Die Rolle des Bundespräsidenten nach der Nationalratswahl in Österreich
Die Wahl am 15. Oktober hat eine fast dramatische (wenn auch nicht unerwartete) Veränderung des Parteienspektrums im österreichischen Nationalrat bewirkt: Erstmals seit 2002 wurde die ÖVP – eine Schwester der CDU/CSU, aber im Wahlkampf noch um einiges rechter positioniert als die CSU – wieder stärkste Partei. Um den zweiten Platz zitterten am Wahlabend SPÖ und FPÖ, die SPÖ dürfte aber mit den noch nicht ausgezählten Briefwahlstimmen knapp die Nase vorne behalten.
Steht das Wahlergebnis endgültig fest, schlägt die Stunde des Bundespräsidenten. Es ist üblich, wenn auch nicht rechtlich fixiert, dass ihm die Bundesregierung ihren Rücktritt anbietet, er sie aber mit der vorläufigen Weiterführung ihrer Ämter betraut. Das wird wohl auch diesmal so sein. Bundeskanzler Kern wird also aller Voraussicht nach vorerst in dieser Funktion verbleiben.
Dann allerdings werden die Gespräche zwischen ÖVP, SPÖ und FPÖ beginnen. Jede Kombination von zwei der nunmehr drei „großen“ Parteien hätte eine klare Mehrheit (allerdings keine Verfassungsmehrheit, was in Österreich von erheblicher praktischer Bedeutung ist, weil es neben dem Bundes-Verfassungsgesetz noch dutzende Verfassungsgesetze und hunderte Verfassungsbestimmungen gibt, die einer einfachen parlamentarischen Mehrheit erhebliche Grenzen setzen). Mit einer oder allen der verbliebenen kleinen Parteien (welche das sind steht noch nicht ganz fest, insbesondere der Einzug der Grünen ist fraglich) ginge sich dagegen keine Mehrheit mehr aus. Zeichnet sich eine Koalition ab, wird der BPräs wohl dem Vorsitzenden der jeweils größeren Partei einen Auftrag zur Regierungsbildung erteilen, möglicherweise aber auch schon sogleich dem Vorsitzenden der größten Partei. Auch das ist nicht rechtlich fixiert. 2000 einigten sich die zweitplazierte FPÖ und die damals Dritte gewordene ÖVP ohne einen solchen Auftrag auf eine Koalition unter einem ÖVP-Kanzler, und der BPräs akzeptierte das mit einer demonstrativ zur Schau getragenen sauren Miene.
Bleibt diesmal die FPÖ Dritte, wird es dem BPräs erspart bleiben, deren Vorsitzenden zum Kanzler zu ernennen, was ihm wohl äußerst schwer gefallen wäre. Ob er es verhindern könnte, ist eine offene Frage. Nach der Bundesverfassung (Art. 70 B-VG) ernennt der BPräs den Bundeskanzler und auf dessen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung. Er ist nach dieser Bestimmung rechtlich ungebunden. Aber der von ihm designierte Bundeskanzler braucht das Vertrauen einer Mehrheit des Nationalrats. Versagt dieser ihm (oder der Bundesregierung im Ganzen oder einem einzelnen Regierungsmitglied) dieses Vertrauen, muss ihn (sie) der BPräs seines (ihres) Amtes entheben (Art. 74 B-VG: Misstrauensvotum). Er wäre dann neuerlich rechtlich frei, wen immer zum Bundeskanzler zu ernennen. Genauso könnte aber die Mehrheit des Nationalrats dem so designierten Kanzler wiederum das Vertrauen versagen und den BPräs zu dessen Abberufung zwingen, und dieses Spiel könnte unbegrenzt fortgesetzt werden. Einen nur schwachen Druck könnte der Nationalrat dadurch ausüben, dass er einen Antrag auf Absetzung des BPräs beschließt. Ein solcher Antrag bedürfte aber einer Zweidrittelmehrheit. Er wäre dann von der Bundesversammlung (die sich aus den Mitgliedern des Nationalrats und des Bundesrats zusammensetzt) mit Mehrheit zu beschließen und auch noch einer Volksabstimmung zu unterziehen. All das ist im aktuellen politischen Klima nicht vorstellbar.
Wie ein Kompromiss in einem solchen Konflikt aussehen könnte, hat freilich auch die Wahl von 2000 erwiesen. Damals akzeptierte der BPräs zwar die von ihm nicht geliebte Koalition. Er lehnte aber zwei der von der FPÖ nominierten Minister wegen unakzeptabler Äußerungen vor der Wahl ab. Außerdem bestand er auf einer europafreundlichen Präambel in der Koalitionsvereinbarung. Beides „schluckten“ die Koalition und insbesondere die FPÖ ohne lauten Widerstand. Damit wurde ein Präjudiz geschaffen, auf das sich der BPräs wohl auch diesmal stützen könnte.
Fraglich ist es, ob Sebastian Kurz überhaupt eine Koalition eingehen oder aber das Experiment einer Art Expertenregierung, die sich für jedes Projekt eine Mehrheit sucht, wagen will. Das wäre allerdings eine radikale Neuerung im österreichischen politischen System. Aber „Veränderung“ war die Losung von Kurz. Der BPräs müsste insofern mitspielen, als nur er die Minister (auf Vorschlag des Bundeskanzlers) bestellen kann. Aber dass gerade an ihm ein solcher Versuch scheitern würde, ist unwahrscheinlich. Verhindern könnte diesen Versuch lediglich ein Zusammenwirken von SPÖ und FPÖ, die nur gemeinsam die erforderliche Mehrheit für ein Misstrauensvotum hätten. Die Alternative wäre dann wieder nur eine Koalition zwischen zwei der drei großen Parteien oder aber Neuwahlen, die aber dem, der sie so rasch nach einer Wahl auslöst, auf den Kopf fallen könnten – was alle Parteien wissen.