12 September 2011

Die Stabilität des Euro in der Falle?

In seinem Urteil vom 7. September mahnt das BVerfG, dass die Währungsunion nur als Stabilitätsgemeinschaft intra vires sei. Um die Stabilität des Euro zu sichern, müsste die EU mehr Kompetenzen bei der Kontrolle der Haushaltspolitik der Mitgliedsstaaten bekommen. Genau das wäre aber kaum vereinbar mit der vom BVerfG im gleichen Atemzug geforderten “Europafestigkeit” des Budgetrechts des Bundestags.

Wie kommt man aus diesem verfassungsrichterlichen Double-Bind wieder heraus? Diese Frage stellt und beantwortet der Berliner Europarechtler Christian Calliess in einem Gastbeitrag für den Verfassungsblog.

Christian Calliess

Die Stabilität des Euro in der Falle? – Fragen an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 7. September 2011

In ihrer Rede im Rahmen der Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag vom 7. September 2011 hat Bundeskanzlerin Angela Merkel noch einmal unterstrichen, dass auch Änderungen der europäischen Verträge kein Tabu sein dürften, um ein Mehr an Verbindlichkeit des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu erreichen und dergestalt den Fortbestand der EU als „Stabilitätsunion“ zu sichern. Damit liegt sie auf einer Linie mit Wolfgang Schäuble, der es zuletzt als Antwort auf die Schuldenkrise ebenfalls für unumgänglich erachtet hatte, weitere Zuständigkeiten in der Wirtschafts- und Finanzpolitik an die EU zu übertragen, was nur auf dem Weg der Vertragsänderung zu erreichen sei (ähnlich zuvor schon Peer Steinbrück). Und in der Tat, viele der bereits auf dem Tisch liegenden Vorschläge, die eine nachhaltige Sicherung der Stabilität des Euro durch eine verbesserte europäische Kontrolle der mitgliedstaatlichen Haushalte und Verschuldung ermöglichen sollen, stoßen an die Grenzen der geltenden Kompetenzordnung, so dass insoweit Reformbedarf besteht.

Nach den Aussagen des – insgesamt begrüßenswerten – Euro-Urteils der letzten Woche erscheint jedoch keinesfalls gesichert, dass solche Vertragsänderungen zur Ermöglichung künftiger Reformvorhaben verfassungsrechtlich zulässig sind. Über die längerfristigen Auswirkungen des Urteils, insbesondere für die Zulässigkeit von Eurobonds sowie weiterer Kompetenzübertragungen im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik, scheint ersten Stellungnahmen zufolge größere Uneinigkeit zu bestehen: Während Daniel Thym in den Aussagen des Gerichts eine „rote Linie“ bzw. „eine absolute Grenze für künftige Reformvorhaben“ wie eine Kollektivhaftung der Euro-Staaten für ihre Staatsschulden nach dem Modell umfassender Eurobonds erkennt und für Frank Schorkopf „die Einführung von Euro-Bonds nun in weite Ferne gerückt sein dürfte”, urteilt Joachim Jahn in der FAZ zurückhaltender: „Wer will, mag aus dem Urteil zumindest Argumente gegen die Einführung von Eurobonds herauslesen. Klare Schranken hiergegen erreichtet es jedoch leider nicht“ (FAZ Nr. 209 vom 8. September 2011, S. 11.). Christoph Möllers erachtet Euro-Bonds im Interview in diesem Blog sogar explizit weiterhin für verfassungsrechtlich zulässig.

In seiner Entwicklung des Prüfungsmaßstabs ab Rz. 120 führt das Gericht zunächst in Wiederaufnahme einer Argumentationslinie aus dem Lissabon-Urteil aus, dass die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand zentrales Element der demokratischen Willensbildung und grundlegender Teil der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat sei (Rn. 122). Als Kernbereich souveräner Staatlichkeit sowie Teil der deutschen Verfassungsidentität (Rn. 127) wird das Budgetrecht über seine Verankerung im Demokratieprinzip an die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG gekoppelt und damit zugleich für „europafest“ erklärt. Der deutsche Bundestag, so das Gericht weiter, müsse auch in einem System intergouvernementalen Regierens die Kontrolle über grundlegende haushaltpolitische Entscheidungen behalten und dürfe seine Budgetverantwortung – eine spezifische Ausprägung der ebenfalls im Lissabon-Urteil entwickelten allgemeinen Integrationsverantwortung der deutschen Verfassungsorgane – nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen.

Soweit dies bedeutet, dass der Bundestag sich keinen finanzwirksamen Maßnahmen ausliefern darf, die zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen könnten (Rn. 125 bzw. Leitsatz 3a), ist hierin angesichts der Unbestimmtheit des Begriffs der Überschaubarkeit wohl – wie auch von Joachim Jahn vertreten – noch keine klare Grenze für künftige Reformvorhaben zu sehen. Insbesondere der ab 2013 vorgesehene ständige Rettungsschirm (ESM) dürfte diese Kriterien nicht verletzen, zumal seine Einrichtung die Zustimmung des Bundestages voraussetzt und er den vom Gericht im Rahmen der Subsumtion entwickelten Kriterien der Bestimmtheit nach Zweck, Volumen und Grundmodalitäten (Rn. 139 f.) genügt. Aber schon die vieldiskutierten Eurobonds, also jene von den Euro-Staaten gemeinsam begebene Anleihen, für die diese gesamtschuldnerisch haften, bewegen sich insoweit in einer Grauzone. Insoweit kommt es auf ihre konkrete Ausgestaltung an: Aspekte sind insoweit, dass ihre Einführung von der Zustimmung jedes beteiligten Staates abhängt, sie sowohl in ihrem Volumen als auch zeitlich begrenzt sind, sie mit klaren Auflagen der Haushaltskonsolidierung verbunden sind, kurzum mit ihnen also keine Anreize in Richtung einer dauerhaften Transferunion gesetzt werden.

Auch die Aussage des Gerichts, aus der demokratischen Verankerung der Haushaltsautonomie folge, dass der Bundestag einem intergouvernemental oder supranational vereinbarten, nicht an strikte Vorgaben gebundenen und in seinem Auswirkungen nicht begrenzten Bürgschafts- oder Leistungsautomatismus nicht zustimmen dürfe, der – einmal in Gang gesetzt – seiner Kontrolle und Einwirkung entzogen sei, erscheint mit den Plänen zur Errichtung des ESM jedenfalls bei inhaltlicher Bedingtheit der Hilfskredite sowie hinreichender parlamentarischer Begleitung der Maßnahmen vereinbar.

Heikler mit Blick auf die Realisierung künftiger Reformvorhaben könnte sich dagegen die auch auf der Titelseite des Handelsblatts zitierte Urteilspassage darstellen, derzufolge „keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen Mechanismen begründet werden [dürfen], die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen, vor allem wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden sind“ (Rn. 128 und Leitsatz 3 b). Anders als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag, steht diese gerichtliche Vorgabe zwar dem permanenten ESM wohl nicht entgegen, da dieser erstens nicht zu Haftungsübernahmen führt und zweitens zwar als ständiger Mechanismus ausgestaltet ist, die einzelnen Hilfen für unter den Schirm schlüpfende Staaten aber inhaltlich bedingt und sowohl zeitlich als auch dem Volumen nach befristet sind. Durchaus kritisch könnte vor dem Hintergrund dieser Urteilsformulierung aber die Einführung von Eurobonds sein, deren Charakteristikum es gerade ist, dass jeder Staat der Eurozone für Willensentscheidungen anderer Staaten haftet.

Von besonderem Interesse ist aber ein weiterer Aspekt des Urteils:  Auch mit Blick auf weitere Reformvorhaben wie die Etablierung einer umfassenderen Haushaltskontrolle durch die Europäische Kommission oder weitere Schritte auf dem Weg zu einer die Währungsunion flankierenden Fiskalunion scheint der Zweite Senat durchaus klare Grenzen aufzeigen zu wollen, wenn er in Wiederaufnahme einer Passage aus dem Lissabon-Urteil formuliert, dass eine das Demokratieprinzip und das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag verletzende Übertragung wesentlicher Bestandteile des Budgetrechts des Bundestages jedenfalls dann vorläge, wenn die Festlegung über Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben in wesentlichem Umfang supranationalisiert und damit der Dispositionsbefugnis des Bundestages entzogen würde. Deutlich wird, dass der Senat durchaus den Anspruch hegt, mit seinem Urteil Pflöcke für die Zukunft einzuschlagen und auch Vorgaben für die weiteren Reformvorhaben zur Bewältigung der Eurokrise aufzustellen.

Diese verfassungsrechtliche Schranken, die das Gericht gegenüber einer parlamentarischen Selbstbeschränkung des Budgetrechts aus dem Grundgesetz ableitet, geraten jedoch – vorsichtig ausgedrückt – in ein Spannungsverhältnis (man könnte auch von Widerspruch sprechen) zu einer anderen Urteilspassage, in der das Gericht unter Verweis auf seine Maastricht-Entscheidung völlig zu Recht nochmals darauf hinweist, die vertragliche Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft sei Grundlage und Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes (Rn. 129 bzw. Leitsatz 4). Die vertraglich festgelegte und grundgesetzlich geforderte Sicherung der Stabilitätsgemeinschaft vermag jedoch – wie die Erfahrungen der letzten Monate gelehrt hat – nur zu gelingen, wenn die Krise als Chance begriffen und die Gelegenheit genutzt wird, die Währungsunion wie auf politischer Ebene angedacht im Wege entsprechender Vertragsänderungen um die überfällige, über die bisherigen Koordinierungsmaßnahmen hinausgehende Wirtschafts- und Fiskalunion samt europäischer Haushaltskontrolle zu ergänzen. Gerade diesen Weg scheint das BVerfG in der Zusammenschau des Lissabon- und des Eurourteils aber zu versperren, wenn es das Budgetrecht im Kernbereich des Demokratieprinzips verankert und es damit als Teil der deutschen Verfassungsidentität über Art. 79 Abs. 3 GG für unveränderlich erklärt. Das Grundgesetz würde damit in der Interpretation des BVerfG die Ausgestaltung der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft zwar voraussetzen, geplanten Maßnahmen zur nachhaltigen Stabilisierung des Euro aber zugleich einen Riegel vorschieben.

Angesprochen ist mit diesem im Urteil angelegten Dilemma – neben dem Verweis auf eine potentiell zurückhaltendere Entscheidung bei einer ggf. anstehenden erneuten verfassungsgerichtlichen Prüfung konkreter Reformschritte – einmal mehr auch die Frage nach dem Umfang der spezifischen Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG, die Gegenstand scharfer Kontroversen ist: Während das BVerfG in ständiger Rechtsprechung annimmt, dass auch die tragenden Gründe der Entscheidung die Adressaten des § 31 Abs. 1 BVerfGG binden, geht ein Teil der Literatur davon aus, dass allein die Entscheidungsformel, hier also die Zurückweisung der Verfassungsbeschwerden, Bindungswirkung entfalte. Jedenfalls nach Ansicht des BVerfG müssten bei zukünftigen Reformvorhaben aber über den Tenor hinaus mithin auch die weiteren Entscheidungsgründe beachtet werden, sofern diese die Entscheidung tragen, was für die oben zitierten Aussagen, die auch den dritten Leitsatz des Urteils bilden, wohl anzunehmen wäre.

Zur rechtlichen Auflösung des entstehenden Dilemmas könnte es beitragen, wenn man die Überlegungen des BVerfG in den grundgesetztlichen Kontext von Integrationsauftrag (Präambel, Art. 23 Abs. 1 S. 1GG) und Ewigkeits- respektive Identitätsgarantie (Art. 23 Abs. 1, S. 3, Art. 79 Abs. 3 GG) stellt. Dann geht es um die Auflösung eines Spannungsverhältnisses, im Zuge dessen der von Art. 79 Abs. 3 GG allein geschützte, unantastbare Kernbereich des Budgetrechts freilegt werden muss. Nur wenn in diesen eingegriffen würde, wäre eine Vertragsänderung unzulässig. Dafür ist aber eine genaue Einzelfallanalyse erforderlich, pauschale Generalisierungen sind insoweit wenig hilfreich.

Gelingt dies nicht, würde eine Reform der Verträge mit dem Ziel einer verbesserten Sicherung der Stabilitätsgemeinschaft unmöglich. Dies mit der Konsequenz, dass sich die Stabilitätssicherung des Euro – entgegen der ja auch vom BVerfG immer wieder eingeforderten Stabilitätsgemeinschaft –  unterhalb des insoweit gebotenen und politisch möglichen Maßnahmen bewegen müsste, oder aber die Reform der europäischen Verträge um den Preis einer neuen Verfassung unter Aufgabe des geltenden Grundgesetzes erkauft werden müsste. Ein Schritt, den die Mehrheit der Bürger (ebenso wie der Autor selbst) nicht zu gehen bereit ist.

 


Prof. Dr. Christian Calliess ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Europarecht am Fachbereich Rechtswissenschaft der FU Berlin sowie Inhaber eines ad personam verliehenen Jean Monnet Lehrstuhls für europäische Integration. Er ist Richter im Nebenamt am OVG Berlin-Brandenburg

In seinem Urteil vom 7. September mahnt das BVerfG, dass die Währungsunion nur als Stabilitätsgemeinschaft intra vires sei. Um die Stabilität des Euro zu sichern, müsste die EU mehr Kompetenzen bei der Kontrolle der Haushaltspolitik der Mitgliedsstaaten bekommen. Genau das wäre aber kaum vereinbar mit der vom BVerfG im gleichen Atemzug geforderten “Europafestigkeit” des Budgetrechts des Bundestags.

Wie kommt man aus diesem verfassungsrichterlichen Double-Bind wieder heraus? Diese Frage stellt und beantwortet der Berliner Europarechtler Christian Calliess in einem Gastbeitrag für den Verfassungsblog.

Christian Calliess

Die Stabilität des Euro in der Falle? – Fragen an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 7. September 2011

In ihrer Rede im Rahmen der Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag vom 7. September 2011 hat Bundeskanzlerin Angela Merkel noch einmal unterstrichen, dass auch Änderungen der europäischen Verträge kein Tabu sein dürften, um ein Mehr an Verbindlichkeit des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu erreichen und dergestalt den Fortbestand der EU als „Stabilitätsunion“ zu sichern. Damit liegt sie auf einer Linie mit Wolfgang Schäuble, der es zuletzt als Antwort auf die Schuldenkrise ebenfalls für unumgänglich erachtet hatte, weitere Zuständigkeiten in der Wirtschafts- und Finanzpolitik an die EU zu übertragen, was nur auf dem Weg der Vertragsänderung zu erreichen sei (ähnlich zuvor schon Peer Steinbrück). Und in der Tat, viele der bereits auf dem Tisch liegenden Vorschläge, die eine nachhaltige Sicherung der Stabilität des Euro durch eine verbesserte europäische Kontrolle der mitgliedstaatlichen Haushalte und Verschuldung ermöglichen sollen, stoßen an die Grenzen der geltenden Kompetenzordnung, so dass insoweit Reformbedarf besteht.

Nach den Aussagen des – insgesamt begrüßenswerten – Euro-Urteils der letzten Woche erscheint jedoch keinesfalls gesichert, dass solche Vertragsänderungen zur Ermöglichung künftiger Reformvorhaben verfassungsrechtlich zulässig sind. Über die längerfristigen Auswirkungen des Urteils, insbesondere für die Zulässigkeit von Eurobonds sowie weiterer Kompetenzübertragungen im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik, scheint ersten Stellungnahmen zufolge größere Uneinigkeit zu bestehen: Während Daniel Thym in den Aussagen des Gerichts eine „rote Linie“ bzw. „eine absolute Grenze für künftige Reformvorhaben“ wie eine Kollektivhaftung der Euro-Staaten für ihre Staatsschulden nach dem Modell umfassender Eurobonds erkennt und für Frank Schorkopf „die Einführung von Euro-Bonds nun in weite Ferne gerückt sein dürfte”, urteilt Joachim Jahn in der FAZ zurückhaltender: „Wer will, mag aus dem Urteil zumindest Argumente gegen die Einführung von Eurobonds herauslesen. Klare Schranken hiergegen erreichtet es jedoch leider nicht“ (FAZ Nr. 209 vom 8. September 2011, S. 11.). Christoph Möllers erachtet Euro-Bonds im Interview in diesem Blog sogar explizit weiterhin für verfassungsrechtlich zulässig.

In seiner Entwicklung des Prüfungsmaßstabs ab Rz. 120 führt das Gericht zunächst in Wiederaufnahme einer Argumentationslinie aus dem Lissabon-Urteil aus, dass die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand zentrales Element der demokratischen Willensbildung und grundlegender Teil der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat sei (Rn. 122). Als Kernbereich souveräner Staatlichkeit sowie Teil der deutschen Verfassungsidentität (Rn. 127) wird das Budgetrecht über seine Verankerung im Demokratieprinzip an die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG gekoppelt und damit zugleich für „europafest“ erklärt. Der deutsche Bundestag, so das Gericht weiter, müsse auch in einem System intergouvernementalen Regierens die Kontrolle über grundlegende haushaltpolitische Entscheidungen behalten und dürfe seine Budgetverantwortung – eine spezifische Ausprägung der ebenfalls im Lissabon-Urteil entwickelten allgemeinen Integrationsverantwortung der deutschen Verfassungsorgane – nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen.

Soweit dies bedeutet, dass der Bundestag sich keinen finanzwirksamen Maßnahmen ausliefern darf, die zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen könnten (Rn. 125 bzw. Leitsatz 3a), ist hierin angesichts der Unbestimmtheit des Begriffs der Überschaubarkeit wohl – wie auch von Joachim Jahn vertreten – noch keine klare Grenze für künftige Reformvorhaben zu sehen. Insbesondere der ab 2013 vorgesehene ständige Rettungsschirm (ESM) dürfte diese Kriterien nicht verletzen, zumal seine Einrichtung die Zustimmung des Bundestages voraussetzt und er den vom Gericht im Rahmen der Subsumtion entwickelten Kriterien der Bestimmtheit nach Zweck, Volumen und Grundmodalitäten (Rn. 139 f.) genügt. Aber schon die vieldiskutierten Eurobonds, also jene von den Euro-Staaten gemeinsam begebene Anleihen, für die diese gesamtschuldnerisch haften, bewegen sich insoweit in einer Grauzone. Insoweit kommt es auf ihre konkrete Ausgestaltung an: Aspekte sind insoweit, dass ihre Einführung von der Zustimmung jedes beteiligten Staates abhängt, sie sowohl in ihrem Volumen als auch zeitlich begrenzt sind, sie mit klaren Auflagen der Haushaltskonsolidierung verbunden sind, kurzum mit ihnen also keine Anreize in Richtung einer dauerhaften Transferunion gesetzt werden.

Auch die Aussage des Gerichts, aus der demokratischen Verankerung der Haushaltsautonomie folge, dass der Bundestag einem intergouvernemental oder supranational vereinbarten, nicht an strikte Vorgaben gebundenen und in seinem Auswirkungen nicht begrenzten Bürgschafts- oder Leistungsautomatismus nicht zustimmen dürfe, der – einmal in Gang gesetzt – seiner Kontrolle und Einwirkung entzogen sei, erscheint mit den Plänen zur Errichtung des ESM jedenfalls bei inhaltlicher Bedingtheit der Hilfskredite sowie hinreichender parlamentarischer Begleitung der Maßnahmen vereinbar.

Heikler mit Blick auf die Realisierung künftiger Reformvorhaben könnte sich dagegen die auch auf der Titelseite des Handelsblatts zitierte Urteilspassage darstellen, derzufolge „keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen Mechanismen begründet werden [dürfen], die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen, vor allem wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden sind“ (Rn. 128 und Leitsatz 3 b). Anders als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag, steht diese gerichtliche Vorgabe zwar dem permanenten ESM wohl nicht entgegen, da dieser erstens nicht zu Haftungsübernahmen führt und zweitens zwar als ständiger Mechanismus ausgestaltet ist, die einzelnen Hilfen für unter den Schirm schlüpfende Staaten aber inhaltlich bedingt und sowohl zeitlich als auch dem Volumen nach befristet sind. Durchaus kritisch könnte vor dem Hintergrund dieser Urteilsformulierung aber die Einführung von Eurobonds sein, deren Charakteristikum es gerade ist, dass jeder Staat der Eurozone für Willensentscheidungen anderer Staaten haftet.

Von besonderem Interesse ist aber ein weiterer Aspekt des Urteils:  Auch mit Blick auf weitere Reformvorhaben wie die Etablierung einer umfassenderen Haushaltskontrolle durch die Europäische Kommission oder weitere Schritte auf dem Weg zu einer die Währungsunion flankierenden Fiskalunion scheint der Zweite Senat durchaus klare Grenzen aufzeigen zu wollen, wenn er in Wiederaufnahme einer Passage aus dem Lissabon-Urteil formuliert, dass eine das Demokratieprinzip und das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag verletzende Übertragung wesentlicher Bestandteile des Budgetrechts des Bundestages jedenfalls dann vorläge, wenn die Festlegung über Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben in wesentlichem Umfang supranationalisiert und damit der Dispositionsbefugnis des Bundestages entzogen würde. Deutlich wird, dass der Senat durchaus den Anspruch hegt, mit seinem Urteil Pflöcke für die Zukunft einzuschlagen und auch Vorgaben für die weiteren Reformvorhaben zur Bewältigung der Eurokrise aufzustellen.

Diese verfassungsrechtliche Schranken, die das Gericht gegenüber einer parlamentarischen Selbstbeschränkung des Budgetrechts aus dem Grundgesetz ableitet, geraten jedoch – vorsichtig ausgedrückt – in ein Spannungsverhältnis (man könnte auch von Widerspruch sprechen) zu einer anderen Urteilspassage, in der das Gericht unter Verweis auf seine Maastricht-Entscheidung völlig zu Recht nochmals darauf hinweist, die vertragliche Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft sei Grundlage und Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes (Rn. 129 bzw. Leitsatz 4). Die vertraglich festgelegte und grundgesetzlich geforderte Sicherung der Stabilitätsgemeinschaft vermag jedoch – wie die Erfahrungen der letzten Monate gelehrt hat – nur zu gelingen, wenn die Krise als Chance begriffen und die Gelegenheit genutzt wird, die Währungsunion wie auf politischer Ebene angedacht im Wege entsprechender Vertragsänderungen um die überfällige, über die bisherigen Koordinierungsmaßnahmen hinausgehende Wirtschafts- und Fiskalunion samt europäischer Haushaltskontrolle zu ergänzen. Gerade diesen Weg scheint das BVerfG in der Zusammenschau des Lissabon- und des Eurourteils aber zu versperren, wenn es das Budgetrecht im Kernbereich des Demokratieprinzips verankert und es damit als Teil der deutschen Verfassungsidentität über Art. 79 Abs. 3 GG für unveränderlich erklärt. Das Grundgesetz würde damit in der Interpretation des BVerfG die Ausgestaltung der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft zwar voraussetzen, geplanten Maßnahmen zur nachhaltigen Stabilisierung des Euro aber zugleich einen Riegel vorschieben.

Angesprochen ist mit diesem im Urteil angelegten Dilemma – neben dem Verweis auf eine potentiell zurückhaltendere Entscheidung bei einer ggf. anstehenden erneuten verfassungsgerichtlichen Prüfung konkreter Reformschritte – einmal mehr auch die Frage nach dem Umfang der spezifischen Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG, die Gegenstand scharfer Kontroversen ist: Während das BVerfG in ständiger Rechtsprechung annimmt, dass auch die tragenden Gründe der Entscheidung die Adressaten des § 31 Abs. 1 BVerfGG binden, geht ein Teil der Literatur davon aus, dass allein die Entscheidungsformel, hier also die Zurückweisung der Verfassungsbeschwerden, Bindungswirkung entfalte. Jedenfalls nach Ansicht des BVerfG müssten bei zukünftigen Reformvorhaben aber über den Tenor hinaus mithin auch die weiteren Entscheidungsgründe beachtet werden, sofern diese die Entscheidung tragen, was für die oben zitierten Aussagen, die auch den dritten Leitsatz des Urteils bilden, wohl anzunehmen wäre.

Zur rechtlichen Auflösung des entstehenden Dilemmas könnte es beitragen, wenn man die Überlegungen des BVerfG in den grundgesetztlichen Kontext von Integrationsauftrag (Präambel, Art. 23 Abs. 1 S. 1GG) und Ewigkeits- respektive Identitätsgarantie (Art. 23 Abs. 1, S. 3, Art. 79 Abs. 3 GG) stellt. Dann geht es um die Auflösung eines Spannungsverhältnisses, im Zuge dessen der von Art. 79 Abs. 3 GG allein geschützte, unantastbare Kernbereich des Budgetrechts freilegt werden muss. Nur wenn in diesen eingegriffen würde, wäre eine Vertragsänderung unzulässig. Dafür ist aber eine genaue Einzelfallanalyse erforderlich, pauschale Generalisierungen sind insoweit wenig hilfreich.

Gelingt dies nicht, würde eine Reform der Verträge mit dem Ziel einer verbesserten Sicherung der Stabilitätsgemeinschaft unmöglich. Dies mit der Konsequenz, dass sich die Stabilitätssicherung des Euro – entgegen der ja auch vom BVerfG immer wieder eingeforderten Stabilitätsgemeinschaft –  unterhalb des insoweit gebotenen und politisch möglichen Maßnahmen bewegen müsste, oder aber die Reform der europäischen Verträge um den Preis einer neuen Verfassung unter Aufgabe des geltenden Grundgesetzes erkauft werden müsste. Ein Schritt, den die Mehrheit der Bürger (ebenso wie der Autor selbst) nicht zu gehen bereit ist.



Prof. Dr. Christian Calliess ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Europarecht am Fachbereich Rechtswissenschaft der FU Berlin sowie Inhaber eines ad personam verliehenen Jean Monnet Lehrstuhls für europäische Integration. Er ist Richter im Nebenamt am OVG Berlin-Brandenburg


One Comment

  1. Lars Mon 12 Sep 2011 at 22:08 - Reply

    Die Rechtskraftswirkung ist doch eigentlich gar nicht so wichtig. Selbst wenn die tragenden Urteilsgründe von der Rechtskraft nicht erfasst werden, vermtiteln sie doch faktische Bindungswirkung, soweit sich das BVerfG in Zukunft daran hält.

    Nach den schon vor längerer Zeit gesetzten Prämissen des BVerfG sind der europäischen Integration Grenzen gesetzt. Die einzige Frage ist, ob das BVerfG nicht möglicherweise doch Angst vor der eigenen Courage bekommt.

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