14 June 2018

Die prozedurale Seite des Rechts auf Rechtfertigung: eine Erwiderung auf ALON HAREL

Unter welchen Bedingungen kann der Staat legitime Autorität ausüben? Regelmäßig verlangt der Staat von mir, dass ich bestimmte Handlungen vornehme oder unterlasse. Manchmal handelt es sich um relativ triviale Angelegenheiten, wie zum Beispiel die Regulierung von Taubenfüttern im Park oder Reiten im Walde, manchmal hingegen um Fragen von existentieller Bedeutung, wie etwa das Verbot der Abtreibung (um Alon Harels Beispiel aufzugreifen). Unter welchen Bedingungen sollten wir verpflichtet sein, uns der Autorität des Staates zu beugen? Die Frage so zu stellen, heißt schon, den Menschen als Rechtfertigungswesen (Rainer Forst) zu begreifen: Wenn jemand behauptet, Autorität ausüben zu dürfen, dann muss diese Autorität dem gegenüber, der ihr unterworfen ist, rechtfertigbar sein. Mit anderen Worten: ich dürfte den Staat fragen: „Und warum soll ich das tun, was Du mir auferlegst? Was ist Deine Rechtfertigung dafür?“

Eine erste, aber noch unzureichende Antwort könnte sein, die Rechtfertigung in dem Wert der Demokratie als Mehrheitsentscheidung zu sehen. Der Staat könnte mir antworten: „Wir haben die Frage im demokratisch gewählten Parlament sorgfältig diskutiert, und am Ende haben wir abgestimmt. Darin liegt die Rechtfertigung.“ Diese Rechtfertigung verweist auf ein bestimmtes Verfahren – das der Mehrheitsentscheidung. Habe ich einen Grund, dies nicht für ausreichend zu halten und zusätzlich eine inhaltliche Rechtfertigbarkeit des Gesetzes zu verlangen? Dies ist eine komplexe und viel diskutierte Fragen; ich denke, richtigerweise ist sie zu bejahen und zu mit Mattias Kumm fordern, dass das Gesetz vernünftig rechtfertigbar sei. Denn es fällt mir schlicht kein Grund ein, warum ich an ein Gesetz gebunden sein sollte, fuer das es keine hinreichend starken inhaltlichen Gruende gibt – selbst wenn es von einer Mehrheit beschlossen wurde. Es ist gerade die Aufgabe des Parlaments, Gesetze zu verabschieden, die inhaltlich rechtfertigbar sind – wenn ein Gesetz diese Anforderungen nicht erfüllt, hat das Parlament nicht nur etwas „geschludert“, sondern es hat seine Arbeit nicht gemacht, die darin besteht, für das Land vernünftig rechtfertigbare Gesetze zu produzieren.

Die Autorität des Staates ist also untrennbar verknüpft mit seiner demokratischen Struktur, zu der auch die vernünftige Rechtfertigbarkeit seiner Handlungen gehört. Die vernünftige Rechtfertigbarkeit eines Gesetzes oder sonstigen Akts des Staates zu überprüfen, wenn ein Betroffener sie bestreitet, ist in Deutschland und vielen anderen liberalen Demokratien die Aufgabe der Gerichte, die in den letzten Jahrzehnten eine Anzahl von dogmatischen Instrumenten entwickelt haben, um dieser Aufgabe gerecht werden zu können. Ich habe diese Instrumente, die alle dem Zweck dienen, den Gerichten die Prüfung praktisch aller Handlungen des Staates auf ihre inhaltliche Rechtfertigbarkeit hin zu ermoeglichen, in meiner Arbeit unter dem Begriff des „global model of constitutional rights“ zusammengefasst. Das global model beinhaltet: (1) Rechteinflation (so wird sichergestellt, dass alle Freiheitseinschränkungen erfasst werden), (2) negative und positive Pflichten, sowie soziale Rechte (damit auch ein Unterlassen des Staates überprüft werden kann), (3) horizontale und vertikale Wirkung von Rechten (damit nicht nur das öffentliche, sondern auch das Privatrecht überprüft werden kann), und (4) Abwägung und Verhältnismäßigkeit. Das wichtigste dieser dogmatischen Hilfsmittel ist das Prinzip der Verhältnismäßigkeit: zu sagen, dass ein Akt des Staates verhältnismäßig ist, bedeutet nichts anderes, als dass er vernünftig rechtfertigbar ist.

Ist es richtig, Gerichten diese weitreichenden Kompetenzen zu geben, wonach es ihnen obliegt, die vernünftige Rechtfertigbarkeit jedes Handelns und Unterlassens des Staates zu überprüfen? Verfassungstheoretiker gehen üblicherweise davon aus, dass die Rechtfertigbarkeit von judical review (also der gerichtlichen Überprüfung von Gesetzen und anderen Akten des Staates daraufhin, ob sie mit Menschenrechten vereinbar sind) davon abhängt, ob sie zu besseren oder gerechteren Ergebnissen führt. Die leitende Idee ist, dass Legislative und Exekutive bekanntermaßen dazu neigen, gewissen Pathologien anheimzufallen, die zu Menschenrechtsverletzungen führen können, und dass dies durch die gerichtliche Kontrolle zumindest teilweise verhindert werden kann. Die Logik dieses Arguments ist allerdings darauf ausgerichtet, einen möglichst hochwertigen Grundrechtsschutz zu erzielen – sie ist also, wie Harel völlig richtig herausstellt, instrumentell. Harel erkennt feinsinnig, dass dies aber eben gerade nicht widerspiegelt, wie viele, vielleicht die meisten, Menschen über Gerichte denken: diese Menschen halten judical review nicht deshalb für notwendig, weil die Überprüfung von Gesetzen und anderen Handlungen des Staates zu besseren oder gerechteren Ergebnissen führt (obwohl es das hoffentlich auch tut), sondern vielmehr aus Prinzip – diese Überprüfung ist, wie Harel wiederum zurecht konstatiert, für viele Menschen schlicht ein Aspekt einer gerechten Gesellschaftsordnung.

Ich denke, dass Harels richtige und wichtige Einsicht noch überzeugender begründet werden kann, wenn man von der Idee der Notwendigkeit der vernünftigen Rechtfertigbarkeit aller Handlungen des Staates ausgeht, die wiederum aus dem Status jedes einzelnen als Rechtfertigungswesen folgt, also dem Status einer Person, die ein Recht auf eine vernünftige Rechtfertigung hat. Denn wenn ich mich und alle anderen als Personen mit einem Recht auf Rechtfertigung betrachte, dann bedeutet dies nicht nur, dass das, was der Staat tut, mir gegenüber rechtfertigbar sein muss; vielmehr bedeutet es darüber hinausgehend auch, dass ich in der Lage sein muss, eine solche Rechtfertigung zu verlangen und zu bekommen. Das heißt, dass zu dem inhaltlichen Kriterium (vernünftige Rechtfertigbarkeit) das prozedurale kommt, nämlich ein Verfahren, in dem diese Rechtfertigbarkeit überprüft wird – und ein solches Verfahren kann in adäquater Weise nur von den Gerichten bereitgestellt werden. Es folgt, ganz im Sinne Harels, aber mit abgewandelter Begründung, dass judical review aus prinzipiellen Gründen existieren muss, und nicht, wie die meisten Verfassungstheoretiker denken, aus instrumentellen. Es gibt schlichtweg keine Alternative dazu, das fundamentale Recht des einzelnen auf Rechtfertigung und seinen Status als Rechtfertigungswesen zu schützen, als ein Verfahren einzurichten, das ihm die Möglichkeit gibt, solche Akte des Staates, die ihn belasten und die er für nicht vernünftig rechtfertigbar hält, gerichtlich überprüfen zu lassen.


3 Comments

  1. Soziale Union Fri 15 Jun 2018 at 10:16 - Reply

    »Gleichheit in einem Staate (ist) dasjenige Verhältnis der Staatsbürger, nach welchem keiner den andern (…) rechtlich verbinden kann, ohne daß er sich zugleich dem Gesetz unterwirft, von diesem wechselseitig auf dieselbe Art auch verbunden werden zu können.« Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, 1795

  2. Peter Camenzind Sun 17 Jun 2018 at 01:31 - Reply

    International soll eine Grenze staatlicher Autoriät erst dort liegen, wo offenkundig so schweres Unrecht vorliegt, dass es schlicht keine Gültigkeit mehr beanspruchen kann o.ä. Dies unabhängig von Staatsformen, Mehrheiten, Gerichten oder von Verfahren. Selbst im demokratischen Deutschland sollen Hoheitsakte bis zur Entkräftung grundsätzlich stets zu befolgen sein. Es kann eventuell ratsam sein, dies bei Widerstandserwägungen mit zu bedenken.
    Gerichtliche verfahrensmäßige Entscheidungen müssen nicht vernünftig frei von Fehlern sein. Wenn das so sein kann, kann schon hinterfragbar sein, wieso sie aus Vernunftserwägungen in solcher Weise schlicht unentbehrlich sein sollen?

  3. Grundrechtestiftung Sun 17 Jun 2018 at 12:49 - Reply

    Es gibt schlichtweg keine Alternative dazu, das fundamentale Recht des einzelnen auf Rechtfertigung und seinen Status als Rechtfertigungswesen zu schützen, als ein Verfahren einzurichten, das ihm die Möglichkeit gibt, solche Akte des Staates, die ihn belasten und die er für nicht vernünftig rechtfertigbar hält, gerichtlich überprüfen zu lassen.

    Damit unvereinbar ist auf jeden Fall die Festlegung von Zugangsvoraussetzungen, Festsetzung einer Kostenpflicht oder des Anwaltszwangs bei Ausübung des entsprechenden Grundrechts gemäß Art. 19 Abs. 4 GG als »Königin der Vorschriften« (Wernicke) – unabhängig vom jeweils angerufenen Gericht. Weder die gesetzgebende noch die verklagte oder gar die gerichtlich zuständige und damit grundrechtsverpflichtete staatliche Institution hat insofern zu entscheiden, wer gegen den Staat unter welchen Bedingungen klagen darf, sondern ausschließlich der Grundrechtsträger als Herr des Verfahrens und Grundrechtsträger.

    Da Art. 19 Abs. 4 GG gemäß Art. 1 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG die öffentlichen Gewalten als unmittelbar geltendes Recht bindet, während dieser Grundsatz durch Art. 79 Abs. 3 GG vor jeder negativen Änderung geschützt ist, ist dementsprechend kein Raum für etwaige, durch eine herrschende Meinung ausschweifend und dennoch falsch begründete, Abwehrrechte des Staates in Form einer wie auch immer gearteten Einschränkung des Grundrechts auf »Klage gegen den Staat«, wie eines Zulassungsverfahrens, Annahmeverfahrens oder Anwaltszwangs vor z.B. und gerade dem Bundesverfassungsgericht. Derartige »prozessoptimierende« Maßnahmen haben hier immer hinter der bedingungslosen Gewährleistung des Grundrechts auf Justizgewährleistung durch alle öffentliche Gewalt zurückzustehen, will man nicht diese maßgebliche Funktion des Grundgesetzes verfassungswidrig außer Anwendung setzen, um z.B. der verklagten staatlichen Institution Ärger zu ersparen.

    Deshalb ist insbesondere auch die in Kreisen der »juristisch durchschnittlich gebildeten Laien« bereits als Solange III bezeichnete »Rechtsansicht« staatlicher Institutionen: »Dem Deutschen Volke: Solange das Bundesverfassungsgericht uns nicht dermaßen auf die Finger haut, dass es weh tut, machen wir, was immer wir wollen. MfG., Deine öffentlichen Gewalten.« ganz einfach verfassungswidrig.

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