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06 June 2020

Die Menschenrechts­verletzung bzw. die Missachtung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht als zivilrechtlicher Haftungstatbestand

I. Einleitung

Die UN-Prinzipien für Wirtschaft und Menschenrecht („Ruggie-Prinzipien“) aus dem Jahr 2011 statuieren in ihrem Teil IV eine menschenrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen („human rights due diligence“). Es fragt sich, ob und wie die Unternehmen für Verletzungen dieser Pflicht zivilrechtlich auf Schadensersatz haftbar gemacht werden können. Unter geltendem Recht ist eine solche Haftung nur sehr schwer zu begründen. Das hat das „Rechtsgutachten zur Ausgestaltung eines Lieferkettengesetzes“ gezeigt. Eine rechtssichere Regelung kann daher nur der Gesetzgeber einführen.

Zu diesem Zweck könnte ein Erfolgsdelikt der „Menschenrechtsverletzung“ in Anlehnung an § 823 I BGB geschaffen werden („§ 823a BGB“). Alternativ könnte auch die „menschenrechtliche Sorgfaltspflicht“ der UN-Prinzipien direkt ausformuliert werden, zB als neuer Absatz 3 des § 91 AktG. Sie könnte als Schutznorm fungieren, bei deren Verletzung der daraus entstehende Schaden gemäß § 823 II BGB zu ersetzen ist.

Die Einführung eines Haftungstatbestandes muss zwei eng miteinander verknüpfte Schlüsselprobleme bewältigen, nämlich die Eingrenzung der haftungsauslösenden Menschenrechtsverletzung und die Zurechnung derselben zum inländischen Unternehmen, um einen „Haftungsdurchgriff“ zu begründen. Damit befassen sich die folgenden Überlegungen. Andere Fragen wie etwa das anwendbare Recht bleiben außen vor.

II. Die Problemlage

Für Menschenrechtsverletzungen wie Mord, Folter, Entführungen und Vertreibungen sind die Täter selbstverständlich haftbar. Doch darum geht es nicht. Die Ruggie-Prinzipien holen viel weiter aus. Ihr Ziel ist es, die Spitzen global agierender Großunternehmen mit Sitz in den Industriestaaten in die Pflicht zu nehmen, um ihre Wirtschaftsmacht proaktiv zur Verbesserung der Menschenrechtssituation einzusetzen, auch und gerade wenn sie selbst an den Verstößen vor Ort nicht direkt beteiligt sind. Dieses Anliegen ist politisch nachvollziehbar. Wenn es aber mit einer zivilrechtlichen Haftung für Menschenrechtsverletzungen durchgesetzt werden soll, sind etablierte Rechtsprinzipen zu überwinden.

Erstens decken sich die Menschenrechte weitgehend mit unseren Grundrechten. Diese sind aber Gewährleistungen des Staates. Privatpersonen haben dafür grundsätzlich gar nicht, jedenfalls aber nicht in gleicher Weise einzustehen. Sie werden allenfalls mittelbar gebunden.

Außerdem haftet man nach den §§ 823 ff BGB nur für eigenes Fehlverhalten, nicht für die Delikte Dritter. Das gilt prinzipiell sogar für Übergriffe, an denen eigene Tochtergesellschaften beteiligt sind. Denn solche Konzerngesellschaften stellen nach der juristischen Trennungsbetrachtung eigenständige Unternehmen dar, auch wenn die Ruggie-Prinzipien (ebenso wie die breite Öffentlichkeit) in ihnen nur einen „Unternehmensteil“ erblicken. Unzweifelhaft wäre die Haftung nur in dem fernliegenden Fall, dass die Menschenrechtsverletzungen direkt von der Konzernspitze veranlasst oder gefördert würden.

Eine Menschenrechtshaftung in Anlehnung an die Ruggie-Prinzipien erfordert daher eine spezielle Regelung, welche diese Grenzen überschreitet, um einen Haftungsdurchgriff auf die Spitze des globalen Unternehmens zu begründen. Daraus folgen die zwei Hauptaufgaben:

(1) Die Beschreibung des objektiven Tatbestandes der Menschenrechtsverletzung, der diese erweiterte Haftung auslöst (sub III). Hierfür müssen der Schutzbereich der Gewährleistung und die Verletzung derselben präzisiert werden.

(2) Die Definition der Verhaltenspflichten, deren Verletzung die erweiterte Zurechnung der von dritten Akteuren wie Zulieferern, staatlichen Stellen oder Auslandstöchtern begangenen Menschenrechtsverletzungen zur inländischen Konzernspitze rechtfertigt (sub IV).

III. Zum Tatbestand der „Menschenrechtsverletzung“

1. Der Schutzbereich

Die UN-Leitprinzipien erfordern die Achtung der Internationalen Menschenrechtscharta sowie der Kernarbeitsrechte der ILO (vgl. Rechtsgutachten S. 32 f.). Der Begriff der „Menschenrechtsverletzung“ könnte mit diesen Regelwerken verknüpft werden. Das könnte direkt im Gesetzestext erfolgen (z.B.: „Verletzung der international anerkannten Menschenrechte“) oder in der Gesetzesbegründung oder über eine Verweisung im EGBGB. Die umstrittene Frage, ob diese Garantien direkte Wirkung gegenüber Unternehmen entfalten, etwa als jus cogens, ist dabei nicht relevant. Wenn der Gesetzgeber diese Garantien zur Grundlage eines Haftungstatbestandes erhebt, werden sie eben dadurch für Unternehmen verbindlich.

Dennoch ist zweifelhaft, ob sich diese Garantien pauschal als Anknüpfung für die Haftung eignen. Zwar ähneln sie vergleichbaren Gewährleistungen des Grundgesetzes oder der EMRK und müssten daher ebenso justitiabel sein. Jedoch fehlt es mangels gerichtlicher Leitpraxis noch weitgehend an verlässlicher Konkretisierung. Normen des Völkerrechts könnten ohnehin nicht durch das deutsche Recht verbindlich ausgefüllt werden.

Dazu kommen die große Anzahl und Reichweite dieser Gewährleistungen, z.B. in Art. 28 der Menschenrechtscharta: „Jeder Mensch hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.“ Sollen Unternehmen dafür wirklich (mit)haften?

Alternativ wäre ein Katalog denkbar, durch den die relevanten Menschenrechtsverletzungen autonom aufgelistet werden. Damit könnte eine (Mit)Haftung für fernliegende Verletzungen (Eheschließungsfreiheit) von vornherein ausgeschlossen werden. Allerdings bestünde bei dieser Vorgehensweise die Gefahr, die Haftung zu sehr zu verengen, so dass die besonders sanktionswürdige Beteiligung von Unternehmen an staatlicher Unterdrückung (z.B. in der Religions- und Meinungsfreiheit) nicht mehr erfasst würde.

Die Problematik des Schutzbereichs ist anspruchsvoll, erscheint aber lösbar. Hilfreich ist dabei die nachfolgende Stellschraube der Verletzung.

2. Die Verletzung

Der Begriff der Menschenrechtsverletzung muss eng gefasst werden, um der mit dem Tatbestand verbundenen Haftungserweiterung entgegen zu wirken. Denn jeder Verkehrsunfall und jeder Produktfehler kann zu Verletzung und Tod von Menschen führen und so in den Schutzbereich fundamentaler Menschenrechte (auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit etc.) eingreifen. Doch für solche Fälle sollen die Grenzen des herkömmlichen Haftungssystem nicht überwunden werden. Ereignen sie sich im Geschäftsbereich selbstständiger Tochtergesellschaften oder Zulieferer, sind diese allein haftbar.

Zur typischen Menschenrechtsverletzung gehört demgegenüber ein gewisser Grad an Planmäßigkeit und Rücksichtslosigkeit. Als Leitbild hatte ich in ZGR 2018, 479, 484 die „zynische Missachtung“ der Schutzgüter angesehen. Dazu kommt noch die objektive Schwere nach Art und Umfang der Verletzung (vgl. Gutachten, S. 38). Man könnte das in justitiabler Weise festschreiben als „bewusste und schwerwiegende Missachtung allgemein anerkannter Menschenrechte“. Entscheidend hierfür ist das Verhalten der Akteure vor Ort. Zur Annahme einer Menschenrechtsverletzung kann man beispielweise kommen, wenn Taxi- oder Logistikunternehmen um der Profitsteigerung willen systematisch zu Geschwindigkeitsüberschreitungen anreizen, oder wenn ein Hersteller aus Kostengründen auf Sicherungsmaßnahmen für Arbeiter oder Produkte verzichtet. Nur wenn diese erhöhte Eingriffsschwelle überschritten wird, sollte der Haftungsdurchgriff auf die Konzernspitze wegen einer „Menschenrechtsverletzung“ eröffnet sein.

IV. Die Zurechnung der Menschenrechtsverletzung

Die haftungsbegründende Zurechnung der Menschenrechtsverletzung muss eigenständig jenseits der allgemeinen Regeln festgeschrieben werden. Dabei ist zu differenzieren, ob das Unternehmen selbst oder durch eine Tochtergesellschaft agiert, oder ob für die Menschenrechtsverletzungen seine Vertragspartner verantwortlich sind.

Das Unternehmen haftet, wenn es die Menschenrechtsverletzung selbst (d.h. durch Handlungen seiner Organe und sonstigen Repräsentanten i.S. des § 31 BGB) begangen hat. Das ist selbstverständlich, muss aber festgeschrieben werden, da ansonsten die international-privatrechtliche Anwendbarkeit der neuen deutschen Haftungsnorm nicht gesichert wäre.

Irrelevant ist, ob das Unternehmen allein oder mit anderen handelt § 830 BGB ist anzuwenden. Damit wird namentlich die Mithilfe bei staatlichen Übergriffen („aiding and abetting“) erfasst. Ein Verschuldenserfordernis ist entbehrlich, sofern es, wie hier vorgeschlagen, bereits im Begriff der Menschenrechtsverletzung enthalten ist.

Die Haftung muss auch eingreifen, wenn das Unternehmen „durch Tochtergesellschaften“ agiert. Das entspricht der Sicht der UN-Leitprinzipien und den allgemeinen Anschauungen. Es ist unverständlich, wenn Shell London zwar die sprudelnden Gewinne aus Nigeria vereinnahmt, aber im Haftungsprozess behaupten darf, die 100%ige Tochtergesellschaft Shell Nigeria sei völlig unabhängig und London habe mit ihren Geschäften nichts zu tun. Zwei Einschränkungen sind aber zu diskutieren:

Erstens ist der Begriff der Tochtergesellschaft zu definieren. Reicht die Beherrschungsmöglichkeit aus (=Herrschaft i.S. des § 17 AktG), bedarf es der tatsächlich ausgeübten einheitlichen Leitung nach § 18 AktG oder soll schon der Mehrheitsbesitz i.S. des § 16 AktG ausreichen. Je nachdem kann sich die Unternehmensspitze durch Nichteinmischung enthaften – was freilich dem Geiste der Leitprinzipien widerspricht, die gerade auf die Geltendmachung (und nicht Stilllegung) des Einflusses drängen.

Zweitens kann eine Enthaftungsmöglichkeit eingeräumt werden, wenn das Unternehmen zeigt, dass es die Auslandstochter hinreichend instruiert und überwacht hat (vgl. § 831 I 2 BGB). Die Etablierung einer angemessenen „Human Rights Compliance“ (vgl. Gutachten S. 42) kann dabei eine wichtige Rolle spielen, auch wenn sie nach LG München I, Urt. V. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10 – Siemens Neubürger nicht per se die Haftung ausschließen kann.

Vorzugswürdig scheint, den Begriff der Tochtergesellschaft weit zu fassen, aber die Enthaftungsmöglichkeit zuzulassen.

Die gleichen Grundsätze wie für Töchter sollten für Geschäftspartner, namentlich Zulieferer gelten, die vom Unternehmen derart wirtschaftlich abhängig sind, dass das Unternehmen ihnen „seinen Willen aufzwingen“ kann (i.S. der alten Rechtsprechung des Reichsgerichts zur Beherrschung, RGZ 167, 40, 49 – Thega). Eine solche wirtschaftliche Abhängigkeitslage rechtfertigt die Gleichstellung mit einer Tochtergesellschaft jedenfalls für die Zwecke der Menschenrechtshaftung. Auf das Fehlen einer gesellschaftsrechtlich begründeten Einflussmöglichkeit kann es hierfür schon deshalb nicht ankommen, da die Leitprinzipien jede Art des Einflusses globaler Unternehmen im Visier haben. 

Dagegen erscheint eine Haftungsbegründung für das Verhalten von Geschäftspartnern, die wirklich eigenständig agieren, nur schwer vertretbar. Die allgemeine Beschränkung der deliktischen Haftung für selbstständige Dritte ist gut begründet. Es fehlt typischerweise schon an einer gesicherten Einwirkungsmöglichkeit, so dass dem Unternehmen auch keine Verursachung vorwerfbar ist.

Auch die UN-Prinzipien sehen insoweit lediglich eine Bemühenspflicht, auf Wahrung der Menschenrechte hinzuwirken. Dieser kann man aber durch bloßes Boxticking nachkommen, frei nach dem Motto „Die Lage in Tibet wurde angesprochen. Die Gegenseite zeigte keine Reaktion. Die Gespräche wurden fortgesetzt…“. Ein solches „Bemühen“ kann Menschenrechtsverletzungen natürlich nicht ausschließen. Daher ist es umgekehrt aber auch nicht gerechtfertigt, die Haftung allein an das unterlassene Bemühen zu knüpfen. Abgesehen davon könnte das Unternehmen hier oftmals rechtmäßiges Alternativerhalten geltend gemacht werden („Das wäre sowieso passiert, wir hätten es nicht verhindern können“…)

Eine Haftung für die Vergehen eigenständig agierender Geschäftspartner wie Zulieferer, Kunden oder Kreditnehmer sollte daher allenfalls statuiert werden, wenn das Unternehmen von den Gewinnen aus den Geschäften, die im Zusammenhang mit diesen Menschenrechtsverletzungen getätigt wurden, nachweislich erheblich profitiert hat. Das folgt dem Gedanken „Der Hehler ist schlimmer als der Stehler“. Zur Umsetzung einer solchen deliktsfremden Gewinnhaftung bedarf es einer eigenständigen Zurechnungsnorm.

Die vorstehenden Erwägungen sprechen im Übrigen regelungstechnisch dagegen, eine ausformulierte Human Rights Compliance als Schutzgesetz anzusehen, an deren Verletzung die Haftung nach § 823 II BGB geknüpft ist. Der zivilrechtliche Haftungstatbestand sollte daher in der Tat autonom kreiert werden („§ 823a BGB“), und zwar unabhängig davon, ob das Gesellschaftsrecht eine ausdrückliche Menschenrechts-Compliance fixiert.

Anhang

Vorschlag für einen § 823a BGB: Menschenrechtsverletzung; menschenrechtliche Sorgfaltspflicht

(1) Ein Unternehmer (§ 14), der im Rahmen seiner internationalen Geschäftstätigkeit eine bewusste und schwerwiegende Missachtung der international anerkannten Menschenrechte (Menschenrechtsverletzung) verschuldet, haftet den Opfern auf Ersatz des daraus entstehenden Schadens.

(2) Die gleiche Verpflichtung trifft den Unternehmer, wenn im Rahmen seiner internationalen Geschäftstätigkeit ein abhängiges Unternehmen (§§ 16, 17 AktG) / beherrschtes Unternehmen (§ 17 AktG) / abhängiges Konzernunternehmen (§ 18 Abs. 1 AktG) eine Menschenrechtsverletzung verschuldet. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Unternehmer seine menschenrechtliche Sorgfaltspflicht gewahrt hat, indem er die abhängigen Unternehmen zur Wahrung der Menschenrechte verpflichtet, die Einhaltung angemessen überwacht und etwaigen Verstößen unverzüglich abgeholfen hat.

(3) Abhängigen Unternehmen i.S. des Absatz 2 stehen Unternehmen gleich, die vom Unternehmer in der Weise wirtschaftlich abhängig sind, dass er ihnen seinen Willen aufzwingen kann, sofern sie die Menschenrechtsverletzung im Zusammenhang mit der geschäftlichen Beziehung zum Unternehmer verschulden.

(4) Ein Unternehmer haftet den Opfern einer Menschenrechtsverletzung, die durch einen Dritten begangen wird, auf Ersatz ihres Schadens, wenn er im Sinne des § 830 mit dem Dritten zusammengewirkt hat oder wenn er wusste oder wissen musste, dass der Dritte die Menschenrechtsverletzung im Zusammenhang mit den gemeinsamen Geschäftsbeziehungen begangen hat und er dadurch in nicht unerheblichem Maße profitiert hat.


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