich schließt das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ein „Recht auf Selbsttötung“ (208) ein. Die Entscheidung, sich selbst das Leben zu nehmen, sei als „Ausfluss des eigenen Selbstverständnisses und grundlegender Ausdruck der zu Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähigen Person“ (209) zu verstehen. Das Recht auf Selbsttötung garantiert so, „dass der Einzelne über sich […] autonom bestimmen und damit seine Persönlichkeit wahren kann“ (ebd.). Wer sich zu Beendigung seines Lebens eigenverantwortlich entschließt, muss dafür keine „weiter[e] Begründung oder Rechtfertigung“ (210) liefern. „Maßgeblich ist der Wille des Grundrechtsträgers“ (ebd.). Dessen Entschluss sei „von Staat und Gesellschaft zu respektieren“ (ebd.).
Von dem Fall des an sich selbst handelnden Suizidenten geht das Gericht schließlich über zur Suizid-Assistenz durch Dritte. Das Recht auf Selbsttötung umfasse auch die „Freiheit, […] bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen“ (212). Die Garantie des Grundgesetzes, seine Persönlichkeit im Austausch mit Dritten zu entfalten, gelte damit „auch für denjenigen, der erwägt, sein Leben eigenhändig zu beenden. Gerade er sieht sich vielfach erst durch die fachkundige Hilfe kompetenter und bereitwilliger Dritter, insbesondere Ärzte, in der Lage, hierüber zu entscheiden und gegebenenfalls seinen Suizidentschluss in einer für ihn zumutbaren Weise umzusetzen“ (213). Faktisch verhindere der §217 StGB eben diese Möglichkeit. Er stelle eine unverhältnismäßige Einschränkung des Persönlichkeitsrechtes dar und sei daher nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.
Die voluntaristische Verengung
Bemerkenswert ist zunächst, wie sehr Autonomie und Selbstbestimmung in der richterlichen Auslegung ineinanderfließen. In der häufig verwendeten Formel der „autonomen Selbstbestimmung“ (207, 210, 222, 232, 239, 275, 299) hängt die Autonomie, zum Attribut verkleinert, der Selbstbestimmung nur mehr an, und es wird nicht klar, was sie der Selbstbestimmung überhaupt hinzufügt. Autonomie scheint hier nichts anderes zu beschreiben als eine dezisionistische Kompetenz.
Diese Kompetenz wird vom Gericht als „Verfügungsrecht über das eigene Leben“ (210) gedeutet. Ich verfüge über mein Leben heißt, ich habe die Entscheidungsgewalt darüber, wann und wie ich es beende. In der semantischen Logik eines Besitzverhältnisses kommt dem Leben nur mehr der Wert zu, den ich ihm anordne. Das Leben ist nicht an sich, sondern nur für und durch mich wertvoll. Mein Leben und mein Tod, die mir gehören, sind in den Gebrauch meiner Willkür gestellt.
Alles orientiert sich am „Willen“, den das Gericht so stark partikularisiert, dass er sich nicht nur „allgemeine[n] Wertvorstellungen, religiöse[n] Gebote[n]“ oder „gesellschaftliche[n] Leitbilder[n]“, sondern auch „Überlegungen objektiver Vernünftigkeit entzieht“ (210). Der Wille ist hier reine voluntas, das schlechthin Selbstische. Er bedarf keiner Rechtfertigung, er steht für sich – absolut, vereinzelt. Nietzsches Zarathustra predigt ihn mit den Worten: „Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will.“
Vom Willen, der den eigenen Tod herbeiführt, sagt das Gericht, er könne „die Persönlichkeit wahren“ (209). Und doch: Er bewahrt die Persönlichkeit zum Preis ihrer Zerstörung. Als Widerspruch wollen die Richterinnen und Richter das nicht gelten lassen. Ihnen nach steht die Menschenwürde der Entscheidung, sich zu töten, nicht nur nicht entgegen. „Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben ist vielmehr unmittelbarer Ausdruck der der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung; sie ist, wenngleich letzter, Ausdruck von Würde“ (211).
Damit wird der Suizid, so der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats Peter Dabrock, „geradezu als Besiegelung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und damit der Menschenwürde ausgelegt. Das verkehrt alles“, so Dabrock weiter, „was das Gericht bislang über Menschenwürde gesagt hat“. Als Beispiel ist hier etwa das Urteil zum Luftsicherheitsgesetz zu nennen, in dem das Bundesverfassungsgericht den internen Zusammenhang zwischen dem Grundrecht auf Leben und der Menschenwürde hervorhebt (Rdnr. 120).
Zum normativen Status der Autonomie
Autonomie – aus dem Altgriechischen autós (selbst) und nómos (Gesetz) – bedeutet wörtlich „Selbstgesetzgebung“. Sie meint also die Freiheit, sich nach bestimmten ethischen oder juridischen Gesetzen selbst zu bestimmen. Gesetze stellen verallgemeinerte Handlungsgrundsätze dar, sie sind auf einer abstrakteren Ebene als die situative Entscheidung für oder gegen eine Handlung angesiedelt. Als bedingungslose Grundausstattung menschlicher Personalität liegt sie den einzelnen Handlungen voraus. Ihre Qualität bemisst sich insbesondere nicht am Erfolg einer Handlung.
Immanuel Kant führte dies so aus: „Wenn gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur, es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlete, seine Absicht durchzusetzen; wenn bei seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der gute Wille (freilich nicht etwa ein bloßer Wunsch, sondern die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Wert in sich selbst hat.“((Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Band IV. Berlin 1903, 2. Aufl. 1911 [1785]. S. 394.))
In diesem Sinn hat auch ein künstlich ernährter Mensch mit Demenz Autonomie. Denn die Autonomie strahlt weiter als der Körper seinen Gliedern Handlungen gebietet. Sie bleibt der Last, sich durch gewisse Fähigkeiten oder kognitiven Merkmale beweisen zu müssen, prinzipiell entzogen. Dies gilt in gleicher Weise für die Würde, die als axiomatische Qualität des Menschseins von keinen, wie auch immer definierten Leistungskriterien abhängt, – so wie sich Franz Müntefering einst ausdrückte: „Die Würde des Menschen hat nichts zu tun damit, ob er sich selbst den Hintern abputzen kann.“
Das heißt nicht, dass ein Mensch nicht zum Teil sehr schmerzhafte Einschränkungen seiner Handlungs- und Kognitionsfähigkeit erleidet. Und erst recht heißt es nicht, man solle über diese Einschränkungen hinwegsehen. Im Gegenteil gilt es, unter „Aufbietung aller Mittel“, wie Kant schreibt, die Autonomie lebensweltlich zu fördern. Sie muss allerdings gerade auch dort verortet werden, wo sie empirisch fehlschlägt, weil dies unserem Selbstverständnis als verantwortungsfähiges Subjekt Rechnung trägt, dem jederzeit Schutz und Achtung geschuldet wird. So schreibt Heiner Bielefeldt: „Die Autonomie, die es […] zu fördern gilt, ist stets zugleich – in wie auch immer gebrochener, vielleicht nur noch rudimentärer Form – vorauszusetzen“ (S. 58).
Die Unveräußerlichkeit der Autonomie
Autonomie ist unveräußerlich. Man kann sie nicht übertragen, verkaufen oder in sonst einer Form auf sie verzichten. Denn das würde bedeutet, man verzichte darauf, Person zu sein. So lautet die Einschätzung, wie sie klassischer Weise in der Aufklärungsphilosophie, etwa bei Jean-Jacques Rousseau zu finden ist: „Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Eigenschaft als Mensch, auf seine Menschenrechte, sogar auf seine Pflichten verzichten.“((Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Hrsg. von Hans Brockard. Stuttgart 2011 [1762]. S. 11.)) Ein solches Verhalten aber sei widersprüchlich. Die unumkehrbare Löschung der Autonomie im suizidalen Akt kann selber nicht im Sinne der Autonomie gedeutet werden.
Wie dargestellt, bezieht Karlsruhe die entgegengesetzte Position, begreift die Lebensbeendigung als authentischen Ausdruck von Autonomie und Menschenwürde, und erklärt dazu: „Die Würde des Menschen ist […] nicht Grenze der Selbstbestimmung der Person, sondern ihr Grund“ (211).
Dabei wird jedoch übersehen, dass Grund und Grenze kein Ausschließungsverhältnis bilden, sondern vielmehr zusammengehören: Die Menschenwürde bildet die Grenze der Autonomie, und zwar als deren Grund. Es ist eine Grenze, die der Freiheit auf ihrem eigenen Boden erwächst. Sie kommt nicht als Einschränkung von außen, sondern markiert eine immanente Grenze der Autonomie.
Die prekäre Umsetzung der Autonomie
Die Autonomie ist denkbar weit entfernt von der Vorstellung eines solipsistischen Souveräns, der sich selbstbewusst und kraftvoll gegen andere durchsetzt. Mit Jürgen Habermas lässt sich die lebensweltliche Seite der Autonomie besser beschreiben als „eine prekäre Errungenschaft endlicher Existenzen, die nur eingedenk ihrer physischen Versehrbarkeit und sozialen Angewiesenheit überhaupt so etwas wie ‚Stärke‘ erlangen können“ (S. 63 f.).
Das Bundesverfassungsgericht erkennt den Beziehungsgehalt der Autonomie grundsätzlich an: „Selbstbestimmung ist immer relational verfasst“ (235). Die Suche und Inanspruchnahme suizidaler Assistenz „bleibt nicht auf die engste Privatsphäre beschränkt“, sondern „wirkt in die Gesellschaft hinein“ (222). Bemerkenswert ist, dass durch die Betonung des relationalen Aspekts vor allem die „Missbrauchsgefahren“ (ebd.), etwa „die Entstehung sozialer Pressionen“ (235) in den Fokus rücken. Die Richterinnen und Richter bestätigen die Gefahr, die der §217 StGB nach dem Entwurf von Michael Brand (CDU) und Kerstin Griese (SPD) zu bannen versuchte. Explizit heißt es: Die „Gefahrenprognose des Gesetzgebers [hält] einer verfassungsrechtlichen Prüfung stand“ (239).
In der Auslegung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben wird der Aspekt hingegen nur unzureichend zur Geltung gebracht. Auf andere angewiesen sein heißt hier, sich von Dritten bei der Selbsttötung unterstützen zu lassen. Die Relationalität bezieht sich allein auf die Ausführung des Willens. Dass sich der Wille auch in seiner Konstituierung ins Verhältnis setzt zu den Willen anderer, mit denen er einen gewissen Ausgleich sucht, kommt durch den starken Fokus, den das Gericht auf den in sich selbst zurückgezogenen Willen legt, nicht in Betracht.
Darüber hinaus ist die Rolle der Dritten, deren Assistenz immer freiwillig zu erfolgen hat, höchst fragwürdig: Sie meinen dort solidarisch zu sein, wo sie den Menschen entsolidarisieren, nämlich ganz physisch aus der Gesellschaft nehmen. Sterbehilfeorganisationen wie die schweizerische Initiative Exit tragen dieses Selbstverständnis im Namen. Es mutet einigermaßen traurig an, zu denken, mit dem leisen Wink „Bitte, da ist der Ausgang“ sei der Vulnerabilität des Menschen angemessen begegnet. Wenn man sich insbesondere bewusst macht, wie nah Lebens- und Todeswunsch oft beieinanderliegen, lässt sich erkennen: Es liegt im Interesse der Autonomie, die Ambivalenz nicht in jener Weise einseitig aufzulösen.
Dass der Suizid heute nicht mehr als „Selbstmord“ klassifiziert wird, stellt eine in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Einsicht der Gesellschaft dar, die sich einer moralischen Anklage von außen im Angesicht des unergründlich Tragischen enthält. Ein allgemeines Recht auf Selbsttötung geht allerdings darüber hinaus, ja verkehrt diese Einsicht. Mit der Autonomie, die ihre immanente Grenze und die Prekarität ihrer Umsetzung kennt, ist eine solche weitreichende Regelung nicht zu rechtfertigen.
Man kann es in schönstem Neusprech “anspruchsvoll gedachte Autonomie” nennen und durch namedropping aufzuwerten versuchen. Im Kern bleibt es die moralische Überzeugung, dass der Einzelne nicht die Freiheit haben soll, über sein Leben zu verfügen; dass Menschenwürde eine von außen (bzw. “oben”) auferlegte Bürde ist, die es zu Tragen gilt; eine Pflicht, sich “würdig” zu verhalten.
Diese Überzeugung dürfen Sie gerne für sich ausleben. Aber weder Sie noch der Staat haben das Recht, sie anderen aufzuzwingen.
Jeder Jurastudent im ersten Semester lernt amüsiert, dass es ein “Grundrecht auf Kiffen” und eines auf “Reiten im Walde” gibt. Und dann soll ausgerechnet die denkbar persönlichste Entscheidung, die über das Ende des eigenen Lebens, von vornherein nicht grundrechtlich geschützt sein? Mit der unweigerlichen Konsequenz eines quasi unbegrenzten Zugriffs des Staates? Und das alles im Namen einer “anspruchsvoll gedachten Autonomie”? Das ist atemberaubend.
“Sie meinen dort solidarisch zu sein, wo sie den Menschen entsolidarisieren, nämlich ganz physisch aus der Gesellschaft nehmen.”
Gruseliger Satz. Und ich dachte, die Zeit der organizistischen Gesellschaftsbildern sei vorbei. Zumal in Ihrem Metier.
Im Übrigen schließe ich mich meiner Vorrednerin an und darf daran erinnern, dass die Grundrechte nicht etwa exzeptionelle Enklaven in der umfassenden Machtfülle des Staates sind, sondern vielmehr dessen äußere Grenze. Es geht daher auch nicht um ein “allgemeines Recht auf Selbsttötung”, sondern (wir erinnern uns: Abwehrrechte) um das Recht, vom Staat bei der Ausübung von Selbstgesetzgebung eines bestimmten Typs nicht eingeschränkt zu werden.
Auf die mühevoll herbei definierte “Autonomie als “künstlich ernährter” bzw. noch weit umfangreicher von Rundum-Pflege abhängiger Mensch muss man allerdings verzichten dürfen, ohne dass der Staat die Umsetzung durch Gesetze verunmöglicht!
Sie führen an, dass sich
“der Wille auch in seiner Konstituierung ins Verhältnis setzt zu den Willen anderer, mit denen er einen gewissen Ausgleich sucht”.
Und dass das BVerfG das nicht ausreichend berücksichtige.
Ja, das ist wohl überall der Fall, wo Menschen noch “Nahestehende” haben, die vom Suizid betroffen wären.
Wie sich das aber im Einzelfall darstellt und was daraus folgt, ist eine individuelle und höchst persönliche Angelegenheit, in die der Staat ebenfalls nicht reinzuregieren hat.
Es wird Menschen geben, die nur dann Suizid begehen, wenn auch die Nächsten einverstanden sind. Und andere, denen das egal ist, weil ihre Bindung nicht stark oder nicht positiv ist, oder weil das Leiden einfach zu groß.
Es gibt gewiss auch Menschen, die ihren Anghörigen “nicht länger zur Last fallen” wollen – was ja auch eine Art ist, sich am (vermuteten) Willen anderer auszurichten. Und ebenso eine sehr persönliche Entscheidung.
Da man jedenfalls Wartezeiten einführen wird, sehe ich kein Problem darin, dass Dritte “geschäftsmäßig” helfen, wenn es eben kein spontaner, sondern ein länger durchdachter Entschluss ist.
(mehr dazu im Namenslink)
Diese Kommentierung irritierte auch mich. Von welchem Hintergrund her schreibt der Autor?
Die Recherche ergibt eine Verbindung zu einer lutherischen Gruppe, welche sich für Gregorianik engagiert (sic!):
http://gregorianik-in-motu.de/wp-content/uploads/18.-Alpirsbacher-Advent-Einladung.pdf
Der Autor und der Blog verbargen den konservativen christlichen Weltanschauungshintergrund dieser Urteilskritik. Das ist ärgerlich; spitz formuliert: Man fühlt sich fremdbestimmt. Im Ergebnis lernt man den BVerfG-Pleonasmus “autonome Selbstbestimmung” zu schätzen.
Wenn jemand unerwartet erkrankt bewusstlos und zu keiner Selbstbestimmun mehr fähig ist, woher will man hier ohne Weiteres wie selbstverständlich einen unterstellten Willen zum Leben und ein Recht zum Helfen nehmen, wenn ein Recht zum Sterben gleichwertig bedeutsam berechtigt wie ein Recht zum Leben sein soll?
Was wenn hierbei mehr oder weniger deutlich schwere Folgeschäden drohen, wie dass jemand nur noch bedingt gesund werden und wieder selbstständig auf die Beine kommen kann?
Darf jemand ohne kirchlichen Hintergrund eher für geringeren Lebensschutz auch für andere sein, als dass jemand mit krichlichem Hintergrund für Lebensschutz sein darf?
So etwa, wenn jemand indirekt geringeren Lebensschutz für andere befürwortet, indem sich indirekt für andere sozialer Druck zum Sterben eventuell auf Kosten von Lebensschutz erhöhen kann.
Dazu u.a. war zum früheren Artikel im Verfassungsblog “Verfügungsrecht über das eigene Leben, Schutzpflicht für ein Leben in Autonomie” bereits etwas angeführt.
In Kurzform: Weil Menschen Autonomie nicht ablegen können (dürfen), gebietet die menschliche Autoinomie ein Weiterleben um jeden Preis, weil eine Selbsttötung die menschliche Autonomie beendet?
Das ist argumentativ derartig schlicht, dass es schon bei einem Schulaufsatz nicht durchgelassen werden würde. Und es bedient sich deselben Tricks wie das christliche Selbsttötungsverbot – Bezugspunkt sind Axiome, die sich der weiteren Hinterfragung entziehen.
Solcherart Argumentation ist innerhalb ihres Bezugsrahmens überzeugend für die Menschen, die jene Axiomatik übernehmen. Und völlig sinnlos für alle anderen. Das wird auch mit Zitaten grosser Philosophen nicht besser.