“Die Vorlage wäre die saubere Lösung gewesen”
Christoph Möllers, Professor für Verfassungsrecht an der Humboldt-Universität in Berlin, gehört zu den profiliertesten Staatsrechtlern der jüngeren Generation. Ich habe ihn heute zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Euro-Rettungsschirm interviewt.
MS: Zumindest europapolitisch scheint mir das doch eher wieder eine Entscheidung nach dem Motto „Hunde, die bellen, beißen nicht“ zu sein. Habe ich Recht?
CM: Ja, das ist eine sehr zurückhaltende Entscheidung: Das Gericht hat einen ganz wichtigen Punkt, nämlich ob nicht die Eurorettung eigentlich europarechtswidrig ist und die Bundesregierung deswegen die Bindung an den EU-Vertrag umgeht, gar nicht erst geprüft. Das Gericht hat immer wieder mal gedroht, es würde Ultra-Vires-Akte aufheben. Hier war nun wirklich ein Punkt zu machen, wo man sagt, es spricht sehr viel dafür, dass das europarechtlich nicht gedeckt war. Und den haben sie von vornherein gar nicht erst zum Prüfungsgegenstand gemacht.
MS: Zeigt das nicht wieder mal, dass die Entscheidung des Maastricht-Urteils, Verfassungsbeschwerden gegen europapolitische Mitwirkungsakte auf Basis von Art. 38 GG für zulässig zu erklären, doch sehr fragwürdig war?
CM: Das ist richtig, aber das ist doch ein sehr eigenartiger Mittelweg, den das Gericht hier einschlägt. Es lässt de facto Popularklagen zu, um sich dann im anderen Fall nur darauf zu berufen, dass der Beschwerdeführer nicht substantiiert vorgetragen hat. Das war aber die Ultra-Vires-Frage. Da ist das Gericht vielleicht doch in seinem eigenen Zulässigkeitsargument gefangen gewesen und hat sich dann mit einem Hilfsargument aus der ganz großen Frage wieder hinausgezogen.
MS: Oder kann man es anders herum wenden: Sie picken sich mit Hilfe dieses Zulässigkeits-Kunstgriffs die Punkte, zu denen sie Position beziehen wollen, gezielt heraus?
CM: Das Schema ist immer dasselbe. Sie kontrollieren nur das parlamentarische Verfahren. Das ist eigentlich nachvollziehbar. Ob man dafür den großen Aufwand bräuchte, mit dem seit Maastricht die europäischen Vertragsentwicklung vom Gericht begleitet wird, ist die Frage. Die Szenerie ist riesig aufgetan, um dann letztlich doch nur ein innerdeutsches Problem zu judizieren.
MS: Aber wie lässt sich das abgrenzen, was da als zulässig durchgeht und was nicht?
CM:Es ist nicht so, dass aus der Art und Weise, wie das Gericht mit dem Prozessrecht umgegangen ist, eine Regel herzuleiten wäre, die sagt, das prüfen wir und das prüfen wir nicht. Da ist in der Tat eher ein großes Maß an Flexibilität. Das Gericht behält sich vor, eigentlich nur die Dinge anzugucken, die es für relevant hält.
MS: Was lehrt uns denn das Schweigen zu der doch ja eigentlich interessantesten Frage, nämlich nach der Ultra-Vires-Thematik bei der Euro-Rettung über die Position des Bundesverfassungsgerichts in Europa nach dem Lissabon-Urteil?
CM: Das ist ein bisschen spekulativ. Es lehrt uns, glaube ich, schon, dass das Gericht jetzt noch mal ganz massiv mit der Situation konfrontiert war, Einfluss auf den Fortgang der europäischen Integration nehmen zu können, und eigentlich diese Verantwortung dann doch nicht übernehmen will. Zu Recht, denke ich. Nur, im Lissabon-Urteil hatte es doch ein bisschen anders geklungen, als könnte es da eine eigenständige Rolle spielen. Es lehrt uns insgesamt auch doch noch mal, dass der Senat jetzt vielleicht auch etwas weniger europaskeptisch wirkt als im Lissabon-Urteil wohl rübergekommen ist. Das kam ja eigentlich auch bei der Honeywell-Entscheidung auch so heraus. Vielleicht ist Lissabon auch in gewisser Weise ein Höhepunkt gewesen einer europaskeptischen Haltung des Zweiten Senats, die sich jetzt doch wieder etwas abmindert. Und ansonsten, denke ich, ist das Urteil natürlich erstaunlich kurz. Das heißt, hier hat das Gericht generell ein wenig die ja mit vom ihm selbst auch aufgebauten Erwartungen gegenüber den möglichen Beschwerdeführern radikal zurückgeschraubt. In dem Urteil steht einfach auch nicht viel drin.
MS: Bezieht sich das auch inhaltlich auf die Ausführungen des Gerichts zum Budgetrecht des Bundestags bzw. des Haushaltsausschusses?
CM: Das ist in gewisser Weise natürlich eine weise Lösung, kann man auch positiv sagen: Auf der einen Seite ist es klar, es wäre problematisch gewesen, immer das Plenum einzuberufen. Den Haushaltsausschuss eine mitentscheidende Rolle zuzuweisen und nicht nur eine beratende, das scheint schon ein kluger Mittelweg. Man muss andererseits aber auch sagen, wenn von parlamentarischer Entscheidungsverantwortlichkeit gesprochen wird: Die beiden Gesetze, um die es hier geht, sind zwei Paragraphen lang, und in dem einen werden 134 Milliarden Euro mal kurz so eben ermächtigt – das ist mehr als ein Drittel eines laufenden Bundeshaushalts – mit einem Absatz. Da ist natürlich in gewisser Weise die parlamentarische Selbstentmächtigung nicht wirklich durch das Gericht aufgehoben worden. Damit will ich niemandem einen Vorwurf machen. Ich glaube auch nicht unbedingt, dass es eine bessere Lösung gibt.
MS: Also, das Problem ist, dass sie den Haushaltsausschuss als Anknüpfung wählen und nicht das Plenum?
CM: Das Problem ist, dass ein so riesiger Betrag ohne weitere Spezifizierung hier vergeben wird. Da denke ich machmal, wenn das Gericht zu solchen Fragen gar nichts sagen würde, dann hätten diese doch sehr zweifelhaften Verfahren nicht auch noch den Segen des jetzt auch noch durch das Gericht Sanktionierten. Das hinterlässt bei mir ein gewisses Unwohlsein, selbst wenn ich selber gar keine bessere Lösung weiß.
MS: Das wäre gegangen, wenn das Gericht die ganzen Verfassungsbeschwerden für unzulässig erklärt hätte…
CM: Es ist interessant zu sehen, dass das Gericht die Zulässigkeit extra thematisiert und darauf hinweist, dass die Zulässigkeit immer noch sehr umstritten ist. Es ist ja doch einer der wenigen Fälle, in denen die Literatur sich nicht damit zufrieden gegeben hat, eine ständige Rechtsprechung wiederzugeben, sondern immer wieder gesagt wird, eigentlich geht das nicht. Das Gericht hat darauf noch mal beharrt, ganz ausdrücklich, erstaunlicherweise, aber sich damit natürlich auch das Problem eingebrockt, ein so seltsames Verfahren letztlich doch irgendwie durchgehen zu lassen.
MS: Das wäre die andere Seite von Judicial Selfrestraint, dass man die Verantwortung dort belässt, wo sie hingehört, nämlich beim Parlament.
CM: Genau.
MS: Wenn man auf die Auswirkungen schaut, wie einschneidend ist das jetzt, wenn man künftig vorher den Haushaltsausschuss fragen muss?
CM: Ich halte das nicht für besonders einschneidend. Wir als Staatsbürger können uns darüber freuen, dass hier tatsächlich der Bundesregierung zumindest die Notwendigkeit auf die Brust gesetzt wird, eine kleine Konsultation zu durchlaufen. Das ist schon besser als gar nichts. Dass es wirklich Sand ins Getriebe streuen wird, glaube ich aber nicht. Das wird faktisch auch keine Probleme geben, weil die schnell zusammenzusammeln sind und relativ flexibel reagieren können. Faktisch ist der Druck auf die Abgeordneten halt immens, das ist schon auch ein Problem. Der Haushaltsausschuss ist in gewisser Weise natürlich auch weniger widerspenstig als so eine große Fraktion, der der sich noch mal Unterfraktionen bilden können, das erleben wir ja gerade auch in der Regierungskoalition. Diese Form von natürlich auch demokratischem Widerstand ist natürlich, wenn man nur einen Ausschuss konsultiert, in der Regel gebrochen. Die da drin sitzen werden, das sind zu wenige und zu ausgewählte, als dass da ein Problem entsteht. Insofern ist es natürlich auch immer ein Verlust an demokratischer Legitimation, wenn nur ein Ausschuss gefragt wird.
MS: Noch mal kurz zurück zur Europapolitik: Warum hat das Gericht nicht endlich eine Vorlage zum EuGH beschlossen?
CM: Dafür hätte es sehr gute Gründe gegeben. Beide Senate haben ja angedeutet, dass sie unter Umständen bereit sind, vorzulegen. Gerade dieser Fall hätte sich sehr gut geeignet: Es ging um eine sehr wichtige Frage, bei der in der Tat die Europarechtsmäßigkeit doch sehr, sehr zweifelhaft ist. Warum sie das nicht gemacht haben, ist mir unklar. Es gibt da, glaube ich, eine Konvergenz von einerseits den Europakritikern, die sich nicht dem EuGH unterwerfen wollen und die Vorlage als so etwas sehen, und den Europafreundlichen, die sehen, dass sie mit so einer Entscheidung das ganze Problem noch mal dramatisiert hätten. Aus unterschiedlichen Motiven ist da vielleicht der Senat gemeinsam dazu gekommen, nicht vorzulegen. Ich glaube, dass die Vorlage richtig gewesen wäre. Ich glaube, dass sich der EuGH auch vor der europäischen Öffentlichkeit sich dazu hätte äußern müssen, wie das denn eigentlich mit dem Europarecht zu vereinbaren ist.
MS: Hat das nicht auch damit zu tun, dass insbesondere Voßkuhle die Kooperation der Gerichte so stark betont, im Unterschied zu dem Über-Unterordnungsverhältnis, das so eine Vorlage herstellen würde?
CM: Vorlage ist ja Kooperation. Ich denke, das wäre eine sehr saubere Lösung gewesen.
Update: Angesichts des heutigen Handelsblatt-Titels habe ich das Interview noch um eine Frage ergänzt.
MS: Das Handelsblatt titelt, das BVerfG habe die Transferunion untersagt. Stimmt das?
CM: Das behaupten manche europakritischen Kollegen, es stimmt aber nicht. Euro-Bonds sind verzinsliche „Staats“-anleihen, für die die Mitgliedstaaten des Euro-Raumes gesamtschuldnerisch haften, die sie aber auch gemeinsam aufnehmen. Schlimmstenfalls würde die Bundesrepublik als Folge des Handelns anderer Staaten in die Haftung genommen werden. Aber: Wie bei deutschen Staatsanleihen auch, wäre der deutsche Haftungsbeitrag zu solchen Bonds aus dem Bundeshaushalt sowohl in seiner Höhe als auch
zeitlich definiert. Ein anderes Land kann nicht allein Euro-Bonds aufnehmen, es bedarf der Zustimmung aller beteiligten Länder. Dass dies, sollte der Bundestag dem zustimmen, zu einem Verstoß gegen die oben zitierten Kriterien führen würde, ist nicht zu erkennen. Wohlgemerkt: Dies ist kein Argument für Euro-Bonds, gegen die viele wirtschaftspolitische Gründe sprechen mögen. Aber nicht alles, was man europa- oder wirtschaftspolitisch für falsch hält, muss auch verfassungswidrig sein.
Uff – ich dachte schon, der blog würde an einem solchen schönen (Geburts-)Tag schweigen.
Das ist doch eine ganz brauchbare und nachvollziehbare Entscheidung geworden. Die Zulässigkeit ist und bleibt natürlich weit hergeholt aus Art. 38 GG, zumal wenn es noch nicht einmal um Kompetenzübertragungen an Organe, sondern im Kern “nur” um die Entscheidungsfreiheit künftiger (Haushalts-)Gesetzgeber geht.
Zur Frage der EuGH-Vorlage stehe ich wieder einmal auf dem Schlauch: Warum kommt es eigentlich auf die ultra-vires-Frage oder gar (wie in der mdl. Verhandlung diskutiert) auf die hinreichend qualifizierte Kompetenzverletzung der Union an (= Honeywell)? Zulässiger Gegenstand der Verfassungsbeschwerde soll doch u.a. das deutsche Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetz sein, nicht aber irgendein Akt aus Brüssel oder Luxemburg. Und Art. 125 AEUV verbietet nicht nur den Unionsorganen, sondern auch den Mitgliedstaaten, für andere Staaten der Eurozone einzustehen oder zu haften. Zum EU-Recht kann also von vornherein nur eine Auslegungsfrage (erfasst Art. 125 AEUV auf Kredite?), nicht um eine Gültigkeitsfrage (verletzen EFSF oder ESM Art. 125 AEUV) gehen. Hier ist dann aber, wenn es um zulässige Gesetzesverfassungsbeschwerden geht (davon gehen ja sieben der acht Richter/innen) aus, das BVerfG wie sonst nur die obersten Bundesfachgerichte letztinstanzlich tätig, also zur EuGH-Vorlage nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. Die Verfassungsbeschwede ist also nicht nur das Mittel der Wahl, sondern verpflichtend. Dadurch, dass der Senat hierzu kein Wort verloren hat, wird es seinen eigenen Maßstäben zum gesetzlichen Richter (Art. 101 GG) nicht gerecht. Oder habe ich zur (Geburtstags-)feier des Tages etwas übersehen?
Ansonsten aber ein sehr kluges und nachvollziehbares Urteil, auch wenn die Foren schäumen.
Glückwunsch zu diesem interessanten Interview, lieber Herr Steinbeis. Im Gegensatz zu den ewig gleichen Gebetsmühlen sowohl der Beschwerdeführer als auch der Bundesregierung (Vertreter des Bundestags schweigen ja gerne zu Urteilen, die sie unmittelbar betreffen…) das bisher beste, was ich zu dem heutigen Urteil bislang gelesen habe.
Zum Urteil selbst nur soviel: Der Zulässigkeitskrampf ist wohl endgültig die Radio-Eriwan-Antwort für die Professoren Murswiek und Schachtschneider (insbesondere die merkwürdige ausdrückliche Betonung der eingehaltenen Substantiierung soll wohl bedeuten, dass die Schriftsätze lege artis verfasst waren). Sie haben dazu einmal sehr treffend geschrieben – ohne die Legitimität des BVerfG auch nur im Ansatz bestreiten zu wollen –, dass dieses Verfahren letztlich nur dazu dient, dass ein paar Professoren von ein paar anderen Professoren um ihre Meinung gebeten werden. Diesen Eindruck kann dieses Urteil nicht ernsthaft aus dem Weg räumen.
Was Professor Christoph Möllers natürlich zudem sehr richtig betont, ist die Inkonsequenz, einerseits zwar eine Ultra-Vires-Kontrolle in Art. 38 Abs. 1 GG auf methodologisch akrobatische Weise zu versubjektivieren, dann aber andererseits die eigentlichen EU-Rechtsakte nichtmals im Ansatz heranzuziehen bzw. diese dem EuGH zur Überprüfung vorzulegen. Eine trennschärfere Abgrenzung bereits innerhalb der Zulässigkeit wäre hier doch wesentlich ergiebiger. Momentan ist Art. 38 Abs. 1 GG (i. V. m. Art. 23? i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG? – welcher Grundsatz aus Art. 20 GG soll hier gerügt werden?) doch das diffuseste Grundrecht, das wir haben. Die Verfassungsbeschwerden hätten daher, wenn man insbesondere BVerfGE 97, 350 ff. weiterdenkt, verworfen und nicht bloß zurückgewiesen werden sollen. Dies zeigt sich auch daran, dass die Begründetheitsprüfung geradezu – insb. im Vergleich zum monographischen Lissabon-Urteil – lakonisch ausfällt (Rdnr. 119–141). Bemerkenswert ist hierbei insbesondere, wie kurz die eigentliche Fallsubsumtion ausfällt (nur Rdnr. 136–141: karge sechs Absätze!). Das Übrige besteht lediglich aus doch recht bedeutungsschweren und zudem obiter dictu vorgetragenen Obersätzen.
Und last not least: Die Verrenkung zur “verfassungskonformen Auslegung” (Rdnr. 141) sollte wohl in kein Lehrbuch als Schulfall verfassungskonformer Auslegung aufgenommen werden – die Teilnichtigkeit derart begründungsarm zu umgehen, ist schon ein Fall für sich. Zudem ist dies auch in der Sache unverständlich, denn mit der Teilnichtigkeit hätte man doch zumindest – insoweit stringent die im Lissabon-Urteil herausgearbeitete Integrationsverantwortung weiterführend – die deutschen parlamentarischen Beteiligungsvorschrift beanstanden können. In ein “Bemühen” aber die Verpflichtung zur Anrufung des Haushaltsausschusses hineinzulesen, wirft mehr Schatten als Licht auf die Karlsruher Methodik. (Und das, obwohl Präsident Voßkuhle zum Müller/Christensen, Juristische Methodik, einst eine sehr positive Rezension verfasst hat.)
Meine Vermutung daher: Dieses Urteil wird sowohl in der politischen Sphäre als auch in der rechtswissenschaftlichen Debatte recht schnell vergessen sein. Operable, rechtlich fassbare Kriterien einer kooperativen Finanzpolitik des im Lissabon-Urteil abstrahierten “Staatenverbunds” schafft es jedenfalls nicht.
PS: Die Wahl von Professor Möllers als Interviewpartner kommt wohl nicht von ungefähr – dessen konzise Anmerkungen ragen ja sehr oft aus der übrigen Kommentarmasse heraus. Den geneigten Verfassungsblogleser dürfte wohl auch der folgende frei abrufbare Artikel zum Lissabonurteil im German Law Journal interessieren, sodass ein wenig Werbung hier wohl gestattet sei:
http://www.germanlawjournal.com/index.php?pageID=11&artID=1157
“Es lässt de facto Popularklagen zu, um sich dann im anderen Fall nur darauf zu berufen, dass der Beschwerdeführer nicht substantiiert vorgetragen hat. Das war aber die Ultra-Vires-Frage.”
Ich habe das Urteil anders verstanden. Meiner Ansicht nach erachtet der Senat nur die Rüge der faktischen Vertragsänderung für nicht hinreichend substantiiert und daher unzulässig. (Rn. 108 f.).
Die Ultra-vires-Rüge lässt das Gericht dagegen – erstaunlicherweise – offenbar am untauglichen Beschwerdegegenstand scheitern (Rn.116), was mir angesichts der bisherigen Rechtsprechung nicht einleuchtet. Insbesondere die VO Nr. 407/2010 hätte doch durchaus tauglicher Beschwerdegegenstand sein können, oder? Und was bedeutet das “unbeschadet anderweitiger Überprüfungsmöglichkeiten auf ihre Anwendbarkeit in Deutschland hin” mit dem Verweis auf Passagen im Honeywell und im Maastricht-Urteil, in denen es genau um die Ausübung der Ultra-vires-Kontrolle geht?
Ich dachte zunächst, die Stelle könnte einen Entscheidung der bislang ungeklärten Frage implizieren, ob Ultra-vires-Rügen im Rahmen der VB allein auf Art. 38 GG gestützt werden können oder eine weitere, spezifische GR-Verletzung erforderlich ist (wie Di Fabio in der mdl. Verhandlung vertreten hat), aber streng genommen geht es an in dem Zusammenhang ja nicht um die Beschwerdebefugnis, sondern nur um den Beschwerdegegenstand.
Kann mir jemand weiterhelfen?
@KD guter Punkt. Da sind so viele komische Stellen drin, v.a. auch der letzte Absatz, der so viele Fragen unbeantwortet lässt, die echt auf der Hand liegen, zB auch, was passiert, wenn wegen Dringlichkeit der Haushaltsausschuss erst nachträglich gefragt wird, dieser dann aber nicht zustimmt.
Ist das hinreichend erklärt dadurch, dass Voßkuhle wie bei Lissabon eine Unisono-Entscheidung ohne Sondervoten wollte, was dann halt auf Kosten der Konsistenz geht? Weiß nicht…
@ MS: Ich glaube nicht, auch wenn die FAZ heute Voßkuhle auch nochmal als “Moderator” betitelt hat, dass sich bspw. Frau Lübbe-Wolff von einem ihrer stilechten Sondervoten abbringen lassen würde, wenn es sie reizen würde, die Feder hierzu anzusetzen. Auch Herr Huber bspw. würde so einen Einstand zur Positionierung wohl kaum allein des Senatsvorsitzenden wegen verpassen. Woran man allerdings diese (Nahezu-)Unisono-Entscheidung ablesen kann, ist wahrscheinlich tatsächlich der äußerst kurze Begründetheitsteil. Wenn man sich nicht einigen kann, werden Passagen halt in der Schlussredaktion gestrichen. Zudem war dieses Mal – wohl doch wegen des markanten Geburtstags – die Zeit zwischen Verhandlung und Verkündung für Karlsruher Verhältnisse ziemlich knapp. Also doch das Heiße-Nadel-Phänomen?
@ KD: Die Frage, ob man Art. 38 GG hinsichtlich der “Entleerung” rügen kann, ist allein eine Frage der Beschwerdebefugnis (bereits Maastricht: BVerfGE 89, 155 ; noch lehrbuchartiger jedoch Lissabon: BVerfGE 123, 267 ). Das scheint mir das BVerfG hier eingehalten zu haben. Beschwerdegegenstand hingegen können nur Maßnahmen der deutschen öffentlichen Gewalt sein, also gerade nicht die genannte VO. Zulässigerweise könnte man hier wiederum nur das deutsche Zustimmungsgesetz zum Lissabon-Vertrag angreifen, das ja gerade die unmittelbare Geltung der Verordnungen anordnet (Art. 288 Abs. 2 AEUV). Warum ein solcher “i. V. m.”-Beschwerdegegenstand aber nicht geprüft wurde, scheint mir tatsächlich inkonsistent.
Leider wurden meine Klammerzitierungen der BVerfGE-Zitate geschluckt (die eckigen BVerfG-Klammern >< sind hier nicht zulässig?): Die Passagen finden sich in BVerfGE 89, 155 (171 ff.) und BVerfGE 123, 267 (329 ff.).
@ BEC
“Die Frage, ob man Art. 38 GG hinsichtlich der “Entleerung” rügen kann, ist allein eine Frage der Beschwerdebefugnis” –
Das ist mir klar, ist aber vom BVerfG im vorliegenden Urteil offenbar eben nicht so gesehen worden, vgl. die von mir oben zitierten Rn.
Darüber hinaus hat das BVerfG schon im Maastricht-Urteil entschieden, dass auch Akte der EU (“einer besonderen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten geschiedenen öffentlichen Gewalt”), die in Deutschland Rechtswirkungen entfalten, zur öffentlichen Gewalt im Sinne des GG gehören; BVerfGE 89, 155 (175).
Die Passage bleibt mir daher weiterhin ein Rätsel…