Die Menschenwürde des Staatskonzerns Vattenfall: zum Atom-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Die heutige Atomausstiegs-Entscheidung aus Karlsruhe ist mal wieder ein richtiges Trumm von einem Urteil, mit 407 Randnummern und regelrechtem Inhaltsverzeichnis, ein Schriftstück von der Art, wie es sonst bei Mohr Siebeck im gelben Einband erscheint und viereinhalb Leser_innen findet. Das ist hier anders; angesichts der immensen politischen und ökonomischen Bedeutung dieser Entscheidung wird die Zahl derer, die das ganze Dokument von vorn bis hinten durchlesen, wohl deutlich in den zweistelligen Bereich gehen. Was mich betrifft, so verstehe ich von Atomkraft überhaupt nichts und vom Eigentumsgrundrecht wenig, weshalb ich mir nicht anmaßen werde, die ganze Artikel-14-Dogmatik zu analysieren, die das Bundesverfassungsgericht hier über viele Dutzende von Seiten aufblättert. Das mögen Kundigere tun, gerne auf dem Verfassungsblog, und seien hiermit auch herzlich dazu aufgefordert.
Ich will mich einstweilen auf einen Spezialaspekt konzentrieren, nämlich auf die Frage, wie einer der Kläger, nämlich Vattenfall, überhaupt dazu kommt, hier Grundrechte für sich einzufordern.
Das ist ein Problem nicht deshalb, weil Vattenfall ein böser Atomkonzern ist. Und auch nicht deshalb weil Vattenfall überhaupt ein Konzern ist: Inländische juristische Personen sind zwar nach Art. 19 III GG nur eingeschränkt grundrechtsfähig, aber das Grundrecht auf Eigentum genießen sie jedenfalls. Und auch nicht, weil Vattenfall ein ausländischer Konzern ist: Hier ist Klägerin die Vattenfall Europe Nuclear Energy GmbH, und die sitzt in Hamburg.
Nein, das Problem ist, dass Vattenfall ein ausländischer Staatskonzern ist. Hinter Vattenfall steckt, als 100%-Eigentümer, der Staat Schweden. Letztlich ist es also ein Staat, der hier Grundrechte einfordert. Der Staat ist aber nicht etwas, das durch Grundrechte geschützt wird, sondern etwas, wovor Grundrechte schützen. Seit 1967 hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder betont, dass juristische Personen des öffentlichen Rechts (ausgenommen Spezialfälle wie Universitäten, Rundfunkanstalten, Kirchen) und andere vom Staat beherrschte Institutionen prinzipiell als Träger von Grundrechten nicht in Frage kommen.
Menschenwürde für Staatskonzerne?
Bisher war das für Karlsruhe eine Frage des Prinzips. Man kann nicht gleichzeitig Adressat und Berechtigter von Grundrechten sein, hieß die Doktrin. Immerhin ist der Haken, an dem die ganze Grundrechtsordnung ganz oben aufgehängt ist, die Menschenwürde. Die Grundrechte sind dazu da, den einzelnen Menschen in seinem Anspruch auf Achtung als Mensch in Freiheit und Gleichheit zu schützen. Auch juristische Personen gehören ja am Ende Menschen, und wenn man sie knechtet, dann knechtet man auch Menschen. Aber ein Staatskonzern?
In der heutigen Entscheidung schlägt das Bundesverfassungsgericht einen sehr viel konsequentialistischeren Ton an, als es das in früheren Entscheidungen tat, als es um deutsche Sparkassen und Sozialversicherungsträger ging. Warum soll das überhaupt problematisch sein, so fragt der Erste Senat zunächst, wenn hier in dieser besonderen Konstellation ein Staatkonzern klagt, zumal ein ausländischer?
Schon mal nicht wegen der Unklarheit über Grundrechtsberechtigung und -verpflichtung. Schweden hat ja mit den deutschen Grundrechten nichts zu schaffen, daher kann es sich gar nicht auf beiden Seiten der Grundrechtsgleichung wiederfinden. Und niemand wird in seinem Grundrechtsschutz geschmälert, wenn Vattenfall jetzt auch welche bekommt. Zumal Vattenfall in Deutschland ja keinerlei staatliche Machtbefugnisse ausübt, dafür aber, anders als die inländischen Konkurrenz, potenziell gesetzgeberischen Drangsalierungen ausgesetzt sein könnte, ohne Verfassungsbeschwerde dagegen einlegen zu können.
Das alles wäre aber noch kein Grund, einen Staatskonzern zu einem Grundrechtsträger hochzuzonen. “Art. 14 als Grundrecht schützt nicht das Privateigentum, sondern das Eigentum Privater”, heißt es prägnanterweise in einer Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1982, was der Senat hier auch ausdrücklich zitiert.
Der Grund, warum er es doch tut, ist ein anderer. “Brüche zwischen der deutschen und der europäischen Rechtsordnung” will der Erste Senat mit dieser Entscheidung vermeiden. Das Grundgesetz ist, wie wir seit dem Lissabon-Urteil wissen, europarechtsfreundlich auszulegen. Und das Europarecht verbietet Deutschland, schwedische Unternehmen, ob staatlich oder nicht, in ihrer Niederlassungsfreiheit zu beschränken. Das täte Deutschland aber, wenn es ihnen die Grundrechtsfähigkeit und damit den Zugang zur Verfassungsbeschwerde abspricht – zumal wenn es, wie hier, um Eingriffe direkt durch den Gesetzgeber geht, gegen die man verwaltungsgerichtlich nichts machen kann. In die Niederlassungsfreiheit einzugreifen, könne man nur mit zwingenden Gründen des Allgemeininteresses rechtfertigen. Die deutsche Grundrechtsdogmatik als zwingendes Allgemeininteresse zu bezeichnen, dazu wollte sich bei aller Liebe der Erste Senat dann doch nicht verstehen.
Damit nicht genug: nicht nur der EU-Vertrag, auch die Europäische Menschenrechtskonvention zwinge den Senat dazu, Vattenfall in Karlsruhe klagen zu lassen. Auch sie schützt das Eigentum, ohne nach staatlich oder nicht staatlich zu differenzieren, und verlangt, gegen Eingriffe innerstaatlichen Rechtsschutz bereit zu stellen.
Politische Sympathien beiseite – mir erscheint das einleuchtend. Der Erste Senat nimmt in Kauf, dass seine Grundrechtstheorie in seinem Randbereich ein paar zugegebenermaßen unschöne Falten wirft. Aber dafür deckt sie die Problemkonstellation, um die es in diesem Verfahren geht, einigermaßen ab. Solange es sich nicht um ein Staatsunternehmen handelt, mit dem der Staat tatsächlich Macht ausübt, scheint es mir kaum vermittelbar, zwischen E.ON und Vattenfall auf eine Weise zu differenzieren, dass die eine in Karlsruhe klagen kann und die andere nicht. Das kann man doch niemandem erklären. Alles andere wäre akademisch. Die heutige Entscheidung ist, anders als so manche im Europa-Kontext, kein Professorenurteil, sondern ein Richterurteil.
Es mag zwar kontraintuitiv erscheinen, ausgerechnet Vattenfall Grundrechsschutz umzuhängen. Aber das gilt nicht nur für Vattenfall als Staatskonzern, sondern als Konzern überhaupt. “If you prick my corporation, does it not bleed?”, möchte man mit John Oliver ausrufen (ich hätte so gern den Daily-Show-Ausschnitt zu Citizens United damals hier eingebettet, aber Comedy Central lässt mich nicht…). Mir scheint, das Problem löst Art. 19 III GG ganz gut. Wenn es um das Recht auf Eigentum geht, dann blutet die Aktiengesellschaft, wer immer ihre Aktionäre sind, eben sehr wohl, wenn man sie sticht.
Ich halte es mittlerweile recht einfach. Was andere entscheiden ist für mich nicht relevant. Ich trage nur die Verantwortung für das, was ich selber verursacht habe. Und ich kann nur für mein eigenes Leben entscheiden. Nicht für Dritte. Das gleiche erwarte ich natürlich auch von anderen. Das macht das Leben einfacher. :D
Dann nimm doch diesen link ;-)
https://www.youtube.com/watch?v=tug71xZL7yc&feature=youtu.be&list=UU3XTzVzaHQEd30rQbuvCtTQ
@susi danke für das video. das hundesgericht macht sicher weniger unsinn als unsere rot kostümierten richterdarsteller :D
Seit wann ist ein Konzern eine “juristische Person”? Bisher war er nach allgemeiner Auffassung bloße organisatorische Einheit. Habe ich da etwas verpasst?
@concerned: Ersetze “Konzern=/technischer Rechtsbegriff” mit “Konzern=/Alltagssprache” und das Problem löst sich auf, oder nicht?
Die Antwort verstehe ich nicht. Soll das ein Wortspiel sein?
Aha. Eben fehlten noch die Ergänzungen. Wie auch immer, eine gewissen Präzision sollten Beiträge dieser Art schon aufweisen.
@concerned: Sie verstehen bestimmt auch nicht den Satz von Mama, die sagt, Papa fahre in die Firma?
@concerned: Pedanterie ist nicht immer zielführend. Vor allem sollte bei derartiger Kritik eine gewisse Genauigkeit an den Tag gelegt werden. Der Autor hat den Konzern an keiner Stelle als juristische Person bezeichnet. Vor dem Hintergrund der Legaldefinition in § 18 AktG unterscheiden sich auch Alltags- und Rechtssprache nicht allzu sehr. Woher stammt denn Ihre Definition der “organisatorischen Einheit”? Als allgemeine Auffassung würde ich dies nicht bezeichnen wollen.
Das ist für mich mehr als Pedanterie. Die Vattenfall Europe Nuclear Energy GmbH ist ein Unternehmen. Naheliegend wäre also der Begriff “Unternehmen”. “Konzern” hat für mich eine Konnotation, die zumindest rechtlich nicht weiter erhellend ist. Der Erste Senat geht zwar auf die konzerninterne Nutzung der Restmengen ein. Aber um die konzerninterne Nutzung der Restmengen ging es MS in seinem Beitrag nicht, sondern um die Grundrechtsfähigkeit der GmbH. Bleibt also die Frage nach der Konnotation.
Ok Jungs, dann müssen wir es mal aufklären. Die Energieversorger sind so strukturiert, dass regelmäßig das einzelne KKW als juristische Person (meist: GmbH) geführt wird. Die Übertragung von Elektrizitätsmengen vollzieht sich deshalb zwischen mehreren juristischen Personen, selbst wenn es um Übertragungen innerhalb des Verbunds eines einzelnen Energieversorgers geht. Der Energieversorger, dem die KKW gehören (also die Betreiber GmbHs), kann seinerseits natürlich auch Elektrizitätsmengen an andere Energieversorger verkaufen, die diese dann in ihren eigenen KKW verwenden, die ihrerseits als juristische Personen (wiederum: meist GmbH) geführt werden. Das, was mit “konzernintern” gemeint ist, Max drückt das ganz richtig ist, bedeutet: innerhalb von E.ON. Extern meint: E.ON verkauft Elektrizitätsmengen zB an Vattenfall. Wir haben es innerhalb von E.ON mit zahlreichen juristischen Personen zu tun.
Gut, dass das jetzt geklärt ist.
Wie man sich in dem Urteil mit der Frage der Erschöpfung des Rechtsweges usw. und einem konflikthaften (Rechts-)Verhältnis bezüglich § 49 II VwvfG auseinandersetzt, würde so mancher in einer Prüfungsleistung vielleicht wenigstens als grenzwertig problematisch bescheinigt bekommen.
https://corporate.vattenfall.de/
Impressum:
Vattenfall GmbH
Chausseestraße 23
10115 Berlin
Wurde 2012 umfirmiert.
@Peter: Das ist nicht die Muttergesellschaft. Falls Sie das denken sollten…
Der Autor schreibt: “Nein, das Problem ist, dass Vattenfall ein ausländischer Staatskonzern ist. Hinter Vattenfall steckt, als 100%-Eigentümer, der Staat Schweden. Letztlich ist es also ein Staat, der hier Grundrechte einfordert.”
Bei der Grunderwerbssteuer, der Durchgriffshaftung und nun auch im Verfassungsblog darf man die Fiktion der juristisch Person über Bord werfen? Aber warum bricht der Autor die Dekonstruktion der Nichtnatürlichen Rechtssubjekte bei der ersten nicht-natürlichen Person hinter Vattenfall, nämlich dem Königreich Schweden, ab? Warum bedient er nicht den naiven Idealismus “Der Staat, das sind wir alle.” und erklärt: “Das Königreich Schweden sind letztlich seine Bürger. So stehen also wieder natürliche (schwedische) Personen hinter dem klagenden Energieunternehmen.”