Die Logik des Krieges: eine Anmerkung zur ukrainischen Verfassungsreform
Die Ukraine steht vor zwei enormen Herausforderungen: Einerseits muss eine Lösung für den Konflikt in der Ostukraine gefunden werden. Auf der anderen Seite gilt es, die Staatsreform umzusetzen. Diesem Ziel galten letztlich die Proteste auf dem Majdan. Es geht um nicht weniger als die Durchsetzung der Grundwerte des europäischen Konstitutionalismus: Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sowie die Beseitigung der Korruption.
Notwendig dafür ist eine Verfassungsreform. Gerade für Justizreformen galt die Verfassungsreform als Voraussetzung sine qua non. Der EGMR hatte in den Verfassungsbestimmungen über die Justiz Konventionsverletzungen festgestellt. Seit der Orangen Revolution 2004 war im engen Austausch mit der Venedig-Kommission über eine Verfassungsreform zur Stärkung der Justiz diskutiert worden. Außerdem wurde seit langem über eine Reform der kommunalen Selbstverwaltung debattiert. Ziel war es, die alten Strukturen des sozialistischen „demokratischen Zentralismus“, der Überwachung der Regionen durch das Zentrum, zu überwinden. Unabhängig davon fehlt heute das notwendige Vertrauen in die alte Verfassung. In der Vergangenheit hat sich die jeweils regierende Mehrheit nicht nur die Justiz untergeordnet, sondern auch die Verfassung als Instrument benutzt, um die eigene Macht zu stabilisieren. Symbol dafür ist die Verfassungsänderung 2004, die vom Verfassungsgericht 2010 gekippt wurde. 2014, nach dem Sturz Janukovyčs, hat das Parlament diese Entscheidung dann erneut aufgehoben. Beobachter sahen das Recht durch den politischen Machtkampf stärker politisch instrumentalisiert als in Russland. Nach dem Sturz Janukovyčs wäre es daher verfassungspolitisch wichtig gewesen, einen breiten Konsens zu einer reformierten Verfassung zu erzielen, um eine integrative Grundlage für weitere Reformen zu schaffen und neues Vertrauen in die Verfassung an sich zu erzeugen.
Entsprechend lasteten nach dem Majdan große Erwartungen auf der neuen Regierung. Doch schon nach kurzer Zeit begann der Krieg in der Ostukraine und im Hinblick auf die Verfassungsreform stand die politische Führung in Kiew vor einem zusätzlichen Dilemma: Einerseits konnte Kiew mit dem Verfassungstext nicht die territoriale Integrität in Frage stellen, musste also die Krim und die Ostukraine als ukrainisches Staatsgebiet bestätigen. Gleichzeitig war aber auch klar, dass die Bürger der Krim und der Ostukraine nicht in einen demokratischen Verfassungsgebungsprozess integriert werden könnten.
Trotzdem ist zu kritisieren, dass die Staats- und Verfassungsreform im ersten Jahr nach dem Majdan nicht erfolgreich vorangebracht wurde.
Minsk II
Insofern ist es auf den ersten Blick positiv zu bewerten, dass die Verfassungsreform im Frühjahr 2015 eine neue Dynamik erhielt. Auslöser dafür war das sog. II. Minsker Abkommen. Doch mit Minsk II erhielt die Reform nicht nur eine neue Dynamik, sondern auch eine neue, fatale Logik. Die Verfassungsreform wurde nun Teil des Krieges. Im Abkommen verpflichtet sich die Ukraine zur „Durchführung einer Verfassungsreform zum Ende des Jahres 2015, die als Schlüsselelement eine Dezentralisierung enthalten soll“. Diese Dezentralisierung soll unter Berücksichtigung der Besonderheiten der gesonderten Kreise der Gebiete Donezk und Lugansk erfolgen und mit den Vertretern dieser Kreise abgestimmt sein. Auch Einzelheiten der Gesetzgebung werden festgelegt: u.a. die Ernennung von Staatsanwälten und Richtern durch die Organe der lokalen Selbstverwaltung der Kreise Donezk und Lugansk, die Befugnis zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Kreise Donezk und Lugansk mit Regionen der Russischen Föderation, eine Volksmiliz, die den Gemeinderäten untersteht, sowie letztlich das Recht der Abgeordneten der Gemeinderäte und Amtspersonen, die durch vorgezogene Wahlen gewählt wurden, nicht vorzeitig abberufen zu werden.
Mit dieser Vereinbarung entglitt die Verfassungsreform dem demokratischen Prozess in der Ukraine und wurde zum Gegenstand der Interessen der Unterzeichner der Minsker Vereinbarung.
Präsident Porošenko versuchte zunächst den Eindruck zu erwecken, die Verfassungsreform weiter autonom zu steuern. So setzte er im März 2015 eine Verfassungskommission ein, die sich in drei Arbeitsgruppen die großen Themen der Verfassungsreform, Dezentralisierung, Grundrechte und Justiz vornehmen sollte. Die Kommission setzte sich u.a. aus Politikern, Bürgerrechtlern, NGO-Vertretern zusammen.
Doch die Arbeit der Kommission wurde schnell von den Ereignissen im Osten eingeholt: Noch bevor die Verfassungskommission Ergebnisse präsentieren konnte, legten die Vertreter der selbst ernannten Donezker und Lugansker Volksrepubliken am 13. Mai 2015 einen Verfassungsentwurf vor, der zum Ausdruck bringt, dass die „Volksrepubliken“ als Teile der Ukraine Beteiligung am Verfassungsgebungsprozess beanspruchen. In der überarbeiteten Fassung vom 8. Juni 2015 forderte der Entwurf für die Gebiete Luhansk und Donenzk einen besonderen Status, der in der Verfassung selbst konkretisiert wird. Dieser umfasst u.a. eigene Wahlkreise, eine eigene Volksmiliz sowie Kompetenzen in zahlreichen Regelungsbereichen. Weiter sieht der Entwurf vor, die Struktur der Organe der lokalen Selbstverwaltung sowie Gerichtsaufbau und Staatsanwaltschaft organisieren zu dürfen, sowie Richter einsetzen zu können. Darüber hinaus forderten die sog. Volksrepubliken, die Neutralität der Ukraine in der Verfassung festzuhalten.
Von Kiew wurde der Vorschlag zunächst nicht beachtet. Allerdings entstand nun recht schnell ein eigener Entwurf der Verfassungskommission zur Dezentralisierung, genau rechtzeitig, um ihn auf der Sommersitzung der Venedig-Kommission vorzulegen. Diese antwortete quasi über Nacht mit einer im Grunde zustimmenden Opinion, ohne dass der Entwurf aber zu diesem Zeitpunkt in der Ukraine selbst bekannt war. Die Zustimmung der Venedig-Kommission wurde von Porošenko als großen Sieg gefeiert, ukrainische Experten fühlten sich indes übergangen.
Der Entwurf sieht allerdings keinen Sonderstatus für Donezk und Luhansk vor, sondern bemüht sich stattdessen die Dezentralisierung allein als Projekt zur Stärkung der lokalen Selbstverwaltung zu begreifen. Dies gelingt teilweise. Dem Entwurf ist jedoch die übereilte Vorgehensweise anzumerken. Insgesamt wird die lokale Selbstverwaltung gestärkt. Die territorialen Einheiten erhalten mehr Kompetenzen. Verschlankt wird die bisherige territoriale Struktur auf drei Ebenen: Regionen, Bezirke und die Gemeinde. Neu ist die Gemeinde. Während die Bürger auf Gemeindeebene den Rat und die Exekutive direkt wählen, wählen die Bürger auf der Ebene von Bezirk und Regionen lediglich die Räte, die Exekutive wird dagegen von Präfekten ausgeführt, die vom Staatspräsidenten eingesetzt werden. Damit geht der Entwurf hinter das Modell territorialer Selbstverwaltung in Porošenkos früheren Entwurf aus dem Jahr 2014 zurück. Damals war angedacht worden, die Exekutive in Bezirken und Regionen ebenfalls durch die gewählten Volksvertretungen der territorialen Einheiten bestellen zu lassen und diesen gegenüber verantwortlich zu erklären. Die Rolle der Vertreter des Präsidenten war hier klarer auf die bloße Aufsicht reduziert.
Dem Wortlaut nach ist die lokale Selbstverwaltung allerdings nicht als Recht der territorialen Einheit ausgestaltet, wie es die Art. 3 der Charta der lokalen Selbstverwaltung des Europarats vorsieht. Der nicht angenommene Entwurf Porošenkos aus dem Jahr 2014 hatte sich noch daran orientiert. Die Kompetenzverteilung zwischen Zentrum und territorialen Einheiten, wie aber der Einheiten untereinander bleibt vielfach vage.
Doch Porošenkos Plan, die Minsker Forderungen einfach auszublenden, geht fehl. Unverzüglich kommt nicht nur deutliche Kritik aus Moskau, auch Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Hollande machen Porošenko Druck. Beide fordern die Umsetzung von Minsk II im Hinblick auf die Verfassungsreform.
Offensichtlich kann sich Porošenko diesem Druck nicht entziehen. Schon zwei Tage später, am 16. Juli 2015, legte er erneut einen Änderungsvorschlag vor. In Art. 18 der Übergangsbestimmungen der Verfassung heißt es nun, dass „besondere Regelungen der Selbstverwaltung in einigen Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk“ durch Gesetz getroffen werden sollen. Ein solches Gesetz war bereits am 16. September 2014 verabschiedet worden, ist aber zur Zeit außer Kraft. Wie es das Verfahren vorsieht, wurde der Entwurf anschließend dem Verfassungsgericht vorgelegt, das bereits am 31. Juli 2015 grünes Licht gab. Vier Sondervoten meldeten allerdings erhebliche Bedenken an. Gerügt wird, dass die Reform die Einheit der Ukraine gefährde. Außerdem sei Art. 18 zu unbestimmt. Der Sonderstatus sei durch die Verfassung weder zeitlich noch inhaltlich bestimmt. Letztlich wird die fehlende Bindungswirkung von Minsk II angemerkt.
Bei der Abstimmung in erster Lesung am 31. August 2015 kam es dann zu lauten Protesten. Zwar erhielt der Entwurf letztlich die notwendige Unterstützung, die Parteien Vaterland und Selbsthilfe kritisierten das Vorgehen jedoch vehement.
Fazit
Spätestens seit dem 14. Juli ist deutlich, dass die Frage der „Dezentralisierung“ im Sinne von Minsk II den Verfassungsreformprozess bestimmt und alle anderen Fragen dahinter zurücktreten. Dies gilt insbesondere für die Bereiche Grundrechte und Justiz. Neu gefasst wurde hier der Artikel über die Menschenwurde und ein Recht auf ein faires Verfahren. Daneben gab es kleinere Änderungen. Radikale Vorschläge aus den NGOs wie das Recht auf good governance und den weitgehenden Zugang zu staatlichen Informationen konnten sich nicht durchsetzen. Der Entwurf zur Reform der Justiz setzt die Forderungen der Venedig-Kommission um: Reformiert wird u.a. der für die Ernennung und Entlassung von Richtern zuständige Oberste Justizrat, der sich nun überwiegend aus Richtern zusammensetzt. Insgesamt wird die Unabhängigkeit der Justiz sowie insbesondere die des Verfassungsgerichts gestärkt.
Problem ist die Schnelligkeit des Verfahrens, die mangelnde Transparenz und die mangelhafte Einbindung der Öffentlichkeit. Und die Dezentralisierung, die zur Stärkung der Demokratie geforderte Machtverschiebung in die Regionen, steht heute nur noch für den Sonderstatus des von Russland kontrollierten Ostens.
Und sie wird zunehmend zur Zerreißprobe für Porošenko. Erfüllt er die Forderung nach einem Sonderstatus nicht, riskiert er, Frankreichs und Deutschlands Unterstützung zu verlieren. Setzt er die Forderungen um, riskiert er die notwendige Unterstützung im Innern zu verlieren. Im schlimmsten Fall würde dies zu Verlusten der Koalition bei den Regionalwahlen am 25. Oktober führen.
Dabei wird die Verfassungsänderung den Konflikt in der Ostukraine nicht lösen. Zum einen erfüllt der aktuelle Entwurf die Forderungen der Separatisten nicht, zum anderen werden freie Wahlen dort streng abgelehnt. Gleichzeitig aber wird in Kiew deutlich registriert, dass es Moskau gelungen ist, auf den ukrainischen Verfassungsgebungsprozess zuzugreifen. Verständlicherweise ist ein Sonderstatus für viele Ukrainer unannehmbar, solange der Osten von den Separatisten regiert wird. Zahlreiche ukrainische Intellektuelle sehen den Krieg als Versuch Putins, die verfassungsmäßige Ordnung und die Unabhängigkeit der Ukraine zu zerstören, die Assoziierung mit der EU zu stoppen und der Ukraine damit letztlich die geopolitische Unterordnung unter Moskau aufzuzwingen und fordern ein Moratorium über die Verfassungsreform.
Ausblick
Porošenko hat gegenwärtig keine andere Wahl, als Land und Parlament hinter seinen Verfassungsentwurf zur Dezentralisierung zu bringen. Aktuell ist fraglich, ob es ihm gelingt eine 2/3 Mehrheit in der abschließenden Lesung zu erreichen.
Doch selbst wenn es ihm gelingen sollte, dann wäre die Verfassung aus ukrainischer Sicht erneut mit einem erheblichen Makel behaftet. Denn die Identifikation mit einem von Minsk II oktroyierten Dokument wird nicht gelingen, Integration durch Verfassung erscheint kaum denkbar. Zudem war die Zivilgesellschaft in den Verfassungsgebungsprozess zu wenig eingebunden. Die Arbeit der Verfassungskommission wurde durch den „Minsker“ Druck zur Farce. Dies hätte auch die Venedig-Kommission stärker rügen müssen.
Dabei ist es grundsätzlich nicht ausgeschlossen, dass Staatsreformen in Einzelbereichen, wie z.B. die Polizeireform, auch ohne gelungene Verfassungsreform Aussicht auf Erfolg haben. Für die ukrainische Verfassungsentwicklung bleibt Minsk II eine Tragödie. Die Chance, die sich mit dem Majdan als critical juncture ergeben hat, wurde nicht genutzt. Der Krieg hat dies massiv erschwert. Trotzdem war es ein Fehler, den Verfassungsgebungsprozess durch Minsk II ausdrücklich mit dem Konflikt im Osten zu vermischen. So kann die Verfassungsreform den Konflikt nicht lösen, sie braucht vielmehr ihrerseits den Frieden als Voraussetzung.
An der Verfassungsreform zeigt sich aber auch das große ukrainische Dilemma im Kleinen: der Westen setzt Moskaus Zugriff auf die Ukraine wenig entgegen. Der Druck durch Merkel und Hollande auf Porošenko, die Verfassungsreform nach Minsk II umzusetzen, diente dem Ziel, Minsk II nicht scheitern zu lassen, nicht aber den Interessen der ukrainischen Staatsreform mit einer neuen Verfassung als freiwilligem Vertrag der Bürger über die Form ihres Zusammenlebens.
Dabei hat die ukrainische Verfassung die gegenwärtige Problematik in gewisser Weise bereits vorhergesehen und erweist sich damit als weiser als Minsk II. Artikel 157 Abs. II der geltenden Verfassung legt fest, dass die Verfassung unter den Bedingungen des Kriegs- oder Ausnahmezustand nicht geändert werden darf. Formal gesehen herrscht weder Kriegs- noch Ausnahmezustand, Kiew nennt die pro-russischen Kämpfer „Terroristen“. Doch faktisch ist die Situation vergleichbar. Die ratio der Norm macht deutlich, dass die Logik des Krieges Verfassungsänderungen gefährlich macht.
Auf Frieden wird die Ukraine vielleicht noch lange warten. Auf eine Verfassung, der die Bürger zutrauen, dass sie ihnen zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verhilft, auch. Im Kreml wird das niemanden stören. In Brüssel, Berlin und Paris sollte es das.