Dieselrichter in Deutschland?
Ist die deutsche Justiz nicht unabhängig genug, um über den VW-Skandal zu urteilen? Diese Frage hat das Landgericht Erfurt soeben dem Europäischen Gerichtshof zur Klärung vorgelegt (Beschluss vom 15.6.2020, Az. 8 O 1045/18). Der Beschluss aus Erfurt verflicht zwei für sich genommen schon hoch entzündliche Stränge deutscher/europäischer Rechtspolitik: die Haftung der Autokonzerne für ihre Betrügereien einerseits und die Auseinandersetzung um die Unabhängigkeit der Justiz als Funktionsvoraussetzung der EU als Rechtsgemeinschaft andererseits.
Tausende Käufer_innen von manipulierten Dieselfahrzeugen kämpfen zurzeit vor deutschen Gerichten um Entschädigung. Ende Mai hatte der Bundesgerichtshof entschieden, dass das Vorgehen der Dieselhersteller als sittenwidrige Schädigung einen Ersatzanspruch aus § 826 BGB begründet. Allerdings müssen sich die Käufer anrechnen lassen, dass sie all die Jahre mit ihren Autos herumfahren konnten. Dies hält der RiLG Martin Borowsky für europarechtswidrig: Ein solcher Vorteilsausgleich laufe darauf hinaus, dass die Manipulateure um so weniger Sanktionen zu befürchten haben, je länger sich der Rechtsstreit hinzieht. “Mithin könnte ein starker Anreiz entstehen, die Rechtsverletzung gleichwohl zu begehen und die Anspruchserfüllung ungehörig zu verzögern.” Das verstoße gegen den Effektivitätsgrundsatz und obendrein die EU-Grundrechtecharta.
Damit aber nicht genug: Als zweite Vorlagefrage verlangt der Erfurter Richter aus Luxemburg nach Klärung, ob “es sich bei dem vorlegenden Gericht um ein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 S. 3 EUV sowie Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union” handle. Er zweifelt also (wie auch schon das VG Wiesbaden letztes Jahr) seine eigene Unabhängigkeit an, so wie das in den letzten Monaten zahlreiche Richter_innen in Polen als Kanal zur Anrufung des EuGH im Kampf gegen die aktuelle Unterwerfung der unabhängigen Justiz getan haben.
Hintergrund ist zunächst die alt bekannte Forderung der Richterverbände, die Justiz viel weitgehender als bisher von den Justizministerien abzukoppeln. Weder die Richter_innen persönlich noch die Gerichte als Institutionen, so Richter Borowsky, seien vor politischer Einflussnahme vollständig sicher. Die Ministerien entscheiden über Planstellen und materielle Ausstattung, ebenso die Beförderung und Einstellung auf Basis von Beurteilungen, die den Gerichtspräsidenten obliegt. Auch personell seien Ministerien und Justiz eng verzahnt, v.a. durch die Praxis, Richter_innen ans Ministerium abzuordnen. “Die aus vordemokratischer Zeit stammende Justizstruktur setzt einer politischen Instrumentalisierung keine ausreichenden Hindernisse entgegen. Es fehlt an der constitutional resilience.”
Und das bezieht Richter Borowsky auch ganz konkret auf den Dieselskandal: Am beklagten VW-Konzern sei “der Staat in erheblicher Weise beteiligt. Angesichts der mit der deutschen Autoindustrie verbundenen wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen, gerade in den Zeiten der Pandemie, und aufgrund der schieren Masse an Verfahren ist der auf den Gerichten lastende Druck außerordentlich hoch. Es ist auch aufgefallen, dass Zivilgerichte mit einer Nähe zur Beklagten – anders als die große Mehrheit der deutschen Instanzgerichte und nunmehr der Bundesgerichtshof – die Klagen gegen die Beklagte abgewiesen haben.” (Ob das zutrifft, habe ich nicht überprüft.)
Als Beleg zitiert Richter Borowsky aus einem Schreiben des Präsidenten des Oberlandesgerichts Dresden an die anderen OLG-Präsidenten in Deutschland. In dem Schreiben mit dem Titel “Weitere Bearbeitung der sogenannten VW-Verfahren“, so Borowsky, habe der Dresdener OLG-Präsident zur Prüfung angeregt, die weitere Bearbeitung und Entscheidung von Dieselverfahren “zurückzustellen“, und eine ablehnende Haltung gegenüber einer „Chance der vollen Rückzahlung des Kaufpreises ohne jeden Abzug für eine – auch jahrelange – Nutzung des Fahrzeugs“deutlich zum Ausdruck gebracht.
Ich habe beim OLG Dresden angerufen. Dort bestätigte mir eine Sprecherin, dass sich die OLG-Präsidenten anlässlich der aktuellen “Verfahrensflut” über den Umgang mit der Diesel-Affäre ausgetauscht haben. Das OLG Dresden sei in diesem Jahr Ausrichter der jährlichen Konferenz der OLG-Präsidenten im Mai gewesen, die wegen der Corona-Pandemie habe ausfallen müssen. Meine schriftliche Anfrage zu dem Schreiben, insbesondere ob die Zitate stimmen, ist noch nicht beantwortet (Stand 16:45 Uhr).
Zuletzt warnt der Erfurter Richter den EuGH, dass die angeblich mangelnde Unabhängigkeit der Justiz auch seinen eigenen Zugriff auf Fallmaterial tangieren könnte. In Deutschland werde diskutiert, den Instanzgerichten die Möglichkeit, Verfahren auszusetzen und den EuGH anzurufen, wegzunehmen. Diesen Vorschlag hatte etwa der frühere Vizepräsident des BVerfG Ferdinand Kirchhof gemacht.
Update 18:45 Uhr:
Mittlerweile habe ich mir das in dem Beschluss erwähnte Schreiben des Präsidenten des OLG Dresden Gilbert Häfner mal beschafft.
Darin warnt der OLG-Präsident seine Kolleg_innen, dass die so genannten VW-Verfahren auf OLG-Level “überall im deutlich vierstelligen Bereich” angekommen” und obendrein immer schwerer durch Vergleich abzuschließen seien, “so dass immer mehr Entscheidungen anstehen, die in aller Regel mit einer Zulassung der Revision verbunden sind”. Der BGH hatte zu diesem Zeitpunkt sein Grundsatzurteil noch nicht gefällt und beklagte sich bitterlich über die Flut von Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden in “sog. Dieselsachen”. Der Vorsitzende des VI. Zivilsenats Stephan Seiters, so der OLG-Präsident Häfner, habe ihm mitgeteilt, der Senat sei “insoweit dankbar für jedes Verfahren, das von den Berufungsgerichten bis dahin (i.e. zum Erlass des Grundsatzurteils, d.Red.) zurückgestellt werden kann”.
“Vor diesem Hintergrund” erlaubt sich der OLG-Präsident die “Anregung” an seine Kolleg_innen, “die betreffenden Senate in Ihrem Haus um Prüfung zu bitten, ob weitere Entscheidungen in Dieselverfahren zurückgestellt werden könnten. Ein weiteres ,Zuschütten’ des BGH mit diesen Verfahren dürfte dort zu immer schwierigeren Verhältnissen führen und auch dem Rechtsstaat nicht dienen. (…) Die Rolle eines bloßen Durchlauferhitzers für die nächste Instanz zu spielen macht (…) weder Sinn, noch entspricht es der Aufgabe der Justiz”, zumal in Zeiten der Coronakrise.
Was die Möglichkeit eines Musterverfahrens betrifft, so “erlaubt” sich der OLG-Präsident “den Hinweis” auf gewisse Anwaltskanzleien, die den Musterklägern “die von VW im Rahmen eines Vergleiches angebotene Summe” dadurch madig machen, dass sie ihnen anbieten, ihnen die gleiche Summe direkt zu zahlen, wenn sie sie dafür für eine Klage mandatieren. “Kosten sollen den VW-Käufern dadurch nicht entstehen, vermutlich weil ein Prozessfinanzierer dahintersteht. Sie sollen aber die Chance der vollen Rückzahlung des Kaufpreises ohne jeden Abzug für eine – auch jahrelange – Nutzung des Fahrzeugs haben.” Diese Kanzleien rechneten den Klägern “sogar” vor, wie sie mehr Geld einklagen, als sie für ihren gebrauchten Diesel einst selbst bezahlt haben. “Ich kommentiere dies nicht”, schreibt der Präsident, um mit der Prognose zu schließen, “dass trotz Musterverfahren die Klagewelle weiter gehen wird”.
Um etwaigen Legendenbildungen vorzubeugen: Das in dem Beitrag angesprochene Schreiben des Präsidenten des Oberlandesgerichts Dresden dürfte in Justizkreisen ein eher offenes Geheimnis sein. Die Gerichtsverwaltung meines Gerichts hat es schon vor mehr als einer Woche mit Generalverteiler per E-Mail allen dort tätigen Richtern (mich eingeschlossen) zugänglich gemacht, ohne dass es dabei in irgend einer Form als vertraulich zu behandelnde Verschlusssache ausgewiesen worden wäre. Die Information, dass der zuständige VI. Zivilsenat alsbald Leitentscheidungen zu den in Frage stehenden Rechtsfragen erlassen will, düfte für die mit solchen Verfahren befassten Spruchkörper auch durchaus hilfreich gewesen sein. Schließlich ist niemandem gedient, wenn solche Verfahren in der Instanz in Unkenntnis des Umstands abgeschlossen werden, dass demnächst einschlägige Leitentscheidung des zuständigen Revisionssenats des Bundesgerichtshofs zu erwarten stehen. Erfolglose Revisionen in Zivilsachen sind nämlich vor allem eines: für die Parteien kostspielig. Warum der Inhalt dieses Schreibens oder seine Weiterleitung durch die jeweilige Gerichtsverwaltung in besonderer Weise anstößig oder bedenklich sein soll, erschließt sich demzufolge auch dann nicht ohne weiteres, wenn man über die Angemessenheit der – wohl eher überflüssigen – Schlussbemerkungen des in Frage stehenden Schreibens allerdings mit Fug und Recht geteilter Meinung sein kann.
Eine interessante Angelegenheit. Gibt es den Vorlagebeschluss des LG frei zugänglich zum download? Aktuell scheint der Beschluss nur kostenpflichtig über juris zugänglich zu sein.
Das Schreiben von Herrn Häfner ist inzwischen auch online abrufbar unter https://www.uni-regensburg.de/rechtswissenschaft/buergerliches-recht/heese/medien/olg-praesident_dresden_v._9.4.pdf