Die Rechte der anderen
Ãœber das Aushalten in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung
Ungeduld ist das Wort der Stunde. Trotz der Bemühungen in der Pandemiebekämpfung stagnieren die Infektionszahlen mit COVID-19 hierzulande seit Beginn des „Lockdowns“ eher als sie sinken. Die verschiedenen Maßnahmen gehen deshalb in die Verlängerung und immer klarer wird, dass die Weihnachtsfeiertage nicht unbekümmert und frei von Beschränkungen stattfinden werden können. Gerade angesichts der Hoffnungsbotschaften von Seiten der Impfstoffhersteller wird die Einhaltung der Beschränkungen und ihre sozialen und wirtschaftlichen Folgen für viele zur Belastungs- und Geduldsprobe.
So verwundert es nicht, dass zusehends das Unverständnis der Öffentlichkeit für die ausdauernden Kämpfer gegen die „Corona-Diktatur“ wächst. Jede Woche versammelt sich in Deutschland eine obskure Querfront, um gegen die Bemühungen des Staates in Sachen „Corona“ zu demonstrieren, regelmäßig verbunden mit Verstößen gegen die vor allem infektionsschutzrechtlich begründeten Auflagen. Die Versammlungsbehörden bemühen sich in der Folge um eine verstärkte Eingrenzung der Demonstrationen, die Gerichte um effektiven Schutz der in einer Pandemie so wichtigen Möglichkeit, öffentlich Kritik äußern zu können.
Der bisherige Gipfel scheint erreicht als nach dem erfolglosen „Sturm auf den Reichstag“ Ende August, Aggressoren es tatsächlich schafften im Reichstagsgebäude ihr Unwesen zu treiben. Dieser Vorgang legte die Verbindung der „Querdenken“-Bewegung zur Alternative für Deutschland, deren Abgeordnete den Zutritt ermöglichten, offen. Auch wenn der AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen auf dem jüngsten Parteitag um Schadensbegrenzung und eine ausgewogenere Haltung der Partei zur Pandemie bemüht ist, gerät die Partei erneut in den öffentlichen Fokus einer Verbotsdebatte, an der auch die Innenminister der Länder teilhaben.
Die AfD erweist sich seit ihrer Gründung im Jahre 2013 als erheblicher Störfaktor im politischen System. Unzählige Male kam es angesichts ihrer offen rechtspopulistischen bis -extremen Haltung der Partei oder einzelner Mitgliedern zu Konflikten, sei es in den Parlamenten, in denen Konsens-, Debatten- und  Proporztraditionen auf die Probe gestellt werden, durch streitbare Minister und Bürgermeister, die den Kampf gegen die Partei als Amtsaufgabe verstehen, aber auch im gesellschaftlichen Raum, etwa im Zusammenhang mit Versammlungen der AfD, besonders ihren Parteitagen.
Ist also, angesichts ihrer Mitwirkung an der Corona-Querfront und dem offenen Angriff auf das Parlament die Zeit für ein Parteiverbot, ein Ende der Geduld gekommen? Die Antwortet dürfte, bei aller gebotenen Vorsicht vor solch komplexen Fragen, lauten: nein, das ist sie nicht. Es dürfte aber unerlässlich sein, sich zu vergewissern warum das so ist und ob hinter dem Verlangen, die AfD zu bekämpfen und schließlich zu verbieten, mehr steckt als bloß ein antipluralistischer Affekt.
Das liberale Paradigma der Demokratie
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zur NPD aus dem Jahr 2018 in über tausend Randnummern das Art. 21 Abs. 2 GG geregelte Instrument des Parteiverbots in prozessualer und materieller Sicht ausgeleuchtet. Viele der im Urteil behandelten Fragen spielten für die Entscheidung letztlich gar keine Rolle, sollten aber, so der damalige Präsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung, den Weg frei und rechtssicher machen für kommende Verfahren. Dabei ist eins besonders deutlich: die Hürden sind erheblich. Das Gericht entwickelt den in Art. 21 Abs. 2 GG genannten Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vor dem Leitbild der Demokratie als Prozess der „staatsfreien und offenen Meinungs- und Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen“ (Rn. 515) und radiziert ihn auf drei Elemente, die „zur Gewährleistung eines freiheitlichen und demokratischen Zusammenlebens schlechthin unverzichtbar [sind] und daher außerhalb jedes Streits stehen“ (Rn. 535) müssen: Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaat. Diese Kernelemente demokratischer Verfassungsstaatlichkeit dürfen durch die in Frage stehende Partei nicht lediglich abstrakt gefährdet sein, vielmehr bedarf es „konkreter Anhaltspunkte von Gewicht“, dass sie auch erfolgreich sein könnte (Rn. 570).
Mit Blick auf die AfD wird man durchaus Konflikte in Bezug auf alle drei Elemente ausmachen können. Viele Positionen der Partei sind offen rassistisch, zeigen ein befremdetes Verhältnis zum Parlamentarismus und sich offen für neonazistische Strukturen. Das ist ernst zu nehmen und auch das, was den zum Teil ja erheblichen öffentlichen Widerspruch provoziert. Man wird aber – zumindest auf Grundlage einer öffentlichen Beobachtung – wohl nicht zum Ergebnis kommen, dass die Partei darauf aus ist, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen. Sicherlich: die Grenze vom politisch Fragwürdigen, selbst Grenzwertigen zum Verfassungswidrigen ist fließend. Ob sie erreicht ist, bedarf einer sorgfältigen Prüfung. Wichtig ist, dass die unantastbaren Grundwerte der Staatsordnung auch und gerade im Zusammenhang mit dem Parteiverbot nicht klein gemünzt werden. Das gilt besonders für das Element der Demokratie, dem entgegen aller Erzählungen und Erfahrungen vom Scheitern eine Wandlungsfähigkeit und Resilienz attestiert werden kann, die auch nicht von Pöblern im Bundestag ins Wanken gebracht wird.
Der Zurückhaltung im Kampf des Staates gegen Parteien liegt ein liberales Paradigma zugrunde. Der Prozess der politischen Willensbildung soll vom Staat nicht gelenkt werden, sondern das Ergebnis einer freien und fairen Auseinandersetzung sein. Das Grundgesetz, so das Bundesverfassungsgericht, „vertraut auf die Kraft dieser Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien“ (Rn. 524). Der Umgang mit extremistischen Parteien obliegt also der Gesellschaft, sie trägt in erster Linie die Verantwortung dafür, dass die Partei keine Mehrheiten gewinnt und ihr Programm verbindlich wird. Dies ist eben Folge der Souveränität des Volkes, seiner Freiheit, die zumindest im Ansatz auch Freiheit zur Unvernunft, zur Unmoral, zur Unfreiheit sein kann.
Vom Aushalten
Der jüngste Parteitag der AfD in Kalkar zeigt eine Partei mit tiefen Konfliktlinien, zugleich aber einem bemerkenswerten Grad an Professionalisierung. Auch wenn sie mit dem Abrücken der öffentlichen Aufmerksamkeit vom Thema Flucht und Migration ihres entscheidenden Politikfelds verlustig wurde, ist davon auszugehen, dass sie neue finden wird. Die Hoffnung auf ein jähes Ende dürfte auch hier trügen. Die AfD hat politisch nichts Neues erschaffen, sie hat gesellschaftliche Potentiale, vor allem die vorhandene Ausländerfeindlichkeit, gebündelt und artikuliert diese nun im verfassungsrechtlichen Status einer politischen Partei. Solange diese Potentiale, die, das zeigt der Protest gegen die staatliche Pandemiebekämpfung, stets neue Formen annehmen und Verbindungen eingehen können, bestehen, wird es sie oder Parteien ihres Typs geben.
Wie schon in Bezug auf die NPD, muss es also auch in Bezug auf die AfD heißen: Das ist der Demokratie zumutbar, das müssen wir aushalten. Dies lässt sich nicht ohne eine gewisse Scham und Bitterkeit feststellen, denn, das muss man in aller Deutlichkeit sagen, müssen „wir“ eigentlich gar nichts aushalten. Weiße, in Deutschland geborene, heterosexuelle Menschen, Mehrheiten, sind nicht wegen ihrer Person, höchstens wegen ihrer Handlungen, Gegenstand der Agitationen der AfD. Sie müssen keine durch die Partei geschaffene „Atmosphäre der Angst“ befürchten, sich nicht durch hetzerische Reden angesprochen fühlen und haben auch keine in ihrer Person begründeten Einschnitte in ihre rechtliche Position zu erwarten. Betroffen sind im relevanten Maße immer nur „die anderen“ und ihr Recht, ihr Leben in gleicher Freiheit von alledem zu führen.
Das gilt gewiss nicht nur in Bezug auf das Parteiverbot, sondern immer dann, wenn im öffentlichen Raum über das Sagbare und Sichtbare diskutiert wird, kumulierend im bezeichnenden Begriff der „cancel culture“. Satire darf alles, die Gedanken sind frei, eine Zensur findet nicht statt, ist für alle leicht zu sagen, die nicht subjektiv, sondern sich höchstens, und nur wenn sie möchten, von Herabsetzungen objektiv betroffen sehen. Gravierend ist, dass es sich dabei nicht nur um einen ideellen Zustand handelt, sondern dass Minderheiten immer wieder reelle Folgen zu spüren bekommen, von Diskriminierungen bis hin, Halle und Hanau haben es noch einmal gezeigt, zu Gewalt.
Die anderen im Recht
Diese Feststellung soll nicht dazu dienen, das liberale Paradigma der Demokratie infrage zu stellen. Es geht nicht darum, Wege in eine Gefühlsjurisprudenz aufzuzeigen. Vielmehr soll das Augenmerk auf die tatsächlichen Folgen der die politische Meinungs- und Betätigungsfreiheit garantierenden Verfassungsnormen und ihrer Dogmatik gerichtet und nach Begrenzungen gesucht werden.
Die auch rechtliche Folgenbegrenzung ist notwendig, da sich Minderheiten der gesellschaftlichen Verantwortungsübernahme durch die Mehrheit nicht gewiss sein können. Es gibt keine Rechtspflicht zu Widerspruch, Kritik oder Protest gegen die AfD, somit auch keinen Anspruch der von ihrer Politik Betroffenen. Eine Pflicht nicht zum Meinungskampf, wohl aber zum Schutz trifft deswegen den Staat, der auf der einen Seite eine Gewährleistungsverantwortung für einen freien Prozess öffentlicher Meinungs- und Willensbildung hat, aber auf der anderen Seite rechtswidrigem Treiben Schranken zu setzen hat. Die Debatten um das Netzwerkdurchsetzungsgesetz haben gezeigt, dass sich diese Belange nicht ohne weiteres in Einklang bringen lassen. Nicht weniger schwierig steht es um den Meinungskampf von Amtsträgern. Es bleibt immer wieder zu hinterfragen und ist alles andere als geklärt, wann und in welchen Grenzen sich diese gegenüber der AfD und anderen Bewegungen positionieren dürfen. Der niedersächsische Staatsgerichtshofs hat im Zusammenhang mit einem Aufzug der NPD jüngst geurteilt, dass wenn es um den Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und ihrer Institutionen geht, sich ein Regierungsmitglied nicht neutral verhalten muss. Vielleicht muss die Neutralitätspflicht des Staates stärker als abwägungsoffenes Prinzip verstanden werden und weniger als starre Regel, um solchen Konstellationen gerecht werden zu können.
Am Ende geht es immer um Perspektiven. Rechtspopulisten und -extremisten existieren und beanspruchen rechtlich geschützte Freiheiten. Diese Möglichkeit macht die Stärke der Demokratie aus, das Selbstbewusstsein, dass die Menschen in Wahrnehmung ihrer Freiheiten legitime Entscheidungen hervorbringen können. Vor diesem Hintergrund erweisen sich Verbote und andere staatliche Beschränkungen nicht als sinnvoll, zumindest nicht pauschal. Das gilt in Bezug auf die AfD ebenso wie auf die Querdenken-Demonstranten. Die hinter diesen stehenden Menschen sind in ihrer spezifischen Andersartigkeit zu achten. Zugleich ist aber zu betonen, dass ihr Handeln einen Preis hat, den wiederum andere zu tragen haben.
Vor diesem Hintergrund wird klar, warum man die Forderung eines AfD-Verbots nicht vorschnell als Versuch deuten sollte, sich bloß eines politischen Konkurrenten entledigen zu wollen. Dies wird sicherlich eine Rolle spielen. Die Bemühungen im Kampf gegen die AfD sollten aber auch als Ergebnis einer anders getroffenen Abwägung verstanden werden, die die negativen Folgen ihres Handelns, vor allem die individuelle Betroffenheit von Minderheiten, höher wertet als die Freiheit der Partei. Dem muss man nicht folgen. Es ist aber geboten, sich der Gesamtlage in normativer wie tatsächlicher Hinsicht bewusst zu werden und zwar über die eigene Situation hinaus. Schließlich sind es in der Regel nicht die eigenen, sondern die Rechte der anderen, über die wir sprechen.
Hallo,
vielen Dank für den interessanten Artikel. Hinsichtlich der Tatsache, dass man in einem freien demokratischen Staat andere Meinungen aushalten muss, auch wenn sie den eigenen Prinzipien widersprechen, haben Sie natürlich Recht. Interessant finde ich in dem Zusammenhang aber auch eine Feststellung, die das Bundesverfassungsgericht in seinem ersten Parteiverbotsurteil (BVerfGE 2,1 – SRP-Verbot, Rn. 52f) getroffen hat:
>>>>>
Im modernen Staat werden die Machtkämpfe mit dem Ziel, die bestehende Ordnung zu beseitigen, immer weniger offen und mit unmittelbarer Gewalt geführt, vielmehr in steigendem Maße mit den schleichenden Mitteln innerer Zersetzung. Offen und mit Gewalt durchgesetzt werden die verfassungsfeindlichen Ziele erst, nachdem die politische Macht bereits errungen ist. Die verfassungswidrigen Parteiziele, auf die Art. 21 GG abstellt, werden daher naturgemäß nicht klar und eindeutig verkündet: Hitler gab vor 1933 mehrfach Loyalitätserklärungen ab und leistete, als Hindenburg ihn 1933 zum Reichskanzler ernannte, sogar den Eid auf die Weimarer Verfassung; und das Programm der NSDAP war so vieldeutig formuliert, daß es die wirklichen Ziele der Partei schwer erkennen ließ. Werden aber, wie Hitlers Beispiel zeigt, offizielle Erklärungen der Führenden einer verfassungswidrigen Partei zur Verschleierung benützt und wird das Parteiprogramm bewußt “vorsichtig” gehalten, so sind der Wortlaut des Programms und Loyalitätserklärungen – auf welche die SRP sich zum Gegenbeweis beruft – ohne Beweiswert für die wahren Ziele der Partei.
<<<<<
Natürlich ist dieses doch sehr frühzeitliche Urteil in der Verfassungsrechtsprechung inzwischen, insb. durch das von Ihnen angesprochene NPD-Urteil, überholt. Allerdings finde ich diese Aussage dennoch interessant, da sie stark mit meinem Eindruck von der Handlungsweise der AfD übereinstimmt: regelmäßige, wiederholte Grenzüberschreitungen und Missachtung der Verfassungswerte, jede für sich genommen aber (gerade) noch hinnehmbar (zumindest unter der FDGO). Man sollte daraus zwar nicht sofort ein Verbot schlussfolgern, aber man muss schon mMn dieses Verhalten als potentiell verfassungsfeindlich ernst nehmen, auch wenn — anders als evtl. bei anderen Parteien — die Verfassungswidrigkeit vieler Ziele nicht ganz so offensichtlich gezeigt wird.
Viele Grüße
Paul
Lieber Sven,
es ist schön, endlich einmal einen Beitrag von dieser Qualität zu lesen, der sich differenziert mit der Frage der Verfassungsfeindlichkeit der AfD auseinandersetzt. Zu häufig wird (wenn auch angesichts der Äußerungen von AfD-Politiker*innen verständlicherweise) hier eine menschenverachtende oder demokratiefeindliche Ausrichtung der Partei einfach als selbstverstädlich in den Raum gestellt. Dies hilft aber nicht weiter, weil – worauf Du oben hinweist – es gerade nach der Rekonzeption der FDGO durch das BVerfG im NPD-Urteil auf eine sehr genaue Begründung ankommt. Es gibt nun keinen offenen FDGO-Begriff mehr, sondern einen abschließenden Katalog von sehr restriktiv zu verstehenden, elementaren Grundelbausteinen freiheitlich-demokratischer Staatsverfassung. Man darf nicht darüber schweigen, wo die AfD genau gegen diese Kernelemente agiert.
Insofern finde ich es sehr interessant und für die weitere Diskussion wertvoll, dass Du den Punkt der Minderheitenrechte hier so stark machst. Denn damit ist letztlich die Forderung der Menschenwürde nach elementarer Rechtsgleichheit aller Menschen angesprochen. Über diese Frage entscheidet sich aus meiner Sicht die Verfassungsmäßigkeit der AfD.