20 May 2021

Digitaler Fortschritt, parteienrechtlicher Rückschritt

Online-Parteitage in der Pandemie als Problem der innerparteilichen Demokratie

Es war die Pandemie, die die Parteien dazu getrieben hat, ihre Parteitage ins Internet zu verlegen. Warum, so könnte man sich fragen, die innerparteiliche Willensbildung nicht generell auf digitale Kanäle verlegen? Hat dieser Notbehelf nicht eigentlich gut geklappt? Der wegweisende CDU-Parteitag, lange verschoben, wurde online durchgeführt, die weit weniger hitzigen Versammlungen von SPD und FDP zuletzt ebenfalls. Doch was modern und neuartig klingt, ist bei genauerer Betrachtung nicht zwingend ein Fortschritt für die innerparteiliche Demokratie. Nicht nur der Kuriositäten wegen, die etwa der digitale Parteitag der FDP zutage gefördert hat: Der Parteitag beschloss eine Drogenfreigabe nach dem „portugiesischen Modell“, kassierte diesen Beschluss aber nach Intervention der Parteispitze kurz darauf wieder ein. Es hätten sich Fachpolitiker aus technischen Gründen nicht zu Wort melden können, hieß es.

Die innerparteiliche Demokratie sichert den demokratischen Prozess in den Parteien ab. Parteien sind mit den Worten Dieter Grimms die „berufenen Vorkammern der Demokratie“, der Bürger kann vor allem durch diese als Vehikel erst wirkmächtig an der politischen Willensbildung teilnehmen. Dies ist der Grund, warum die innerparteiliche Demokratie verfassungsrechtlich abgesichert ist (Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG). Kernelemente innerparteilicher Demokratie sind unter anderem regelmäßige Wahlen der Vorstände und eine Willensbildung von unten nach oben.

Digitale Parteitage als Ausweg?

Bereits vor Corona bestand für Parteien die Möglichkeit, Parteitage digital durchzuführen. Hierfür hätte es indes entsprechende Satzungsregelungen gebraucht. § 5 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4 des Gesetzes über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (COVZvRMG) hat hier Abhilfe geschaffen und es den Parteien ermöglicht, auch ohne entsprechende Satzungsregelungen digitale Parteitage durchzuführen.

Wahlen sind auf einem digitalen Parteitag indes nicht ohne weiteres durchführbar. Schließlich müssen auch innerparteiliche Wahlen gewissen demokratischen Mindeststandards genügen. Dazu gehören die Grundsätze der Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit der Wahl, und gemessen an diesen würde sich eine rein digitale Stimmabgabe am heimischem Computer offenkundig in Widerspruch zur Wahlcomputer-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 123, 39) begeben. Folgerichtig hat der Gesetzgeber in § 5 Abs. 4 S. 3 des oben genannten COVZvRMG Wahlen nach § 9 Abs. 4 PartG und Satzungsänderungen auf rein digitalen Versammlungen ausgeschlossen. Diese bedürfen der Brief- oder Urnenwahl. Eingebürgert hat sich eine digitale „Vorabstimmung“, die dann noch per Brief- oder Urnenwahl „bestätigt“ wird.

Das Dilemma digitaler Partizipation

Die drängendsten Probleme hat der Gesetzgeber damit aus dem Weg geräumt. Die Parteien können auch in Pandemiezeiten ihre Vorstände wählen, ihre Satzungen ändern und Beschlüsse fassen. Das ist überlebenswichtig und sichert die Handlungsfähigkeit der Parteien ab. Dennoch wirft die oben beschriebene Verfahrensweise Probleme auf. Digitale Vor-Abstimmungen, die offiziell unverbindlich, rein faktisch aber befolgt werden sollen, hebeln die Wahlrechtsgrundsätze aus. Für die demokratischen Anforderungen an Wahlen dürfte es unerheblich sein, ob es sich um eine rechtlich verbindliche oder rechtlich unverbindliche, aber faktisch verbindliche Entscheidung handelt. Um es mit Martin Morlok zu formulieren: „Wenn der Souverän spricht, so spricht er auch verbindlich!“ (Morlok/Streit, ZRP 1996, 447, 454).

Neben rein rechtlichen Problemstellungen digitaler Parteiarbeit sind auch andere, tatsächliche Auswirkungen in den Blick zu nehmen. Betrachtet man einmal die Bundesparteitage von CDU, SPD oder zuletzt der FDP in diesem Jahr, dann erfolgte die Regie des Parteitages aus einer Art TV-Studio heraus. Wie im Fernsehen sind die Rollen klar verteilt, hier Sender, dort Empfänger. Eine Interaktion findet nicht statt. So auch bei digitalen Parteitagen. Es fehlt die Dynamik in den Diskussionen; die Reaktion auf die Redner ist kein Applaus oder Unruhe im Saal, sondern technische Stille; die Möglichkeit spontaner Absprachen zwischen den Delegierten von Angesicht zu Angesicht entfällt ebenfalls völlig. Insgesamt kämpft jeder eher einen einsamen Kampf vor seinem eigenen PC, Absprachen oder Vernetzung sind maximal erschwert. Zwar ist auch ein Präsenz-Parteitag bis zu einem gewissen Grad durch die Parteiführung „orchestriert“, die Mittel und Wege, einen digitalen Parteitag zu steuern, sind aber wesentlich durchgreifender. Die „Regie“ beim digitalen Parteitag steuert vollständig, was die Delegierten zu hören und zu sehen bekommen und was nicht gesendet wird. Eine Parteitagsöffentlichkeit ist praktisch nicht vorhanden.

Und zu guter Letzt ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass digitale Diskussionen, die ohne räumliche Nähe auf dem eigenen Sofa verfolgt werden, eben bei weitem nicht so sehr zur Teilnahme anregen, wie es Debatten auf einem Parteitag tun, zu dem man quer durch Deutschland angereist ist. Digitale Formate können Teile der Mitgliedschaft mobilisieren, aber auch andere Teile demobilisieren. Das gilt nicht nur auf sachlicher Ebene. Auch bei der personellen Aufstellung dürften die Diskussionen weit weniger intensiv ausfallen. Dies dürfte den Parteiführungen etwa bei strittigen Personalfragen wie der Listenaufstellung durchaus zupass kommen. Rechtlich problematisch wird es, wenn mit der Briefwahl die Abstimmung über die Liste zu einer Blockwahl mutiert. Normalerweise kann man nach einer verlorenen Abstimmung über einen Listenplatz für einen anderen kandidieren. Bei einer Briefwahl im Anschluss einer digitalen Versammlung ist das regelmäßig aus Zeitgründen ausgeschlossen. Sonst müsste nach jedem Wahlgang die Versammlung erneut (digital) zusammentreten. Der Gesamtvorschlag der Parteiführung wird durch die faktische Erschwerung von Kandidaturmöglichkeiten einfacher durchsetzbar sein als in einer regulären Versammlung.

Oligarchisierungstendenzen

Wenn sich die Willensbildung in den Parteien in den Monaten der Pandemie weiter digitalisiert, dann stärkt dies tendenziell die Führung der Partei in Relation zum „Parteivolk“. Die Willensbildung von unten nach oben wird jedenfalls teilweise gehemmt. Schon 1911 hat Robert Michel analysiert, dass Parteien generell an einer Tendenz zur Oligarchisierung leiden, sich also in den Parteien eine kleine Machtelite herausbildet. Diese Tendenz, die in modernen Parteien offenkundig ist, wird durch die an sich gut gemeinten Instrumente zur Digitalisierung unter Umständen beschleunigt, da die innerparteiliche Willensbildung leidet. Ohne wirksame Willensbildung fehlt eine ausgeprägte Kontrolle der Führung. Bei aller Freude über moderne Formen der Partizipation in den Parteien ist die innerparteiliche Demokratie nicht aus den Augen zu verlieren: Auf den ersten Blick gute Ideen digitaler Teilhabe können den Einfluss der Parteibasis auch schmälern. Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Das sollte man bei einer zukünftigen Regelung zu digitalen Versammlungen im Parteiengesetz im Auge behalten.

Corona hat uns in vielerlei Hinsicht Demut gelehrt. Vieles, was wir vorher als selbstverständlich angesehen haben, betrachten wir nun mit anderen Augen. Die Durchführung von Parteitagen oder anderen Versammlungen in den Parteien war pandemiebedingt schlicht unmöglich. Klar ist aber: sie fehlen. Sofern die Pandemielage sich nun weiter verbessert, ist es an der Zeit, den innerparteilichen Willensbildungsprozess wieder in den „Normalbetrieb“ überzuleiten. Parteitage sind das notwendige inhaltliche Forum des Austauschs innerhalb der Partei und keine einseitige Sendung aus einem TV-Studio der Parteiführung.


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