08 June 2015

Die Parlamentswahlen in der Türkei: eine verfassungspolitische Zäsur

Am Sonntag wurde in der Türkei zum 25. Mal das Parlament gewählt. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und seine Partei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) haben eine klare Niederlage erlitten. Die Gewinnerin der Wahlen ist die pro kurdische Partei HDP (die Demokratische Partei der Völker), die in einer Allianz mit Minderheiten und den Linken mit 13.1% und 80 Abgeordneten in das Parlament einzieht. Die AKP hat nach 13 Jahren Alleinherrschaft ihre Mehrheit verloren und wird sich entweder einen Koalitionspartner suchen oder eine Minderheitsregierung bilden müssen. Experten reden bereits von Neuwahlen. Für die Türkei ist diese Wahl nicht nur machtpolitisch, sondern auch verfassungspolitisch eine historische Zäsur.

Die Türkei hat ein parlamentarisches Regierungssystem nach dem Vorbild des britischen Westminster-Modells. Das türkische Parlament wird alle vier Jahren gewählt und setzt sich aus 550 Abgeordneten zusammen. Zur Bildung einer Regierung verlangt die Türkische Verfassung eine Anzahl von 276 Abgeordneten. Die Regierung setzt sich aus einem Ministerpräsidenten und seinen Ministern zusammen. 2014 wurde die Direktwahl des Staatspräsidenten eingeführt. Der Präsident hat – wie in Deutschland – als Staatsoberhaupt lediglich eine repräsentative Rolle.

Der Kemalismus und der Aufstieg Erdogans

Die türkische Verfassung beruht seit Gründung der Republik im Jahre 1923 auf der Ideologie des Kemalismus, benannt nach dem Gründungsvater Mustafa Kemal Atatürk. Als Nachfolger des Osmanischen Reiches ist die Türkei ein multiethisches Land. Der Kemalistische Türkische Nationalstaat sieht zwar auch den Laizismus vor, gründet sich allerdings auf eine einheitliche türkische Sprache und auf den sunnitischen Glauben und installiert als Beschützer und Garant des Regimes ein starkes Militär.

Bis 1950 wurde die Türkei durch Einparteiensystem regiert. Nach dem Übergang zum Mehrparteiensystem kam es alle zehn Jahre zu Militärputschen. In den Jahren 1960 und 1980 wurde unter Militärregierungen auch die Verfassung geändert. Die aktuelle türkische Verfassung aus dem Jahre 1982 ist ein Produkt eines Militärputsches mit dem Ziel der

Restaurierung des Nationalstaates von 1923. Dabei sollten die kulturelle Vielfalt der Minderheiten und ihre Sprachen assimiliert und der Sunnitentum als Staatsglaube etabliert werden. In dieser Phase ist der Staat mit seinem Militärapparat so weit gegangen, dass er alle Sprachen der Minderheiten, insbesondere kurdische Sprachen, verboten hat.

Unter diesen Umständen kam es ab 1970er Jahren zum Aufstand der Kurden. Nachdem ihr Parteichef, Abdullah Öcalan, im Jahre 1999 von der Türkei verhaftet wurde, beschloss die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) nach über 30 Jahren den bewaffneten Kampf aufzugeben und stattdessen auf dem politischen Weg und innerhalb der parlamentarischen Demokratie eine Lösung anzustreben.

Nach jahrelangem Bürgerkrieg scheint auch die Türkei festgestellt zu haben, dass die Kurdenfrage nur auf politischem Weg gelöst werden kann. Die türkische Regierung verhandelt insgeheim seit 2003, offiziell seit 2009 mit den Kurden über einen Friedensplan. Obwohl viel gesprochen wurde, gibt es zurzeit keine konkrete Roadmap seitens der Regierung. Diese versucht lediglich, die Waffenrufe beizubehalten und verspricht von Wahl zu Wahl eine Lösung ohne einen konkreten Plan.

Im Jahre 2001 kam es zu einer folgenschweren Wirtschaftskrise in der Türkei. In den ersten Wahlen nach der Wirtschaftskrise wählte das Volk die damals als Koalition regierenden drei Parteien ab und suchte nach neuen politischen Kräften. Das war die Geburtstunde der AKP und der politischen Karriere von Erdogan.

Die AKP und ihr Parteichef Erdogan genossen damals sehr große Unterstützung sowohl seitens im Volk als auch bei der EU und den USA. Ihre Politik war anfänglich pro-westlich und offen für Verhandlungen mit der EU. Sie gab sich verhandlungsbereit gegenüber den Kurden und kämpferisch gegenüber dem Militärapparat. Nach außen vermittelte sie den Eindruck, sie würde eine liberale und pro-europäische Politik verfolgen wie die christlich-demokratischen Parteien in Europa.

„Präsidialsystem türkischer Art“

Erdogan wurde noch vor einem halben Jahr mit ca. 52% der Stimmen direkt vom Volk zum Staatsoberhaupt gewählt. Trotz Direktwahl verfügt er allerdings weiterhin nur über eine repräsentative Rolle. Das will Erdogan ändern. Zurzeit übt er die Rolle des Staatsoberhauptes und des Regierungschefs gleichzeitig aus. Um seine Macht zu etablieren, will er – nach seiner eigenen Aussage – die aktuelle Verfassung langfristig ändern und ein „Präsidialsystem türkischer Art“ einführen. Darunter versteht er ein System, an deren Spitze ein Staatsoberhaupt steht, der sowohl die Exekutive als auch die Legislative und die Judikative kontrollieren kann. Somit sieht dieses System keine Gewaltenteilung mehr vor. Es greift insoweit auf die historischen Vorgänger der Türkischen Republik zurück: im Regierungssystem des Osmanischem Imperiums verfügte der Sultan über die drei Gewalten im Staat. Wenn es dazu käme, dann hätte es die Türkei mit einer totalitären Staatsform zu tun, bei welcher der Staatsoberhaupt ohne Machteinschränkung tun und lassen könnte, was er wollte.

Diese Neigung lässt sich gut an der Regierungstätigkeit von Erdogan beobachten. Obwohl sich die Staatsoberhäute nach der türkischen Verfassung unparteiisch verhalten müssen, ist er an den letzten Wahlen sogar als Parteichef der AKP aufgetreten und hat für seine ehemalige Partei Wahlkampf geführt. Begründet hat er sein Verhalten damit, dass er eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erreichen wollte, um die Verfassung ändern und ein Präsidialsystem türkischer Art einführen zu können. Das ist misslungen: Im Vergleich zu seiner Wahl noch vor einem halben Jahr hat seine Partei ca. 12% seiner Wählerschaft eingebüßt.

Warum Erdogan die Wahl verloren hat

Nach der sog. Arabischen Revolution kam es auch in der Türkei 2013 zu heftigen Protesten, bei denen acht Personen durch Polizeigewalt ums Leben gekommen sind. Die Proteste richteten sich gegen die Pläne der islamistischen Regierung unter Erdogan: statt die dringend nötigen Reformen über eine Verfassungsänderung zu verwirklichen, ging es dieser lediglich darum, den kemalistischen Staatsapparat vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen,

Im Machtkampf mit der alten politischen Elite hat die neue islamistische Regierung zwar die alte kemalistische politische Elite geschwächt, die Kontrolle über die politischen Institutionen, die Polizei, die Justiz und das Militär übernommen, aber die dringend nötigen Reformen blieben aus. Die alten antidemokratischen Methoden der Kemalisten setzten Erdogan und seine Regierung ein, um die Macht der islamistischen Regierung zu konsolidieren. Der Unterschied liegt darin, dass der Staatsapparat nun den Islamisten dient. Nur die Herren haben sich geändert, nicht im geringsten das System.

Um Minderheiten daran zu hindern, ihre Rechte in der parlamentarischen Demokratie geltend zu machen, sieht die Verfassung der Putschisten von 1982 eine Zehn-Prozent-Hürde vor. Zehn Prozent bedeutet ca. fünf Millionen Wähler. Diese Sperrklausel hinderte die Kurden daran, als Partei in das Parlament einzuziehen. Von diesem Umstand profitierten die AKP und ihr Parteichef Erdogan, die das Land seit 13 Jahren regieren. Denn nach dieser Zehn-Prozent-Hürden-Regelung erhält die Partei, die als stärkste aus den Wahlen hervorgeht, die Mandate der Parteien, die diese Hürde nicht überschritten haben. Übersetzt heisst das, dass die AKP seit 13 Jahren ca. 10% der Stimmen der Kurden erhält, ohne von ihnen gewählt worden zu sein.

Seit Jahren versuchen die Kurden, über unabhängige Kandidaten ins Parlament einzuziehen. Dabei haben sie bis zu 10% bzw. ca. 50 Parlamentarier an die stärkste Partei AKP verloren. Deswegen lag es im Interesse der Regierungspartei, dass die Kurden die Zehn-Prozent-Hürde nicht überschreiten. Diese Absicht hat die pro Kurdische Partei HDP (die Demokratische Partei der Völker) nun durchkreuzt, in dem sie eine Allianz mit anderen Minderheiten des Landes, vor allem mit Aleviten, Christen sowie den Linken Gruppen eingegangen ist.

Die religiösen Minderheiten befürchten, dass Erdogan den in der Praxis tatsächlich nie wirklich funktionierenden Laizismus aufheben und das Land schleichend zu einem theokratischen Staat umwandeln wird. Schließlich wurde die Zahl der religiösen Unterrichtsstunden in normalen Schulen erhöht, die Zahl der sog. „Imam-Hatip“-Schulen, die hauptsächlich religiöses Unterricht vorsehen, massiv erhöht, sowie das Kopftuchverbot in den Schulen und in der Verwaltung aufgehoben. Die Kurden befürchten, dass Erdogan und seine Partei an keinem Frieden mit ihnen interessiert sind, sondern ihn dazu missbrauchen, um die Macht zu übernehmen und schleichend die Theokratisierung des politischen Systems voranzutreiben.

Vor diesem Hintergrund war diese Wahl eine historische. Mit der Überschreitung der Zehn-Prozent-Hürde und Einzug der pro kurdischen Partei in das Parlament hat die AKP und damit Erdogan ihre absolute Macht verloren. Sie werden damit zum Kompromiss gezwungen. Diese Lage wird den Minderheiten, vor allem den Kurden, eine Verschnaufpause verschaffen und eine neue Perspektive zur Verfügung stellen. Über die pro-kurdische Partei sind zum ersten mal Vertreter vieler Minderheiten in das Parlament eingezogen, die zum ersten Mal als Sprachrohr ihrer Gruppen ihre eigene Probleme zur Sprache bringen können.

Von rechts bis links sind alle Parteien in der Türkei der Meinung, dass die Verfassung der Putschisten geändert und das Land reformiert werden muss. Über den Inhalt der Reformen besteht allerdings gar kein Konsens. Während die Kemalisten und das Mitte-Rechts-Spektrum das System beibehalten wollen, so wie es ist, also am Laizismus und dem Nationalstaat mit einer Sprache festhalten wollen, pochen die Kurden auf Reformen, insbesondere eine föderale Ordnung mit Autonomie für Minderheiten, kulturelle Vielfalt, Unterricht in den Muttersprachen.

Auch die Islamisten unter der AKP und Erdogan wollen das Land reformieren. Im Gegensatz zu Kemalisten scheinen sie bereit zu sein für Kompromisse bei der Regionalisierung und Einführung des Unterrichts in den Minderheitensprachen. Ihr eigenes Ziel ist es allerdings die Abschaffung des Laizismus und die Übernahme der Macht über den Staatsapparat.

Das Wahlergebnis zwingt zwar alle gewissen Kompromisse einzugehen. Die divergierenden Interessen der verschiedenen Gruppen machen es sehr schwierig, durch eine Verfassungsänderung die dringend nötigen Reformen einzuführen. Die Türkei hat aber keine andere Chance als die Integration der Minderheiten über eine föderal ausgestaltete Verfassung. Nur durch multiethnische und multireligiöse Vielfalt mit einer neuen föderal ausgerichteten Verfassung kann die Türkei dem Schicksal entgehen, das ihre Nachbarstaaten zurzeit erleben.


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