Die Menschenwürde-Müdigkeit der Juristen
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“: Kein anderer Satz unserer Verfassung ist so populär, so sehr geflügeltes Wort wie dieser. Wer ihn in der Suchmaschine Google eingibt, erhält mehr als 800.000 Treffer – all die sarkastischen Abwandlungen und Verballhornungen nicht mitgezählt. Dieser erste Satz des Grundgesetzes spricht die Deutschen an. Er bewegt sie. Sie können etwas mit ihm anfangen – mit dem ungeheuren Versprechen, das er gibt, mit der Spannung, die er zur nur allzu oft menschenunwürdigen Wirklichkeit aufreißt. Wenn die Deutschen einen Satz aus ihrer Verfassung im Munde führen und im Herzen tragen, dann diesen.
Das steht in merkwürdigem Kontrast zu der verdrossenen Indifferenz, die ihm Juristen häufig entgegenbringen. Juristisch spielt der Satz nur selten eine Rolle, und wenn, dann macht er ihnen die größten Schwierigkeiten, mit seinem Pathos, seiner Unbestimmtheit und seiner Eigenart: Ist er überhaupt eine Norm und nicht vielmehr eine Behauptung, eine unzutreffende obendrein? Und wenn ja, was verlangt er für ein Verhalten? Gibt es überhaupt einen Fall, den er und nur er entscheidet und der sich nicht auf andere Weise, etwa anhand des Folterverbots, ohnehin lösen lässt? Und was heißt hier unantastbar, wenn die Menschenwürde des einen mit der eines anderen in Konflikt geraten kann?
Am Berliner Wissenschaftskolleg kamen letzte Woche Juristen, Philosophen und Theologen zu einer internationalen Konferenz zusammen, um diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Christoph Möllers (Berlin) brachte schon bei der Eröffnung auf den Punkt, was viele Juristen denken: Es gebe eine Art „Menschenwürde-Müdigkeit“ in Deutschland. Man brauche sie nicht wirklich, um juristische Fälle zu lösen. Man wisse nicht, was sie bedeute und was man damit anfangen soll.
Was heißt hier unantastbar?
Das Bundesverfassungsgericht versteht die Menschenwürdegarantie als Verbot, den Menschen zum bloßen „Objekt“ zu machen – eine Formulierung, die auf Günter Dürig zurückgeht und auf Immanuel Kant verweist: Niemand dürfe allein als Mittel, jeder müsse immer auch als Zweck behandelt werden. Auf dieser Basis hatte das Bundesverfassungsgericht 2006 ein Gesetz, das den Sicherheitsbehörden den Abschuss eines von Terroristen entführten Passagierflugzeugs ermöglichen sollte, für verfassungswidrig erklärt: Man dürfe nicht die Passagiere den Sicherheitsbedürfnissen der Menschen am Boden opfern und sie somit zu bloßen Mitteln zur Rettung anderer degradieren.
Diese Objekt-Formel ist der Wissenschaft seit einem halben Jahrhundert tief suspekt, und ist es bis heute. Eric Hilgendorf (Würzburg) warf ihr vor, noch nicht einmal die eklatantesten Fälle von Menschenrechtsverletzung zu erfassen: Die Folter und Vernichtung von Juden im NS-Staat diente keinem anderen Zweck als eben der Folter und Vernichtung von Juden. Es komme nicht auf die Absicht des Täters, sondern auf die Wirkung seiner Handlungen an. Tatjana Hörnle (Berlin) sprach sich dafür aus, Menschenwürde, wenn sie absolut gelten soll, eng zu definieren und schlug vor, als Kriterium das gemeinsame Interesse aller Menschen zu nehmen, nicht massiv erniedrigt zu werden.
Auch Christoph Goos (Bonn) bemühte sich, den Menschenwürdebegriff schärfer zu fokussieren, und zwar anhand der Vorstellung, die sich Carlo Schmid und andere Verfassungsgründer von diesem Begriff gemacht hatten: Er schlug vor, sich an Martin Luthers Konzept der „inneren Freiheit“ von Zwang, gegen die eigenen Überzeugungen handeln zu müssen, zu orientieren – eine Idee, die auf freundliche Skepsis stieß. Russ Miller (Lexington) attackierte das Bundesverfassungsgericht von einer anderen Seite: Es habe in seinem „Esra“-Urteil von 2007, das das Verbot eines Romans um der Menschenwürde darin dargestellter Personen willen erlaubte, verabsäumt, Literatur als Ausdruck der Menschenwürde in ihrem Eigenwert anzuerkennen.
Wessen Recht verletzt eine Golliwog-Puppe?
Dass sich die „Menschenwürde-Müdigkeit“ keineswegs auf die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts beschränkt, zeigte der Beitrag von Christopher McCrudden (Belfast). Er richtete sich gegen eine Art, Menschenwürde als Rechtsargument zu verwenden, die er als „starker Expressivismus“ bezeichnete: Das Unrecht einer Handlung bestehe in diesem Verständnis in der Botschaft, die sie an die Gesellschaft sendet, und zwar egal, wie sie eigentlich gemeint war und was sie konkret für Schäden anrichtet. Als Beispiel nannte McCrudden so genannte „Golliwog“-Puppen, in Großbritannien sehr populäre Puppen mit schwarzer Haut und wolligem Haar: Diese Puppen ins Fenster zu stellen, würde von manchen als Rassismus gebrandmarkt, auch wenn damit weder eine rassistische Absicht verknüpft sei noch irgendjemand sich dadurch verletzt fühle.
Dies, so McCrudden, bedrohe den Universalitätsanspruch der Menschenrechte: Denn was eine Handlung unabhängig von ihrer Absicht und ihrer Wirkung bedeute, das verstehe jede Kultur anders. Dem widersprach der Philosoph Avishai Margalit (Jerusalem) energisch: Dass Handlungen dies oder jenes bedeuten könnten, sei überhaupt nichts besonderes. Schutzbedürftig seien diejenigen, die besonders verletzlich seien, und auf deren Perspektive komme es an. Margalit zitierte das Beispiel eines uruguayischen Fußballspielers, der einen schwarzen Mitspieler auf dem Platz „Nigger“ genannt und sich dann darauf berufen hatte, das sei in seiner Heimat ein ganz harmloser Ausdruck. Das möge schon sein, aber auf einem Fußballplatz in Großbritannien sei es nicht problematisch, diesen Ausdruck rassistisch zu finden. Die „evokative Kraft“ einer Handlung sei maßgeblich für das Urteil, ob sie die Menschenwürde achtet oder nicht.
Es waren die Philosophen und die Völker- und Europarechtler, die die Verfassungsjuristen davor warnten, sich ihrer Menschenrechts-Müdigkeit allzu sehr hinzugeben. Margalit hatte in seinem Eröffnungsvortrag den Versuch unternommen, die Menschenwürde von den beiden Übeln der Verkitschung einerseits und der Vergötterung andererseits zu befreien. Die religiöse Wurzel des Begriffs sei die Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Aus ihr sei im Humanismus die Menschenebenbildlichkeit des Menschen geworden. Diese ikonische Beziehung jedes Menschen zur ganzen Menschheit sie sei der Kern der Menschenwürde: Sie teile auch der größte Schurke, was der Kitschversion, sie für reine und edle Opfer zu reservieren Einhalt gebiete, ebenso wie der völlig Vernunftlose, was die kantianisch-marxistische Gefahr der Vergötterung des Menschen zum moralischen Gesetzgeber entschärfe.
Dignity is here to stay
Der nachdrücklichste Appell, die Menschenwürde hochzuhalten, kam aber von den Wissenschaftlern, die sich ihr aus einer inter- oder supranationalen Perspektive nähern. Die Menschenwürde sei ein axiomatischer Rechtsstatus jedes Menschen, sagte der Rechtsphilosoph Heiner Bielefeldt (Erlangen): Ihr Wert bestehe darin, den Menschenrechten Sinn zu geben, und erweise sich vor allem im Kontakt mit zutiefst illiberalen Positionen. Solchen begegne er als UN-Berichterstatter für Religions- und Glaubensfreiheit, berichtete Bielefeldt: Er habe mit Vertretern der moldauischen orthodoxen Kirche zu tun gehabt, die Menscherechte – etwa das Recht von Homosexuellen, nicht diskriminiert zu werden – als moralischen Verfall betrachteten. Bei solchen Kontakten werde einem eins über die Menschenrechte klar: Wenn man ihre Würde-Komponente aufgebe, dann gebe man alles auf.
Zum Abschluss fasste die Völkerrechtlerin Samantha Besson (Fribourg) die Diskussion zusammen. Sie erinnerte die deutschen Juristen daran, dass der Satz des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ als Verfassungsinnovation nicht nur im Ausland, sondern vor allem auch im Völkerrecht tiefen Eindruck hinterlassen habe. Es gebe zwar so etwas wie eine deutsche Menschenwürde-Müdigkeit, aber das Menschenwürdekonzept sei immerhin ein deutscher Exportartikel. Bei allen Zweifeln sei doch eines sicher: „Dignity is here to stay.“
Dieser Artikel ist zuvor in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG erschienen.
Foto: (c) Joe Miranda, Flickr Creative Commons
Schade.
“Menschenwürdemüdigkeit”? Wohl kaum. Mein Eindruck ist eher, dass die Menschenwürde als Stamm der Menschenrechte inzwischen wegen der dichten Baumkrone (=abgeleitete Rechte mit Menschenwürdegehalt) kaum mehr zu sehen ist.
Ich sehe auch keine Gefahr für den Universalismus der Menschenwürde, wenn die Frage einer Verletzung unter Berücksichtigung der situativen Umstände des Einzelfalls (und damit auch einer Prise ethischem Relativismus) festgestellt wird. Zugespitzt: Für den Shoah-Überlebenden ist die Unterbringung in einer deutschen Gefängniszelle mit Swastika an den Wänden existenzbedrohend, für den Neonazi oder indischen Hindu ein Wohlfühlfaktor.
Das Beispiel ist von BVerfG, NJW 2011, 137 abgewandelt, wo es auch heißt “Die Frage, wann […] eine Missachtung des von Artikel 1 Absatz I GG gewährleisteten Achtungsanspruchs liegt, lässt sich nicht ohne Rücksicht auf die Umstände und auf Fragen der praktischen Realisierbarkeit beantworten”.
[…] is here to stay!” Samantha Besson made that confident statement in her general comments at the end of a conference on Human Dignity that we held last november at the Wissenschaftskolleg […]
[…] dem abzuhelfen hat “Recht im Kontext” dieses Jahr erneut eine Runde von illustren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um den Konferenztisch des […]