06 May 2020

Die neue Normalität

Lebensweltliches Hintergrundwissen

Der phänomenologischen Soziologie und Jürgen Habermas Theorie des kommunikativen Handelns verdanken wir wichtige Einsichten in die sinn- und orientierungsstiftende Funktion von lebensweltlichen Traditionen. Die Lebenswelt stattet uns mit fraglos verwendetem praktischem Wissen aus. Sie versorgt uns mit Routinen und Deutungsmustern, die wir heranziehen, um uns, wenn wir handeln, in der Welt zurechtzufinden. Sie steht für das Unproblematische, Selbstverständliche und Normale und erbringt in dieser Funktion eine wichtige Integrationsleistung im Verhältnis von Zielen und Werten.

So gilt uns etwa das Kranksein normalerweise als Privatsache. Wer krank ist, konsultiert den Arzt und bleibt zu Hause, um sich auszukurieren. Ohne darüber weiter nachzudenken, „wissen“ wir, dass das klug ist. Jedenfalls stellt eine Krankheit für uns keinen Grund dar, die erkrankte Person – oder gleich alle – wie eine Gemeingefahr zu behandeln. Es kommt uns zunächst nicht in den Sinn, einander unter dieser Voraussetzung zu begegnen. Ebenso wenig stellt sich uns normalerweise die Frage, ob es vielleicht anlässlich der einen oder anderen Grippe weniger Kranke oder Tote geben könnte, wenn wir die Infizierten wegsperrten und allerorts Schutzmasken trügen.

Die Selbstverständlichkeiten, mit denen und vermöge derer wir leben, bringen solcherart hinter unserem Rücken einen Ausgleich zustande zwischen der Bewegung im öffentlichen Raum, der individuellen Verantwortung und der Inkaufnahme von potentiell vermeidbaren Opfern. Unser praktisches Wissen und unsere Routinen haben Implikationen, die wir nicht aussprechen und die solange solide sind, als sie den unbefragten Hintergrund des Handelns bilden. Gleichwohl sind sie normativ relevant. Sie legen nahe, dass es nicht wert wäre, das Zusammenleben „herunterzufahren“ oder durch neurotisch anmutende Distanzierungsleistungen zu verkomplizieren, selbst wenn es deswegen im Fall einer Grippe weniger Kranke oder Tote geben könnte. Die lebensweltlich geübte Praxis etabliert zwischen Werten eine Balance, die uns, solange wir in Routinen stecken, als solche verborgen bleibt.

Können wir abwägen?

Es mag daher so aussehen, als ob unsere Lebenswelt „Abwägungen“ enthielte. Aber dieser Eindruck trügt. Eine Relation zwischen Werten oder Zielen können wir überhaupt erst entdecken, wenn das „abgeschattete Vollzugswissen“ (Habermas), auf das wir lebensweltlich vertrauen, bereits zerfallen ist.

Ein solcher Zerfall tritt etwa ein, wenn einzelne Ziele aus dem vorverstandenen Horizont des Handelns gelöst und zweckrational verfolgt werden. Wenn zweckrationale Imperative auf die Lebenswelt einwirken, wird diese nicht einfach verändert. Sie gerät aus den Fugen. Nichts ist mehr selbstverständlich. Die Werte und Zwecke lösen sich ab von dem Lebenshintergrund, auf dem sie bislang aufgetragen waren. Sie verselbständigen sich gegeneinander und müssen nun zueinander in ein Verhältnis gesetzt werden.

Während der Corona-Krise ist eben dies geschehen. Das Leben und die Gesundheit sind für uns zu den dominierenden Zwecken des politischen Handelns geworden. Damit hat sich unser Blick auf die soziale Welt verändert. Der normative Hintergrund unseres zivilisierten Umgangs gilt nicht mehr als gegeben, sondern wird unter dem Gesichtspunkt problematisiert, ob er als Mittel zur Zielerreichung taugt oder ein Hindernis darstellt. Die stillschweigende Integration konfligierender Ziele, mit der wir bislang gelebt haben, kommt zum Verschwinden.

Ein aus den Fugen geratener Hintergrund an lebensweltlichen Routinen stellt sich nicht einfach wieder von selbst her. Wenn lebensweltliche Orientierungen zum Problem werden, stellen sie keine Ressource des praktischen Wissens mehr dar. Was als ausgewogen erschienen ist, muss nun zum Gegenstand von Abwägungen werden. Und an diesem Punkt geraten wir leicht ins Stocken. Wie lassen sich Freiheitsverluste in Gesundheitszuwächsen ausdrücken, um Vergleiche anstellen zu können? Können wir den Punkt berechnen, an dem die Grenzkosten erreicht sind, wo ein Mehr an Gesundheit den Verlust der Freiheit nicht mehr aufwiegt?

Nein, wir können das nicht. Mit den Prinzipien des Marginalismus kommt man nicht weiter. Wir sind verunsichert. Das intensive, weil fraglose, und gleichzeitig defiziente, weil unexaminierte, lebensweltliche Wissen hat sich verflüchtigt, und wir können es durch keine Formel ersetzen.

Vom Krisenmanagement zur autoritären Lenkung

In einer Situation, in der Selbstverständlichkeiten zerfallen, lauert eine Gefahr. Der allseits berüchtigte Carl Schmitt erkannte sie deutlich, obgleich er meinte, sie stelle nicht so sehr eine Gefahr als eine Chance für die gestaltenden Kräfte dar.

Der Theoretiker des Ausnahmezustands fand diesen nicht wünschenswert. Der Ausnahmezustand soll überwunden werden. Alle Maßnahmen sollen mit Blick darauf ergriffen werden, eine neue Normalsituation zu schaffen. Wenn die Lebensordnungen brüchig werden und normativ in sich zerfallen, dann muss eben die politische Führung die neue Normalität (in Schmitts Terminologie: eine neue „Normalsituation“) etablieren.

Schmitt erkannte hellsichtig, dass in diesem Kontext das Krisenmanagement wie von selbst in autoritäre Lenkung übergehen kann, zumal die Bevölkerung in einer Ausnahmesituation bereits daran gewöhnt ist, alles zu glauben, was von oben glaubhaft kommuniziert wird. Sie hat auch keine andere Wahl. Das Prinzip der autoritären Herrschaft ist, dass der Gehorsam gut für die Gehorchenden ist, auch wenn diese nicht verstehen, warum. Wer an die Autorität glaubt, wird selig. In Situationen der Unsicherheit muss dem wohl so sein. Im Zuge der Schaffung einer neuen Normalität lässt sich dieses Prinzip umstandslos fortschreiben.

Deswegen muss man wachsam sein. Denn die neue Normalität geht uns alle an und wir sollten uns die Verantwortung für sie nicht von den lenkenden Stellen aus der Hand schlagen lassen. Die Verunsicherung, die der Zerfall lebensweltlichen Hintergrundwissens verursacht, lässt sich nur überwinden, wenn wir reflexiv und bewusst die Integration vollziehen, die das implizite Wissen hinter unserem Rücken geleistet hat. Es bildete den Horizont unseres Zusammenlebens. Ein Horizont ist ein Gesichtskreis, der die Isolation von Gesichtspunkten verhindert. Darauf müssen wir achten, damit uns eine bewusste Integration gelingen kann. Denn die isolierte Gegenüberstellung von Werten führt nicht zum Ziel. Wenn wir uns darauf einließen, müsste jeder andere Wert im Verhältnis zum Überleben zwangsläufig den Kürzeren ziehen. Das individuelle Leben lässt sich durch nichts anderes aufwiegen, weil man dieses andere nicht genießen könnte, wenn man seines Lebens verlustig gegangen wäre. Wenn man vom Leben ausgeht, dann müssen alle anderen Werte sich vor ihm im Staub wälzen. Also kann eine ausgewogene Vielfalt der Werte nur regeneriert werden, indem man den Gesichtskreis zur Lebensführung insgesamt erweitert und Vorstellungen entwickelt, wie wir in der neuen Normalität leben wollen. Erst vor einem solchen ganzheitlichen Hintergrund lassen sich die kollidierenden Werte in ein Verhältnis setzen.

Alternativen zur Abwägung: Erinnern und Hoffen

Eine abwesende Lebenswelt lässt sich entweder vergegenwärtigen oder entwerfen. Also sind Erinnerung und Hoffnung oder Tradition und Utopie die Schlüssel zur Konstruktion einer neuen Normalität. Da aber nichts mehr von dem, was unsere soziale Einbildungskraft vor uns bringen soll, selbstverständlich ist, werden wir nun Entscheidungen treffen müssen, wo uns vormals das Selbstverständliche als Stütze diente.

Das Erinnern hält sich ans Verlorene. Dieses hat den Schein des Richtigen, weil es auch im Rückblick noch von der fraglosen Evidenz des impliziten Wissens zehrt, die ihm den Glanz des Unbedingten verleiht. Und dennoch werden wir aussprechen müssen, warum das verlorene Normale auch gut war. Demgegenüber unternimmt die Hoffnung den Versuch, von der Ausnahme die Erfahrung der Möglichkeit, dass es auch anders sein könnte, aufzubewahren und von dieser Erfahrung zu zehren. In beiden Fällen vermittelt die Ausnahme die neue Normalität; einmal qua Suspension, die zurückgenommen wird, im anderen Fall als Öffnung, die der alten Normalität den Schein der Notwendigkeit nimmt.

Wie können wir uns also die neue Normalität vorstellen?

Sehen und Arbeiten

Im Modus des Erinnerns könnten wir darum ringen, die alte Balance zwischen dem Schutz der Gesundheit und dem zivilen Umgang wiederherzustellen. Bei der nächsten Influenza könnten wir darauf insistieren, dass, wenn kein rasanter Anstieg der Todesrate zu befürchten ist, wir so verfahren sollten wie bisher. Sonst würden wir rasch wieder zu einer Gemeinschaft von Maskenträgern. Das würde uns zurecht missfallen. Uns Europäern ist es wichtig, ein Gesicht zu haben, nicht bloß, weil wir uns als Individuen verstehen, sondern weil wir gern in den Gesichtern der anderen lesen, um zu wissen, woran wir sind. Zeigen die Züge einen grimmigen Charakter oder ein mildes Temperament? Auch im Bekanntenkreis ist der Blick ins Angesicht wichtig. Im Antlitz schreibt sich viel fest, nicht nur der Lauf der Jahre, sondern auch Seelenzustände wie Müdigkeit, Lethargie oder Frische.

Zwischen Erinnerung und Hoffnung werden wir uns zu entscheiden haben, wenn es um das reguläre Arbeitsverhältnis geht. Die Corona-Krise zeigt nicht nur, dass man den Arbeitsplatz auch zu Hause einrichten kann, sondern dass die eine oder andere Mitarbeiterin durchaus entbehrlich ist. Es ist leider so. Auch bedarf das Arbeiten zu Hause eines anderen Leistungsnachweises als der pflichtschuldigen Anwesenheit, die das vom Arbeitnehmer geschuldete Bemühen um Erfolg vertritt. „Echte“ Leistung ist gefragt. Folglich werden die Mitarbeiterinnen nunmehr wie von selbst als selbstständige Dienstleistungsunternehmer wahrgenommen. Damit stellt sich die Frage, ob wir weiter von der Erinnerung an das alte Normalarbeitsverhältnis zehren wollen oder hoffen, eine andere soziale Welt schaffen zu können, in der die soziale Sicherheit und der Zugang zu kulturellen Ressourcen vom unselbständigen Beschäftigungsverhältnis radikal entkoppelt werden: soziale Rechte und Selbständigkeit für alle. Wollen wir weitermachen wie bisher oder wollen wir eine Gesellschaft von grundversorgten und sozial abgesicherten Unternehmern ihrer selbst, für die ihre Arbeit, nach Marx Diktum, zum ersten Lebensbedürfnis wird? Der jüngeren Generation mag ein solcher Übergang vom sozialdemokratischen Neoliberalismus zum neoliberalen Sozialismus vielleicht sogar zusagen.

Und Europa?

Militant hoffen – und utopische Energien entfesseln – müssten wir mit Rücksicht auf die Europäische Union. Sie ist eine Verliererin dieser Krise. Der Verlust reicht tief in ihre Fundamente hinein und offenbart, dass sie geistig ein Kind der Nachkriegszeit und des kalten Krieges ist. Die Integration durch wechselseitige wirtschaftliche Verflechtung hat die soziale Integration durch den in der Krise effektiv agierenden Nationalstaat unberührt gelassen. Dieser erweist sich als so etwas wie der institutionelle Kernbestand Europas. Die da und dort propagierte Idee, Europa diene dazu, diesen Kern zu überwinden, erweist sich in der momentanen Lage nicht nur als illusionär, sondern als nachgerade gefährlich. Warum sollten Gesellschaften sich gerade angesichts von Krisen ihrer Handlungsfähigkeit berauben?

Die Integration durch Marktwirtschaft ist ein Auslaufmodell. Der freie Warenverkehr ist in Zeiten des Klimawandels ohnedies eher ein Problem als ein Beitrag zur Problemlösung. Vielleicht sollte die Union umgestellt werden von einer Normalfalls- zu einer Notfallsunion, frei nach dem Motto „Kriegswirtschaft statt Marktwirtschaft“. Es ginge darum, die genuine Solidarität zwischen den betroffenen Nationen im Verhältnis zur Scheinsolidarität des freien Handels aufzuwerten. Um das zu realisieren, bedürfte es größerer Handlungsspielräume und der Freiheit, sich mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen. Das gegenwärtige Vertragswerk ist dafür ein viel zu enges Korsett.

Nicht widerrufen werden sollte allerdings die richtige Grundidee der Integration. Die Union ist dazu da, dem Nationalstaat die dunklen Seiten zu nehmen, zu deren Ausbildung er, wie sich mancherorts zeigt, durchaus nach wie vor fähig ist. Ein Europa ohne Union darf es nicht geben. Aber es muss eine Union von Staaten sein, die nicht dazu dient, die Systeme der sozialen Sicherung zu beschneiden und unter Druck zu bringen, sondern einander wechselseitig darin zu unterstützen, in der neuen Normalität auch ein neues Sozialmodell zu erproben.


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