Die Unbestimmtheit der Verfassung: „Verfassungspatriotismus“ mit Jürgen Habermas nach 70 Jahren
I.
Heute wird die deutsche Verfassung 70 Jahre alt. Und nach den Grundgesetz-Festspielen werden wir gleich im Juni den 90. Geburtstag desjenigen Philosophen begehen, der den Begriff des Verfassungspatriotismus, wenn schon nicht erfunden, so doch entscheidend popularisiert hat. Es scheint, heute könne sich kaum einer mehr leisten, nicht mit Jürgen Habermas Verfassungspatriot*in zu sein. Selbst Kräfte an den Rändern des politischen Spektrums beziehen sich oft ohne Vorbehalt auf das deutsche Grundgesetz. Der entscheidende Faktor, um diese fast allseitige Beliebtheit zu erklären, muss die Unbestimmtheit des Verfassungstextes sein – dass wir nicht genau wissen, was die Verfassung uns sagen will. Denn die Beantwortung konkreter Verfassungsfragen geht äußerst selten so konsensual vonstatten wie die abstrakte Zustimmung zum Grundgesetz.
Nun kann man diese Unbestimmtheit der Verfassung auf verschiedene Arten aufzulösen versuchen: man kann auf die Expertise von Jurist*innen vertrauen, die etwa am Bundesverfassungsgericht täglich Auslegungsarbeit leisten. Doch könnte man ebenso versuchen, die Verfassung in seinem eigenen Leben als Bourgeois und vor allem Citoyen als Wertgerüst zu vollziehen. Beide Haltungen sind in der Bundesrepublik verbreitet, aber aus gegensätzlichen Gründen nicht unproblematisch. Während übermäßiges Institutionenvertrauen einen Hang zum Autoritarismus verraten mag, ist der Verfassungsvollzug in der eigenen Person leicht ein Ausdruck von Homogenitätsfantasien, die ein einig Volk von Wertebejahern imaginieren.
Verfassungspatriotismus will etwas Anderes, ein Drittes. Er rechnet mit gesellschaftlichen Konflikten und versucht diese im Lichte universalistischer Prinzipien der Verfassung produktiv politisch zu bearbeiten. Die Bedeutung der Verfassungssätze wird in ihrer Ermöglichungs- und Strukturierungsfunktion für die politische Debatte und Entscheidungsfindung erst je im politischen Einzelthema greifbar. Es ist nicht ein gegebenes tatsächliches Wertsystem, es ist aber auch keine autoritäre Wertjudikatur, die gesellschaftliche Zielkonflikte endgültig löst. Stattdessen bejahen wir Bürger*innen die juristische Pfadabhängigkeit demokratischer Prozesse, in die wir alle verwickelt sind, weil wir nicht als Vereinzelte einem Staat gegenüberstehen, sondern ein Gemeinwesen voller funktionierender oder misslingender Beziehungsweisen bilden, deren unbestimmten Grund das Verfassungsrecht abgibt. Vielleicht wissen wir heute erst, was Meinungsfreiheit bedeutet, wenn wir über die Regulierung sozialer Medien streiten. Vielleicht verstehen wir erst, was wir an der Versammlungsfreiheit schätzen, wenn wir diskutieren, was bei G 20 schiefgelaufen ist. Und wahrscheinlich wird Eigentum als Verfassungsbegriff erst erfahrbar, wenn wir die Konflikte um Wohnraumversorgung schonungslos austragen.
II.
Unsere demokratische Politik inspiriert sich, argumentiert, entscheidet und kontrolliert auf der Grundlage der Rechtssätze der Verfassung. Und das gilt gerade auch für den lange vernachlässigten Verweis in Art. 1 II GG auf die globalen Menschenrechte sowie den Bezug in Art. 23 GG und der Präambel auf die EU-Integration mit dem Ziel einer stetig engeren Union der europäischen Staaten. Weder der Staat noch die Bürger*innen werden derart zu willenlosen Verfassungsvollstreckern. Denn die Verfassung ist keine Autorität, wenn wir sie nicht dazu machen, wenn wir nicht bestimmen, worum es ihren unbestimmten Normen gerade im Moment geht. Wenn sie uns zu etwas anhält, dann, auf ihrer Grundlage politisch teilzuhaben – in Ämtern, als Wähler*innen, in der Zivilgesellschaft, als gelehrt Schwadronierende. Das Grundgesetz will uns in den Streit zwingen.
Nicht dass wir seine Rechte bloß vollziehen, sondern ihren Geist aufnehmen und Position für die Stärkung bestimmter Rechte beziehen – und für die Schwächung, aber niemals (!) völlige Aufgabe anderer, das fordert es. Daher ist das Grundgesetz auch gewiss kein „Betriebssystem“ der Demokratie. Ein solches Betriebssystem wie eine Verfassung kann man sich nicht wünschen. Und das Grundgesetz wünscht keinen routinierten Betrieb, sondern dient als geistige Quelle immer neuen Streits.
Konrad Hesses Formulierung für die Funktion des Versammlungsrechts, dass dieses den politischen Betrieb vor Erstarrung in allzu geschäftiger Routine bewahre, lässt sich verallgemeinern. Die deutsche Verfassung will als demokratische keine Statik, sondern Bewegung. Sie aktiviert die bürgerschaftlichen Kräfte, die von ihrer Unbestimmtheit zehren. Und spannt auf diese Weise ein politisches Koordinatensystem auf: Gleichberechtigung oder Unternehmerfreiheit bei der Frauenquote? Privatnütziges Eigentum oder Sozialbindung von Wohnungskonzernen? EU-Integration als politische oder ökonomische? Das Grundgesetz sorgt dafür, dass Rechts und Links als Grundbedingungen lebendiger demokratischer Auseinandersetzung inhaltliche Substanz haben. Was es auch tut: Gruppen markieren, die sich trotz floskelhafter Bekenntnisse gegen diese Substanz als Ganze wenden, indem sie die fundamentale Menschengleichheit infrage stellen. Denn man muss darüber streiten, welche gleiche Freiheit es in concreto geben soll, aber nicht, ob diese Freiheit überhaupt gleich sein soll. In wie vielen Hinsichten gleich, daran mögen sich Rechts und Links scheiden.
III.
Jürgen Habermas hat Dolf Sternbergers Idee des Verfassungspatriotismus durch seine berühmte Intervention „Eine Art Schadensabwicklung“ im Historikerstreit der 1980er Jahre bekannt gemacht. Er schrieb gegen einen anschwellenden neuen Nationalismus an, den er wohl als Symptom der von Kanzler Kohl geforderten „geistig-moralischen Wende“ sah, die recht besehen gescheitert ist. Selbstverständlich war die Abwehr der Relativierung des Holocausts durch Ernst Nolte. Hingegen hat die viel weitergehende Schlussfolgerung, die Habermas gegen Ende des Artikels zieht, dass nämlich nur der Verfassungspatriotismus als Alternative zum alten Nationalismus tauge, in zahlreichen politischen Debatten als wiederkehrendes Motiv Wellen geschlagen. Habermas gedachte die Bundesrepublik so fest im „Westen“ zu verankern, als besseres Deutschland. In Gefahr sah er diese Westernisierung im Historikerstreit, nach der Wiedervereinigung, in der Leitkultur-Debatte, aber als Fußballfan mutmaßlich weniger im WM-Sommer.
Habermas’ öffentliche politische Parteinahmen sind wohlbekannt – für eine Föderalisierung der EU oder für sozialdemokratische Wirtschaftsregulierung etwa. Dabei kann aus dem Blick geraten, dass Habermas zwar stets starke Positionen vertritt, aber zuvörderst an der Belebung des demokratischen Streits interessiert ist. Seine nuancierte Kritik an zu autoritärer Verfassungsrechtsprechung in „Faktizität und Geltung“, aber auch das dort entwickelte Konzept deliberativer Demokratie stehen dafür. Es sind bei näherem Hinsehen republikanische Begriffswelten, die sich hier auftun. Das pädagogisch inspirierte Beharren auf „postkonventionellem Patriotismus“ will darauf hinaus, dass alle Bürger*innen sich am demokratischen Streit um Verfassungspositionen beteiligen. Dann, so die Hoffnung, wird das Ergebnis vernünftiger ausfallen als in autoritären Verfahren. Das Hoffen ist hier als philosophische Kategorie ernst zu nehmen: Jeder lernt nur in kollektiven, egalitär strukturierten Prozessen. Habermas’ Hoffnung auf das bessere Deutschland ist auch eine auf gemeinsam erarbeitete Verfassungsinterpretation, an der nur ihre Vorläufigkeit sicher ist. Der Verfassungspatriotismus ist kein Ersatz für fehlenden Nationalstolz – der Vergleich ist schief. Es geht um das Abstreifen jeglicher etatistischer Versuchung der Überhöhung des Staates (Carl Schmitt) oder seiner Normen (Rudolf Smend). Geboten ist für Habermas die Aneignung dieser Normen als Ergebnis kollektiver Selbstbestimmung der Bürger*innen der Republik.
IV.
Daraus folgt auch, dass das GG Provisorium ist (und nicht bloß einmal war), aber in anderem Sinne als 1949: weil die Republik es ändern, ja sogar abschaffen kann. Dieses Bewusstsein der Kontingenz macht es erst möglich, sich den Geist der Verfassung vollständig anzueignen.
Die Aufgabe für die nächsten Jahre liegt darin, diese Kontingenz – die grundierte Vitalität, Umstrittenheit, die bestimmte Unbestimmtheit der Verfassungsdemokratie – zu sichern. Das kann kein Staat und kein GG für uns übernehmen; wir müssen es uns selber immer wieder als republikanische Prämisse aneignen. Das GG läuft auf kein tägliches Plebiszit hinaus, bei dem man nur die Wahl zwischen Zustimmung und Ablehnung hätte, aber auch auf keinen reinen Verfassungsvollzug, der einem Totalverlust politischer Freiheit gleichkäme, sondern auf die Universalisierung des demokratischen Streits um Verfassungspositionen.
Wir bestimmen in unserem Gemeinwesen, aber wir bestimmen nie so ganz. Wir werden bestimmt, aber immer nur vorläufig. Das GG erlaubt daher ein Ineinander von epistemischer, technischer und politischer Demokratie. In dieser geht – auch das bleibt vom Verfassungspatriotismus – der Blick zurück und nach vorne, statt in ewiger Gegenwart gefangen zu sein. Es geht um Angedenken und Eingedenken. Aber das ist nicht geschrieben, sondern Interpretation des Vorgeschriebenen; schließlich ist die Shoah nicht explizit im GG erwähnt. Die konflikthafte demokratische Interpretation der Verfassungssätze (Episteme), ihre Überführung in Regierung (Technik) und ihre Affirmation oder Kontestation (Politik) hält den Geist der steten Befreiung wach. Es gibt keine ewige Tatsache der Befreiung. Einmal wurden wir befreit (1945 bis 1949), jetzt müssen wir es immer wieder selber tun.
V.
Jürgen Habermas wird gelegentlich als Staatsphilosoph der Bundesrepublik bezeichnet – philosophiegeschichtlich nicht unbedingt ein Reverenzerweis, denkt man doch unwillkürlich an Hayms Verdammung Hegels als angeblich reaktionärer preußischer Staatsphilosoph. Dennoch ist jene Einordnung richtig, aber aus geradezu entgegengesetzten Gründen. Denn Habermas teilt mit Hegel einerseits die Vorliebe für Zeitungen als (pars pro toto) Forum der demokratischen Öffentlichkeit, in der Republik jeden Morgen greifbar wird. Ebenso – und entscheidend – zeichnet beide aber andererseits aus, dass sie in ihrem Staat das Potential für ein besseres Deutschland sahen und sehen. War Preußen für Hegel die Speerspitze des „Franzosentums“ in deutschen Landen, wie Jean-François Kervégan in „L’effectif et le rationnel“ schreibt, so begreift Habermas seine Bundesrepublik als das Atlantischste, was die Deutschen je hervorgebracht haben. Mit Habermas dürfen wir hoffen – und handlungsleitende Hoffnung ist die demokratischste Tugend –, dass „Solidarität unter Fremden“ unter dem Grundgesetz wirklich wird. Dass die Demokratie weiterhin Grenzen befragen, überschreiten und beizeiten einreißen wird. Und dass Identitäten keinen Lernprozess stoppen.
Das Grundgesetz wäre als Verkörperung vieler Lernprozesse sogar bereit, sich zugunsten einer demokratischen europäischen Verfassung selbst preiszugeben. Schon allein dafür muss man es, mit Habermas, lieben.
Thank you for your profound and deliberate remarks on 70 years constitution and 90 years Habermas.
At one point I have doubts concerning the possibility to abolish the German constitution in favour of a European solution.
Are you sure about this possibility? Isn`t the so called eternity-guarantee (§seventy…ff.) a mean of prevention of exactly this possibility?
I will be glad to read your opinion on this
special question.
Cordially,
Angelika Reuter
ich stimme Ihnen zu. Dazu gehört aber auch, dass wir als Bürger das Grundgesetz kennen müssen… wirklich kennen, wirklich mal lesen und dann auch im erwähnten Spannungsfeld darüber diskutieren können. Eine Art Katechnismus für Schüler? vielleicht… auf jeden Fall muss dieser Text weit aus mehr in der Schule durchgenommen werden, als das bisher der Fall ist… klar, die Schule soll alle möglichen Themen und Unterrichtsfächer bedienen :-), aber das GG ist mehr als nur ein 2 Wochen-Themen-Block in PoWi.